Neuntes Kapitel

Eines wußte Alexander sicher: Daß er, wenn das Treffen mit dem Alondras vorüber war, niemals wieder auch nur einen Fuß in diese Stadt - oder was auch immer Tayellin sein mochte, setzen würde. Die Hauptstadt Landalons verband das zähe Warten, das sie bereits aus Lomar kannten, mit einem eklatanten Mangel an Bequemlichkeit. Tayellin war bei weitem zu gerecht.
Man hatte Halan und Alexander in den Häusern untergebracht, in denen auch die Arbeiter lebten - wenn auch das Wort ‘Arbeiter’ in dieser Stadt gleichbedeutend mit ‘Bürger’ zu sein schien: Vom Alondras einmal abgesehen, gab es niemanden, der sich nicht voll Freude als Arbeiter bezeichnet hätte. In den riesigen Gebäuden gab es genug Räume, in denen man Reisende unterbringen konnte. Alexander vermutete, daß mehr als die Hälfte der Zimmer unbewohnt sein mußten, doch sie waren nicht leer - ein einfaches Bett stand in einem jeden, und eine Kiste, die zu klein war, um den Namen Truhe zu tragen. Sonst gab es nichts - keinen Tisch, keinen Stuhl. Nicht einmal eine Waschschüssel. Für jeden Trakt gab es einen Waschsaal, in den das Wasser durch Rohre gepumpt wurde. Halan weigerte sich, ihn zu betreten - lieber würde der sich drei Tage lang nicht waschen als zwischen einer Rotte von wildfremden Männern, und solange er das so sehr betonte, blieb auch Alexander nichts übrig, als es ihm nachzutun. Vielleicht würden sie es einmal in der Nacht versuchen - aber dann war der Waschsaal wahrscheinlich abgeschlossen, so wie auch der Speisesaal nur zu den Mahlzeiten geöffnet wurde. Sie mußten essen, wenn alle anderen im Haus auch aßen - morgens kurz nach Sonnenaufgang, und zur Mittagszeit, und wenn die Sonne unterging. Alexander fühlte sich noch zu schwach, um sich darüber aufzuregen und nahm es mit seltsamer Gelassenheit, die wohl mehr Gleichgültigkeit war, aber Halan litt. Natürlich litt Halan immer, wenn er gezwungen war, sich unter Menschen aufzuhalten - aber hier war es besonders schwer zu ertragen. Allein der Anblick von Halan, der sich beim Abendessen krampfhaft bemühte, nur durch den Mund zu atmen, weil er den Geruch der verschwitzten Arbeiter nicht ertragen konnte, reichte aus, um auch Alexander beinahe allen Appetit zu nehmen.
Aber sie beschwerten sich nicht darüber, nicht bei einander und nicht bei den Herren dieser Stadt. Schließlich kamen sie als Bittsteller, sie wollten so schnell wie möglich vorgelassen werden. Und es konnte sein, daß man sie, wenn sie gegen Tolimanders Geist der Gerechtigkeit handelten, trennen und in unterschiedlichen Häuser verlegen würde, und das war das letzte, was Alexander wollte. Wenn er Halan nicht mehr sehen konnte, nicht einmal zu den Mahlzeiten…
Wo Janek war, wußten sie nicht - in einem der anderen Häuser, doch man hatte ihnen nicht mitgeteilt in welchem, und er hielt es nicht für nötig, sie aufzusuchen. Vielleicht würde er ja auch hierbleiben. Tayellin mußte seinem Drang, Engelsgeborene wie Fußsoldaten zu behandeln, doch sicher entgegenkommen. Dann wieder gab es hier niemanden, den er herumkommandieren durfte…
Obwohl es Räume gab, in denen die Arbeiter die Zeit verbringen durften - Ruhe- und Gesellschaftsräume, und eine Sporthalle - blieben Halan und Alexander auf ihren Zimmern, oder zumindest in einem davon. Zumindest wurde nicht kontrolliert, ob sich auch wirklich jeder nur in dem Raum aufhielt, der ihm zugewiesen war. Aber es mußten ja auch hier die Familien zusammenfinden… Alexander dachte wieder an Janek und diese Arbeiterin, und gegen seinen Willen mußte er lächeln. Der Hauptmann hätte sich schon vor Jahren eine Frau nehmen und seßhaft werden sollen - genau so ein Mensch war er. Ein wenig fehlte er Alexander. Mehr als ein wenig, sogar. Aber das war nichts, worüber er mit Janek hätte reden können. Und mit Halan ohnehin nicht.
Mit jedem Tag, den sie in Tayellin verbrachten, wurde es schwerer mit Halan auszuhalten. Es schien ihn nicht zu stören, daß sie in diesen Kämmerchen festsaßen. Er brachte es fertig, etwas zu murmeln wie »Chronik darf nicht vernachlässigt werden«, und wenn er es auch nicht gewagt hatte, vor dem richterlichen Schreiber auf sein Recht zu beharren, überwand er seine Scheu doch, als es darum ging, ihm mehrere Bögen Pergament abzuschwatzen. Der Schreiber lächelte erfreut, als Halan ihn darum bat. Die Tatsache, daß die eingebildeten engelsgeborenen Gäste arbeiten wollten, mußte das Herz von Tayellin erfreuen.
Aber Alexander wollte Halan keine Lügen für die Chronik diktieren, noch wollte er ihm beim Niederschreiben der Wahrheit zusehen, noch wollte er die ganze Zeit über allein in seinem Zimmer sitzen. Halan konnte man einkerkern - er hätte es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt. Doch Alexander mußte sich bewegen können - hier herumzusitzen machte ihn aggressiv, und das, obwohl er nichts dringender brauchte als einen kühlen Kopf.
Einmal am Tag gingen sie zur Halle des Richters, um zu fragen, ob sie vielleicht an diesem Tag vorgelassen werden könnten - aber das war keine Bewegung, das war eine Tortur, eine täglich wiederkehrende Demütigung. Niemand war bereit, ihnen zu sagen, wie lange es noch dauern würde, oder wie viele Rechtssuchende vor ihnen auf der Liste standen: Die Tugend der Gerechtigkeit war Geduld.
Am Morgen des vierten Tages stand Alexander nicht vor der Halle des Richters, sondern an der Pferdekoppel. Zu lange hatte er, durch die Verbände zur Tatenlosigkeit verdammt, unnütz herumgesessen oder gelegen. Wenn es hier sonst nichts für ihn zu tun gab, wollte er wenigstens ausreiten - allein, wenn es sein mußte, denn Halan konnte sich nicht vorstellen, wie sich ein Mensch nur zum Vergnügen auf ein Pferd setzen konnte und nicht, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Alexander wollte ausreiten. Vielleicht würde es ihn glücklich machen…
Was für die Menschen in Tayellin galt, war auch für die Pferde Pflicht. Anstelle von Stallungen gab es hier eine große Koppel, auf denen die Tiere soviel Auslauf und Gras hatten, wie sie wollten - eine ganz und gar würdelose Unterbringung für einen edlen Hengst wie Farrell, aber warum sollte er es auch besser haben als sein Reiter?
Auf dem Weg zur Sattelkammer wurde Alexander von einem Mann angehalten. »Was suchst du hier?« fragte er, nicht unfreundlich, aber forsch. »Hat man euch nicht gesagt, ihr sollt nicht draußen herumlungern, wenn andere arbeiten müssen?«
Doch, das hatte man ihnen gesagt. Kein Tag verging ohne dergeartete Hinweise, und das war auch der Grund, warum Tayellins Straßen so menschenverlassen waren, als sei ein Unwetter hindurchgefegt und habe alles Leben vernichtet: Es war ungerecht, wenn ein Mensch, der im Haus arbeitete, nach draußen blicken mußte auf jemanden, der nichts zu tun hatte und es sich gut gehen ließ. Wer arbeitete, sollte nur andere Arbeiter sehen - das war gerecht.
Seit ihrer Ankunft hatte Alexander zwar nichts über Gerechtigkeit gelernt, wohl aber viel davon, was man hier darunter verstand. Und auf diese Frage war er vorbereitet. »Ich bin nicht zu meinem Vergnügen hier«, antwortete er ernst und ohne zu zögern. »Mein Pferd ist hier auf der Koppel abgestellt, bei den Hengsten. Er ist daran gewöhnt, regelmäßig bewegt zu werden - sonst wird er bösartig. Er ist ein schwieriges, garstiges Tier, und da ich selbst die nötige Zeit habe, kann ich schlecht diese Arbeit von jemand anderem erwarten, nicht wahr? Es wäre…« - er lächelte sanft, als er dies sagte - »nicht gerecht.«
Der Mann lachte. Tayellin war eine seltsame, strenge Stadt, aber das bedeutete nicht, daß die Leute hier keinen Humor hatten. »Wenigsten lernst du schnell.«
»Gerechtigkeit für euch«, erwiderte Alexander. »Weisheit für mich. Wenn ich jetzt meinen Sattel haben dürfte?«
Der Mann blickte ihn abschätzend an. Seine kräftigen Muskeln zeichneten sich unter der groben Tunika ab. »Ich werde dir zur Hand gehen«, sagte er - nicht helfen, und dafür dankte ihm Alexander. »Sag mir nur, welcher Sattel, und welches Pferd.«
Alexander nickte, aber lieber hätte er den Kopf geschüttelt, über sich selbst. Es gehörte sich, daß ihm der Stallbursche den Sattel trug, das Pferd sattelte - weswegen fühlte er sich dann plötzlich so… schuldig? Es war wirklich an der Zeit, daß sie aus dieser Stadt fortkamen - daß sie nach Hause kamen. Wenn es so etwas noch gab…
Das Gras auf der Weide war hoch und naß, und mehr als einmal geriet Alexander mit dem Fuß an eine Distel. Farrell mußte ihn schon bemerkt haben - kein Pferd war klüger, oder aufmerksamer - aber er blieb am fernen Ende und graste zwischen den anderen Pferden, wie ein ganz gewöhnliches Tier.
Doch dort graste nicht nur Farrell. Nur wenige Schritte von ihm entfernt stand das weiße Pferd.
Alexander blieb ruhig. Er erstarrte nicht, ließ nicht das Zaumzeug fallen, rannte nicht weg. Er nickte nur seinem Begleiter zu, deutete auf den Schimmel und fragte: »Ist das nicht ein wunderschönes Geschöpf? Wem gehört er?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen. Die Pferde hier gehören fast alle unseren Gästen. Mehr weiß ich dazu nicht. Aber deiner ist der Rappe, nicht wahr?«
Alexander nickte abwesend. »Ich werde später ausreiten«, sagte er. »Im Moment ist es nicht nötig. Ihr seht selbst, wie ruhig er ist.« Ohne sich weiter um den Mann zu kümmern, drehte er sich um und ging über die Wiese zurück. Wie immer machte er kleine Schritte, auch wenn er am liebsten gerannt wäre. Er mußte zu Halan.
Das weiße Pferd war hier. Ihr Verfolger war hier. Und sie mußten herausfinden, wer es war.

»Wir dürfen nichts überstürzen«, würde Halan sagen, und: »Bist du wirklich sicher?«, und: »Du wirst dich geirrt haben«, und: »Wir haben keinerlei Beweise« - mit allem hatte Alexander gerechnet, nur nicht damit, daß Halan ihm sofort glaubte und ihn beim Wort nahm, um mit ihm zur Halle des Richters zu eilen.
Und doch waren sie nun hier, wieder einmal, wie an jedem langweiligen Tag seit ihrer Ankunft. Alexander hatte nicht erwartet, daß Halan ihn ernst nehmen würde - nicht so schnell, nicht ohne die Androhung von Tobsuchtsanfällen - und fühlte sich ein klein wenig überrumpelt, als Halan ihm das Reden überließ - auch wenn es ihn freute.
»Könntet Ihr in Eurer Liste etwas für uns nachsehen?« fragte er so freundlich wie möglich. »Wir glauben, daß ein Bekannter von uns, ein guter Freund, ebenfalls zu Gast in Tayellin ist. Wenn ich Euch seinen Namen nenne - werdet Ihr mir dann sagen, wo er untergebracht ist?« Er fühlte, daß seine Stimme leicht zitterte, und hoffte, der Schreiber würde es nicht merken. Ihm fehlte Erfahrung beim Lügen. Er konnte alles verschweigen, wenn es sein mußte, aber es kam selten vor, daß er so direkt und plump log.
»Es tut mir leid«, sagte der Schreiber, »aber ich fürchte, mir sind die Hände gebunden. Der Inhalt dieser Liste ist vertraulich - wer darin steht, hat ein Anliegen an den Alondras, und das geht niemandem außer ihm und dem Alondras etwas an.«
»Aber der ganze Warteraum ist voller Menschen, die auf dieser Liste stehen!« Alexander hob seine Stimme kaum - diesmal würde er Ruhe bewahren. »Obwohl es vertraulich ist, müssen dort auch alle gemeinsam warten.«
Der Schreiber schüttelte den Kopf. »Sie müssen nicht. Sie sitzen dort freiwillig. Und niemand kennt den Namen des anderen, wenn der ihn nicht freiwillig nennen mag.«
Wenn er doch wenigsten hinter seinem Schreibpult hervorkommen würde! Dann konnte Alexander ihn ablenken, während Halan schnell die Liste erfaßte - sie wußten beide, nach welchem guten Freund zu suchen war. Es gab nur einen, der als Verfolger in Frage kommen konnte: Ember von Valon, der Mann, der nicht existierte.
»Aber das ist nicht gerecht!« entfuhr es Alexander - nicht impulsiv, sondern wohlüberlegt. Das Zauberwort wollte mit Bedacht gewählt sein, um seinen Sinn nicht zu verfehlen. »Hier soll verhindert werden, daß wir zum ersten Mal seit Monaten unseren Freund treffen können!« Nein, das trug zu dick auf. Aber es gelang Alexander, die Lage zu retten, während Halan nur reglos hinter ihm stand. »Ebenso, wie man uns nicht zu unserem Verwandten läßt!«
»Verwandter?« Der Schreiber zwinkerte verwirrt. »Ihr sagtet nie, daß ihr Verwandte in Tayellin habt, ihr…«
Alexander schnitt ihm das Wort ab. »Die Elomaran Korisander und Tolimander sind, wie man weiß, Brüder. Harold und ich stammen in direkter Linie von Korisander ab,« - ein Hinweis, auf den man in dieser Stadt nicht viel gab, aber sie konnten es nicht oft genug betonen - »und euer Alondras geht auf Tolimander zurück: Das macht ihn zu unserem Vetter, und doch läßt man uns nicht zu ihm.«
Der Schreiber hielt seine Feder mit beiden Händen wie eine Waffe. Er stand hinter dem Schreibpult, als sei er dort festgewachsen, und starrte über Alexanders Schulter. Seine kleinen Mäuseaugen weiteten sich. Alexander fühlte eine Anwesenheit im Raum und drehte sich um, in genau dem Moment, als der Alondras sagte: »Gibt es irgendwelche Unstimmigkeiten?«
Wen hatte Alexander erwartet? Wie sollten in einer Stadt wie dieser die Engelsgeborenen aussehen, um der Gerechtigkeit zu genügen? In der Tür stand ein Mann, dessen Alter nur schwer einzuschätzen war - sicherlich älter als Halan, und wahrscheinlich jünger als Koris: Das bedeutete eine Bandbreite von fünfundzwanzig Jahren, in denen man den König, der keiner war, ansetzen mochte. Sein Gesicht war ungeschminkt und freundlich und hatte durch seine Faltenlosigkeit doch etwas Maskenhaftes. Die Farbe seiner kurzen Haare war sehr hell, daß es sie seltsam spärlich wirken ließ - eine Mischung aus weißblond und silbergrau. Grau war auch das schlichte Gewand des Mannes - ähnliches hatte Alexander bis jetzt nur an Totenmägden gesehen, und er mußte ein Lächeln unterdrücken - und doch war dieser auf den ersten Blick so unscheinbare Mann eindeutig engelsgeboren. Sein Selbstbewußtsein strahlte von ihm ab wie Wärme von einer Kerze, gemischt mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit, die nichts Aufdringliches hatte. Ein ganz klein wenig erinnerte der Alondras an Koris.
Alexander neigte sein Haupt - nicht tief, und nur einen Moment lang, aber die Geste mußte genügen - und blickte dann direkt in die großen dunklen Augen. »Bruder«, sagte er auf Elomond - es war ein stärkeres Wort als Vetter - »wir sind gekommen, um mit euch zu sprechen. Werdet Ihr uns empfangen?«
Ein Lächeln hellte das Gesicht. Alexander konnte die Gefühle des Alondras nicht einordnen, denn sie waren beinahe so leise wie Halans, aber zumindest schien der Richter nicht beleidigt ob der Anrede. Daß er sie verstanden hatte, stand außer Frage, denn auch er antwortete in der Sprache der Engel.
»Kind, es ist schön, nach all den Jahren einen Gast Eures Landes in unserem zu begrüßen.« Diese Anrede, auch wenn sie wieder einmal auf Alexanders Jugend anspielte, schien ebensowenig als Beleidigung gemeint zu sein, und so nahm Alexander sie hin. »Leben doch seit vielen Generationen die Schüler der Gerechtigkeit als angesehene Menschen unter Euch.«
Alexander verspürte den Drang, etwas besonders weises zu sagen - und Halans Wünschen und Flehen. In sehr, sehr seltenen, kostbaren Momenten konnte Alexander beinahe seine Gedanken lesen, und das gab ihm zusätzliche Kraft, als er antwortete: »Ebenso wie das Recht ein ständiger Gast war in Koristan, so ist doch auch Landalon nie ohne Weisheit gewesen, denn Gerechtigkeit ohne Weisheit ist ebenso falsch und grausam wie Weisheit ohne Recht.« Danach biß er sich auf die Zunge. Diese Worte klangen in seinem Kopf deutlich besser als in der Wirklichkeit - wenn der Alondras sie nun nur nicht als Anklage oder Beleidigung auffaßte!
Doch der Alondras nickte nur. »Ich weiß. Es ist gut, daß Ihr so denkt. Ich weiß, daß Euch Grausamkeit widerfahren ist, und daß Ihr gekommen seid, damit ich ein Urteil darüber spreche. Und doch muß nun auch ich grausam zu Euch sein, denn ich werde das Buch nicht eher zu Eurem Fall befragen, als bis Ihr zwischen all den anderen Wartenden an der Reihe seid.«
Halan und Alexander blickten sich kurz an, und Halan nickte aufmunternd und lächelte dabei. Alexander fühlte sich ruhig und selbstsicher, als er erwiderte: »Das wissen wir, und wir sind bereit zu warten, wenn es der Gerechtigkeit dient. Aber unsere Anwesenheit in Tayellin ist mehr als ein Gesuch - sie sich auch ein Besuch. Denkt Ihr nicht, daß es an der Zeit ist, die Beziehungen zwischen unseren Ländern einmal aufzufrischen? Wenn ich erst einmal König bin - das heißt, wenn ich es werden sollte«, fügte er schnell hinzu, als er sah, wie der Alondras eine Augenbraue hob, »habe ich nicht mehr die Zeit und die Möglichkeit für derartige Besuche. Aber nun sind wir hier, und wir würden Euch gerne kennenlernen - nicht als Richter, sondern als Person.«
Auch wenn der Schreiber ohnehin kein Wort verstehen konnte, sagte Alexander doch nichts von dem weißen Pferd oder davon, daß sie sich verfolgt und bedroht fühlten - dafür war später immer noch genug Zeit.
»Ich weiß nicht, was ich mir darunter vorzustellen habe«, sagte der Alondras distanziert. »Aber falls es Euren Erwartungen Genüge tut, so wird es sich sicherlich einrichten lassen, daß wir heute Abend eine Mahlzeit zusammen einnehmen.«
»Oh, das wäre sehr freundlich von Euch«, sagte Halan.
»Aber seid gewarnt«, fuhr der Alondras fort, »daß ich mich nicht auf Fragen einlassen werde, die etwas mit Politik, Staatsführung oder Eurem Anspruch auf die Krone zu tun haben.«
»Natürlich nicht.« Alexander hatte auch nie damit gerechnet. »Aber es ehrt uns, daß Ihr uns dennoch die Möglichkeit zu einem Gespräch über persönliche Dinge bieten wollt.« Persönliche Dinge würde er ganz sicher nicht ansprechen. »Heute Abend schon?«
Es klang ein wenig zu begriffsstutzig für seine Verhältnisse, aber der Alondras nickte, ohne zu spotten.
»Ich weiß nicht, wo Ihr untergebracht seid. Aber nehmt in meinem Warteraum Platz, und ich werde Euch abholen.«

Die Wohnräume des Alondras lagen über der Richterhalle. Aber wenn dieses Gebäude auch kein Palast war - es war doch so groß, daß es für einen einzelnen Bewohner kaum weniger Platz bot. Die Hundertschaften von Dienern, mit denen das Schloß von Koristir bevölkert war, fehlten hier völlig. Es gab keine Diener in Tayellin, noch nicht einmal für den Herrscher. Der Alondras hatte einen Koch. Das war alles.
Während sie die steile gezimmerte Treppe hinaufstiegen, die hinter dem Wartesaal lag, fragte sich Alexander zum wiederholten Mal, was sie nun erwarten mochte. Er rechnete mit Prunk. Egal, was der Alondras auch an Sachlichkeit predigen mochte - er war und blieb ein Engelsgeborener, und er wußte, was ihm zustand.
Kühle Kargheit empfing sie. Die Räume waren weitläufig und hell, deutlich großzügiger bemessen als die Unterkünfte in den klotzförmigen Häusern, doch auch hier fehlten jeglicher Zierrat, Bilder und Statuen. Alexander kannte nur einen Menschen, der ähnlich dürftig leben mochte, und lächelte im Stillen. Aralee mußte es hier sicher gefallen.
»Schaut Euch hier nur um«, meinte der Alondras lächelnd. »Bis das Essen fertig ist, dauert es noch einen Moment. Ich nehme an, Ihr wollt meine Bücher sehen?«
Eine Woge der Glücks erfüllte den Raum. Alexander seufzte innerlich. Er konnte noch so sehr darum kämpfen, Halans Herz zu gewinnen - im Zweifelsfall würde sich sein Geliebter für ein Buch entscheiden. Für ein Buch würde Halan ihn verraten und verlassen…
»Ich würde es gerne sehen«, flüsterte Halan ehrfurchtsvoll.
»Nicht das Buch«, erwiderte der Alondras. »Meine Bücher. Ihr sollt Euch überzeugen können, daß von jedem unserer Bücher - jedem, bis auf das eine, das nicht zu kopieren ist und nicht zum Vorführen - Abschriften in Eurer Bibliothek existieren.« Wieder blieb seine Stimme frei von Hohn, auch wenn seine Worte nichts anderes sein konnten. In der Bibliothek von Koristir standen Tausende von Büchern aus über tausend Jahren - wie sollte irgend jemand, selbst ein Nachfahr Korisanders, auswendig wissen, welche Werke darunter waren und welche nicht? Doch dann sah Alexander Halan nicken, und er sah das Leuchten in seinen Augen. Halan wußte es.
Alexander fühlte, daß der Alondras sie beide beobachtete, und ihm wurde kalt. Er wußte, daß seine Augen nicht leuchteten. Dies war eine Prüfung. Ein Essen, bei dem sie sich endlich einmal kennenlernen konnten… Ein Essen, bei dem sich der Oberste aller Richter ein Bild von ihnen machen konnte… Der Mann, der entscheiden sollte, ob Alexander der rechtmäßige Erbe der Engels der Weisheit war, der Krone des Wissens… wußte jetzt, daß Alexander sich nicht für Bücher interessierte.
Vorsichtig tastete Alexander nach den Gefühlen des Alondras. Aber da war nichts zu fühlen. Halan verstand sich darauf, seine Gefühle zu verbergen - vielleicht hatte diese Gabe auch in Tolimanders Haus überdauert. Alexander blieb an der Oberfläche, grub nicht tiefer - ebenso, wie man Augen spüren konnte, die anstarrten, und Finger, die abtasteten, konnte es sein, daß dieser Mann es fühlen konnte, wenn seine Gefühle gelesen wurden. Gefühle… das war etwas anderes als langweilige, tote Bücher.
»Unser Haus wird oftmals falsch eingeschätzt«, sagte Alexander leise und ging zum Fenster hinüber. Er blickte Halan nicht an, noch den Alondras, als er weiterredete: »Allzu oft reduziert man unsere Aufgabe auf das Ansammeln von Büchern. Es ist wahr, wir besitzen jedes Buch, daß jemals geschrieben wurde, aber die meisten von ihnen sind nicht den Platz wert, den sie im Regal einnehmen, nicht das Pergament, und am allerwenigsten die Zeit, sie abzuschreiben und zusammenzutragen. Wenn es bei der Weisheit um Bücher ginge, hätte Korisander uns nicht die Krone hinterlassen, sondern das Buch.«
Auf der Fensterbank, in einer Ecke halb hinter dem Vorhang verborgen, stand eine kleine Tonfigur. Alexander nahm sie auf. Ungeschickte Hände hatten sie geformt, und doch war sie in ihrer hilflosen Art ohne jeden Zweifel als Engel zu erkennen. Und es war die allererste Darstellung eines Engels, den sie in Tayellin überhaupt entdeckten. Die Fingerabdrücke, unverwischbar, wenn auch nicht unzerstörbar im Ton festgehalten, waren klein - die Finger eines Kindes. Alexander mußte plötzlich an seine Krönung zurückdenken, an die tanzenden Kinder… Hastig stellte er die Figur zurück.
»Ihr müßt Euch nicht bemühen, mich zu beeindrucken«, sagte der Alondras, und es klang ein wenig amüsiert. »Eure Weisheit bedarf keiner Demonstration. Ich werde nicht darüber richten. Wenn Ihr mir Eure Fragen stellt, wird das Buch ein Urteil fällen, nicht ich. Ich bin nicht der Engel der Gerechtigkeit, nur ein Mann, der seine Arbeit tut wie jeder andere auch. Es gibt nichts, das mich von meinem Volk unterscheidet.«
Alexander nahm die Figur nicht noch einmal auf, doch er zog den Vorhang davor beiseite. »Ihr seid ein Engelsgeborener«, sagte er. »Tolimanders Erbe.«
Der Alondras nickte. »Es ist ein Geschenk, das er uns hinterlassen hat«, sagte er. »Zusammen mit der Aufgabe, es mit der Welt zu teilen. Das ganze Volk von Landalon ist Tolimanders Erbe.«
Alexander lächelte zurück. »Wenn wir euch nicht beeindrucken dürfen, ist es ungerecht, wenn Ihr es bei uns versucht.«
Der Alondras antwortete nicht, trat nur an das Fenster und zog den Vorhang wieder vor die Figur. »Sie ist ein Andenken«, sagte er unvermittelt, als ob Alexander danach gefragt hätte. »Viele Menschen, denen ich zur Gerechtigkeit verhelfe, sind mir dankbar und glauben, mir etwas schenken zu müssen, um das zu beweisen. Sie brauchen das nicht zu tun, und es ist mir auch lieber, wenn sie auf diese Darbietungen verzichten, doch ich weiß, was ihnen diese Geschenke bedeuten, daher nehme ich sie an. Diese Figur hat mir gefallen. Ein kleiner Junge hat sie gemacht, der von mir wissen wollte, wer sein Vater ist. Er kam aus Indiradin zu mir mit seiner Frage. Ich war glücklich, ihm helfen zu können. Ich glaube, diese Figur ist das einzige Abbild Tolimanders in dieser Stadt. Ich weiß, daß Ihr Euch darüber gewundert habt. Die meisten Fremden wundern sich. Sie begreifen nicht, daß es verschiedene Arten gibt, einen Engel zu ehren. Ein jedes Volk tut es auf seine Weise.«
Alexander legte die Hände zusammen, so daß der Alondras nur ihre unversehrten Rücken sehen konnte. Sie schmerzten wieder ein wenig, und sie juckten. »Es ist wohl sehr schwer, uns nicht gegenseitig beeindrucken zu wollen«, sagte er leise. »Jetzt fangt Ihr schon wieder damit an. Das Essen wird kalt sein, bis wir einander von unserer wahren Größe überzeugt haben. Warum zeigt Ihr uns nicht, wohin wir uns setzen sollen?«
Er konnte schlecht sagen, daß er Hunger hatte, bohrenden Hunger nach einer Mahlzeit, die seinem Rang angemessen war, und der Duft, der bereits die Wohnung durchzog, ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Der Alondras lächelte so unverbindlich wie immer. Keines von Alexanders Worten hatte ihn auch nur an den Rand einer Wut gebracht. »Weise gesprochen, Alexander«, sagte er. »Ich werde Euch in das Speisezimmer führen. Bitte verzeiht mir, wenn ich danach in der Gemeinsprache mit Euch rede, aber ein weiterer Gast meines Hauses wird dem Mahl beiwohnen, und da er das ist, was Ihr einen gewöhnlichen Sterblichen nennt und wir einen Menschen, versteht und spricht er kein Elomond, und es wäre ungerecht -«
»- unhöflich«, unterbrach ihn Alexander. »Was noch schlimmer ist.« Er nickte Halan zu. »Da auch wir die gemeine Sprache beherrschen, wird es uns keine größeren Probleme bereiten…« Seine Augen sprachen zu Halans in einer Sprache, die noch geheimer war als die Zungen der Engel, versuchten wortlos Fragen zu stellen: Noch ein Gast? Hat er vorher auch nur ein Wort davon verloren? Was soll das heißen? Falls Halan überhaupt verstand, so antwortete er doch nicht, wandte nur den Blick ab und folgte zusammen mit Alexander dem Alondras ins Eßzimmer.
Wo Ember von Valon bereits auf sie wartete.
Halan und Alexander erstarrten in der Tür, blickten einander an, blickten in den Raum hinein - doch das Bild blieb das gleiche, der Mann, der dort an einer Seite des Tisches saß und zu ihnen hinübersah, die breite Lücke zwischen seinen Vorderzähnen lächelnd gebleckt, war Ember von Valon und kein anderer.
Alexander grub seine Zehen in das Leder seiner Sandalen und die Finger in die Handflächen - er wollte vorwärts stürmen, sich auf den Mann stürzen, der die Schuld an seinem Niedergang trug und der nun so freundlich und unschuldig dasaß; er wollte ihn packen und mit dem Kopf auf die Tischplatte schlagen - doch er tat es nicht, nicht aus Vernunft, sondern weil die Situation so bizarr war. Es war am Alondras, dies zu erklären.
»Erlaubt mir, Euch meinen Gast vorzustellen«, sagte der Richter. »Dies ist Ember, ein guter Freund aus Loringaril.« Alexander unterdrückte ein Lachen ebenso wie seinen Zorn. Es konnte nicht sein, daß irgend jemand Ember als ‘guten Freund’ bezeichnete - Feind, vielleicht, Speichellecker auch, sogar ‘Berater’, zur allergrößten Not - aber sicher niemals Freund.
»Danke«, sagte Halan. Manchmal bewunderte ihn Alexander für seine Kühlheit. »Aber wir kennen uns bereits.«
Jetzt war es an der Zeit, daß Ember es seinem Herrn Harven nachtat und alles abstritt, daß er erklärte, die Korisanderskinder niemals gesehen zu haben - doch er nickte nur, stand auf und trat auf sie zu, die rechte Hand zum Gruße ausgestreckt. Es dauerte einen Moment, bis Alexander begriff, daß ihm Ember wirklich und wahrhaftig die Hand schütteln wollte. Alexander zögerte einen Moment, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, dann hielt er Ember den Rücken seiner linken Hand hin.
Er konnte sich denken, daß ein Handkuß in Landalon ungewöhnlich war, und ihm mißbehagte der Gedanke, mit Embers Lippen in Berührung zu kommen - aber er mochte die Geste der Demütigung. Er mochte es, als Ember sich tatsächlich vorbeugte, seine Hand im letzten Moment wieder fortzuziehen. Er mochte den Ärger in Embers Gesicht. Und er mochte es, daß Ember nichts sagte.
Halan verzichtete gleich darauf, Ember die Hand zu reichen, nickte ihm nur zu, so kalt und herablassen, wie er einem Diener begegnet wäre, oder einem Möbelstück. »Die Engel halten ihre Hand über Euch, Ember«, sagte Halan ruhig. »Es ist uns eine Freude, Euch so gesund und wohlbehalten hier zu sehen. Uns zu folgen, hat sich offenbar für Euch gelohnt.« Bei seinen Worten lief es Alexander kalt über den Rücken. Er war bereit, vieles zu tun, damit Halan nicht mit ihm in diesem Tonfall reden würde.
»Gemessen an dem, was Euch widerfahren ist«, zischte Ember, »kann ich Euer Verhalten meiner Person gegenüber begreifen. Dennoch solltet Ihr Euch die Zeit nehmen… es zu überdenken. Die Zeiten haben sich nicht nur für Euch geändert. Ich diene diesem Herrn nicht mehr.«
Embers breites, flaches Gesicht unter dem dichten schwarzen Haar hatte sich nicht verändert seit dem Tag, als sie aus Koristir flohen - in der Nacht Ember mit dem Prinzen Lorimander, am anderen Tag Halan und Alexander durch den Fluchttunnel. Aber erst jetzt fiel Alexander auf, wie Ember gekleidet war: Er trug keine Roben mehr, kein Blau und Gold, sondern Hosen wie ein Bürger. Natürlich waren die Hosen aus Samt, und dazu trug er ein seidenes Hemd und eine Brokatweste - aber Ember sah nicht mehr wie ein Berater aus, nicht einmal wie ein Loringarim…
»Also dient Ihr jetzt dem Alondras?« fragte Halan weiter.
Alexander mußte lächeln bei der Vorstellung - wenig erschien weiter entfernt von den zweifelhaften Idealen der Gerechtigkeit als dieser junge Mann, der an der Seite eines Schwachsinnigen um Macht gekämpft hatte… Zeiten konnten sich ändern. Menschen nicht.
Er fing einen Blick des Alondras auf, der ihm zu verstehen gab, daß dies sein Speisezimmer war und kein Ort, um Feindseligkeiten auszutauschen, und so sagte er schnell: »Wir werden noch genug Zeit haben, uns zu unterhalten, Ember, und was mich betrifft, so bin ich auch gerne bereit, diese Zeit zu nutzen. Aber jetzt sind wir hier, um zu essen. Und im Sitzen redet es sich besser.« Sie durften Ember nicht allzu schlecht behandeln. Langsam ging Alexander auf, welche Bedeutung dieser unangenehme kleine Mann für ihn haben konnte: Denn wenn Ember wußte, wo die Krone war, und wenn er sich wirklich mit Lorimanders Haus entzweit hatte… Daß er in Ungnade gefallen war, lag nahe, denn immerhin hatte er Loringaril in einen Krieg gebracht… Wenn Alexander sich nun freundlich mit ihm stellte…
Er streckte Ember die Hand hin und lächelte. Zu viele Menschen hatten ihn in der letzten Zeit berührt, als daß er um dieses alte Gesetz noch viel geben durfte. »Bitte seht uns unsere allzu kalte Begrüßung nach. Ihr sagt, die Zeiten haben sich geändert? Dann laßt uns ihnen dabei helfen.«
Jetzt war es an Ember, ihn zu verhöhnen und zu demütigen, die Hand in der Luft verharren zu lassen - doch Ember nahm die Hand, zögernd und vorsichtig wie etwas Zerbrechliches. Alexander schauderte, und er schluckte ein Gefühl des Ekels hinunter. Embers Finger waren sehr weich, als fehle in ihren Spitzen der Knochen, und sie waren klamm und schwitzig. Es war gut. Sollte Ember doch nervös sein! Doch das Gesicht des Mannes verriet nichts davon.
Erleichtert atmete Alexander auf, als Ember seine Hand wieder losließ. Die junge Haut brannte und juckte. Alexander zwang sich, sie nicht wieder anzustarren - jeder würde es sehen. Es war schlimm genug, daß Embers Fingerspitzen die Narben berührt hatten, daß er sie nicht länger geheim halten konnte… Warum nur gab es hier keine Handschuhe für ihn? Jetzt würden sie sich zu Tisch setzen, und jeder konnte ihm auf die Hände starren… Sie juckten und brannten und schmerzten gleichzeitig, obwohl er sie jeden Tag mit der stinkenden Paste einrieb, die ihm der Heiler gegeben hatte - sie wurden zum Heilen gezwungen, doch Alexander wußte, daß sie in Wirklichkeit bluten wollten.
»Nehmt Platz, wo immer Ihr wollt«, sagte der Alondras. »Das Essen wird jeden Moment hereingetragen.«
Draußen wurde es langsam dunkel. Mit einem Span zündete der Richter die Kerzen auf dem Tisch an, und diesen Moment nutzte Alexander, um unbeobachtet seine Hand am Saum seines Unterkleides abzuwischen. Danach fühlte er sich ein wenig besser. Halan sah zu ihm hinüber, und Alexander legte die Hände schnell wieder auf den Tisch, die Handflächen nach unten gekehrt - die Narben auf seinen Handrücken stammten noch von den Schwänen und fielen nicht so sehr auf. Mit dem Fuß versuchte Alexander unter dem Tisch Halan anzustoßen, der ihm gegenübersaß, doch seine Beine waren zu kurz, und Halan hatte wie üblich seine Füße unter den Stuhl geschoben - so konnte er ihn nur anlächeln und sich ansonsten wünschen, mit dem Alondras zu seiner Linken und Ember zu seiner Rechten möglichst fruchtbare Gespräche zu führen - und er hoffte auf ein kleines bißchen Ungerechtigkeit und ein Essen, das besser war als das, mit dem die Arbeiter in den Speisesälen abgespeist wurden.
Zumindest dieser Wunsch schien sich zu erfüllen, auch wenn der Alondras die Speise vorlegte mit einem Gesicht, als wolle er sich für ihre Qualität entschuldigen.
Das Essen war exzellent - ohne jeden Zweifel das Beste, das sie seit ihrem Aufbruch aus Lomar bekommen hatten, wenn nicht sogar noch besser als dort - denn es machte nicht den Eindruck, als habe es den Weg von der Küche auf den Tisch allein und dementsprechend langsam zurücklegen müssen. Gebratenes Geflügelfleisch in einer cremigen Sahnesoße, mit Pfeffer und Weißwein abgeschmeckt, dazu Nudeln - schon der Geruch war betörend. Aber Alexander zögerte, als er das erste Stück Fleisch aufspießte, und er blickte Halan fragend an. Halan schüttelte leicht den Kopf, nicht verneinend, sondern verwirrt. Alexander schnitt ein Stück Fleisch ab und deutete darauf - es durfte nur Huhn sein oder Pute. Wenn der Alondras versuchte, ihnen eine Falle zu stellen und sie gebratenen Schwan essen ließ, waren sie verloren für alle Zeit. Natürlich mußten Schwäne auch hier heilig sein - Tolimander war schwanengeflügelt wie Korisander - doch vielleicht war es ungerecht, den Schwan zu erhöhen gegenüber den anderen Vögeln… Doch Halan schien ihn nicht zu verstehen, Halan, der doch sonst so mißtrauisch und vorsichtig war, aß mit kleinen Bissen, als ob von dieser Mahlzeit keinerlei Gefahr ausging.
»Ihr könnt es bedenkenlos essen«, flüsterte Ember an seiner Seite. »Es ist Huhn. Auch in Landalon gelten die Gesetze.«
Alexander nickte dankbar, hoffend, daß der Alondras nicht gehört hatte, und hatte den Happen schon halb zum Mund geführt, als ihm einfiel, daß auch Ember ihn vielleicht zu betrügen suchte. Eilig legte er die Gabel wieder ab und nippte an seinem Wein. Er mochte weißen Wein nicht allzu gern; der Geschmack war immer einen Hauch zu sauer für seinen Gaumen.
»Vertraut mir«, zischte Ember. »Warum sollte ich Euch belügen? Auch für mich gelten die Gesetze.«
Alexander biß die Lippen zusammen. Leichter Zorn grollte in ihm, weil es Ember sein mußte, der ihn verstand, und nicht Halan, doch er zwang sich, das Gefühl zu unterdrücken. Immer noch zaghaft nahm er das Fleisch in den Mund. Es war Huhn. Den Geschmack von Schwanenfleisch hätte Alexander sofort erkannt, und er war froh, niemals im Leben wieder davon essen zu müssen. Das nächste gebratene Schwanenfleisch sollte es in Koristan erst wieder zu Alexanders Tod geben… Alexander besann sich wieder auf seine Rolle als Gast, und daß er nett zu Ember sein wollte. Er hob den Kopf und strahlte in die Runde. »Es ist ganz und gar vorzüglich«, sagte er. »Dieses Land ist gesegnet mit Köchen, die ihr Handwerk verstehen.«
Der Alondras erwiderte sein Lächeln mit einem freundlichen Nicken, aber davon kam noch immer nichts zustande, was man als Unterhaltung hätte bezeichnen können. Es gab zu viele Fragen, die Alexander auf der Zunge brannten und die er nicht ohne weiteres stellen konnte, nicht ohne geschickte Überleitung: Warum der Alondras zwar mit ihnen und Ember aß, aber ohne Familie - wenn er schon keine Frau hatte, dann brauchte er doch zumindest einen Thronfolger - selbst hier war es doch wichtig, das Engelsblut von Generation zu Generation weiterzugeben. Aber zu fragen war unhöflich, ehe nicht der Alondras selbst Fragen zu stellen begann… Alexander aß Huhn und Nudeln, und schwieg.
Er nippte noch einmal von seinem Wein, bewegte ihn mit der Zunge im Mund, und dann, er wußte selbst nicht, warum er das tat, hob er das Glas, lächelte in die Runde und sagte: »Ary an Asamara.« Auf Eure Seelen… Damianders Trinkspruch…
Halan schluckte, hustete und ließ seine Gabel fallen. Mit Augen, weit aufgerissen vor Entsetzen oder Ersticken, und bleichen Wangen starrte er ihn an. Alexander konnte ihm nicht sagen, wie bezaubernd er in diesem Moment aussah, aber er konnte den Augenblick noch ein wenig auskosten, indem er nickte, das Glas noch eine Spur weiter hob und in der Gemeinsprache die Worte wiederholte, so daß auch Ember sie verstehen konnte: »Auf Eure Seelen.«
Dann nahm er einen Schluck, stellte das Glas ab, und begann endlich, sich über sich selbst zu wundern. Warum dieser Spruch? Ganz bestimmt wollte er dem Alondras nichts von den beiden unbekannten Engeln erzählen; das sollte der selbst herausfinden, wenn er es unbedingt wissen wollte… Alexander versuchte, sich den Alondras in Damianders Haus vorzustellen, nackt…
Und merkte plötzlich, daß ihn alle anstarrten.
»Welch ein… interessanter Spruch«, sagte Ember langsam. »Und gern will ich ihn erwidern.«
Der Alondras lächelte ein Lächeln, das ebenso viel- wie nichtssagend war. Alexander versuchte es sich einzuprägen - ein guter Gesichtsausdruck für einen weisen Herrscher. »Ein Trinkspruch«, sagte der Alondras, »ist das Letzte, was ich von Korisanders Erben erwartet hätte.«
Aber diesmal ließ Alexander sich nicht einschüchtern, fing nicht an zu glauben, bei einer Prüfung durchgefallen zu sein. Er wußte, daß an diesem Abend kein brauchbares Gespräch zustande kommen würde, und ihm war seltsam leicht ums Herz. »Wir sind nicht als Korisanders Erben hier, das habt Ihr selbst oft genug betont. Was also immer wir auch statt dessen sein mögen - Ihr wollt uns nicht absprechen, daß wir alle, alle vier, die wir hier sitzen, eine Seele besitzen? Und ich kenne nichts höheres, auf das ich würde trinken mögen.«
Das gewünschte Gespräch war ohnehin überflüssig. Sie wollten dem Alondras sagen, das sie verfolgt wurden? Ihn fragen, wem das weiße Pferd gehörte? Die Antwort saß links von Alexander. Von Damiander und dem Engel der Träume erzählen? Das glaubte doch nicht einmal Halan. Um die Anerkennung des Alondras buhlen? Das führte zu nichts, dieses Stadium hatten sie hinter sich. Für Alexander konnte es an diesem Abend nur noch ein Ziel geben: Halan. Niemand anderem galten Damianders Worte. Wenn Halan nur noch etwas mehr von diesem Wein trank… Alexander wußte, wie sehr Halan ihn liebte, aber seine Seele wollte nicht nur erobert, sie wollte betäubt sein, bevor sie seine Liebe zuließ.
Vorsichtig betrachtete Alexander Halan. Mit den Augen: Er hatte seine Gabel wieder aufgenommen und aß weiter, als sei nichts gesagt oder geschehen. Unberührt stand sein Weinglas vor ihm. Und mit dem Herzen: Aber da gab es nichts zu beobachten. Halans Gefühle lagen so tief und verschlossen wie je.
Alexander seufzte leise bei sich, und trank sein Glas leer.

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