Eines wußte Alexander sicher: Daß er, wenn das Treffen
mit dem Alondras vorüber war, niemals wieder auch nur einen
Fuß in diese Stadt - oder was auch immer Tayellin sein
mochte, setzen würde. Die Hauptstadt Landalons verband das
zähe Warten, das sie bereits aus Lomar kannten, mit einem
eklatanten Mangel an Bequemlichkeit. Tayellin war bei weitem zu
gerecht.
Man hatte Halan und Alexander in den Häusern untergebracht,
in denen auch die Arbeiter lebten - wenn auch das Wort
‘Arbeiter’ in dieser Stadt gleichbedeutend mit
‘Bürger’ zu sein schien: Vom Alondras einmal
abgesehen, gab es niemanden, der sich nicht voll Freude als
Arbeiter bezeichnet hätte. In den riesigen Gebäuden gab
es genug Räume, in denen man Reisende unterbringen konnte.
Alexander vermutete, daß mehr als die Hälfte der Zimmer
unbewohnt sein mußten, doch sie waren nicht leer - ein
einfaches Bett stand in einem jeden, und eine Kiste, die zu klein
war, um den Namen Truhe zu tragen. Sonst gab es nichts - keinen
Tisch, keinen Stuhl. Nicht einmal eine Waschschüssel. Für
jeden Trakt gab es einen Waschsaal, in den das Wasser durch Rohre
gepumpt wurde. Halan weigerte sich, ihn zu betreten - lieber
würde der sich drei Tage lang nicht waschen als zwischen einer
Rotte von wildfremden Männern, und solange er das so sehr
betonte, blieb auch Alexander nichts übrig, als es ihm
nachzutun. Vielleicht würden sie es einmal in der Nacht
versuchen - aber dann war der Waschsaal wahrscheinlich
abgeschlossen, so wie auch der Speisesaal nur zu den Mahlzeiten
geöffnet wurde. Sie mußten essen, wenn alle anderen im
Haus auch aßen - morgens kurz nach Sonnenaufgang, und zur
Mittagszeit, und wenn die Sonne unterging. Alexander fühlte
sich noch zu schwach, um sich darüber aufzuregen und nahm es
mit seltsamer Gelassenheit, die wohl mehr Gleichgültigkeit
war, aber Halan litt. Natürlich litt Halan immer, wenn er
gezwungen war, sich unter Menschen aufzuhalten - aber hier war es
besonders schwer zu ertragen. Allein der Anblick von Halan, der
sich beim Abendessen krampfhaft bemühte, nur durch den Mund zu
atmen, weil er den Geruch der verschwitzten Arbeiter nicht ertragen
konnte, reichte aus, um auch Alexander beinahe allen Appetit zu
nehmen.
Aber sie beschwerten sich nicht darüber, nicht bei einander
und nicht bei den Herren dieser Stadt. Schließlich kamen sie
als Bittsteller, sie wollten so schnell wie möglich
vorgelassen werden. Und es konnte sein, daß man sie, wenn sie
gegen Tolimanders Geist der Gerechtigkeit handelten, trennen und in
unterschiedlichen Häuser verlegen würde, und das war das
letzte, was Alexander wollte. Wenn er Halan nicht mehr sehen
konnte, nicht einmal zu den Mahlzeiten…
Wo Janek war, wußten sie nicht - in einem der anderen
Häuser, doch man hatte ihnen nicht mitgeteilt in welchem, und
er hielt es nicht für nötig, sie aufzusuchen. Vielleicht
würde er ja auch hierbleiben. Tayellin mußte seinem
Drang, Engelsgeborene wie Fußsoldaten zu behandeln, doch
sicher entgegenkommen. Dann wieder gab es hier niemanden, den er
herumkommandieren durfte…
Obwohl es Räume gab, in denen die Arbeiter die Zeit
verbringen durften - Ruhe- und Gesellschaftsräume, und eine
Sporthalle - blieben Halan und Alexander auf ihren Zimmern, oder
zumindest in einem davon. Zumindest wurde nicht kontrolliert, ob
sich auch wirklich jeder nur in dem Raum aufhielt, der ihm
zugewiesen war. Aber es mußten ja auch hier die Familien
zusammenfinden… Alexander dachte wieder an Janek und diese
Arbeiterin, und gegen seinen Willen mußte er lächeln.
Der Hauptmann hätte sich schon vor Jahren eine Frau nehmen und
seßhaft werden sollen - genau so ein Mensch war er. Ein wenig
fehlte er Alexander. Mehr als ein wenig, sogar. Aber das war
nichts, worüber er mit Janek hätte reden können. Und
mit Halan ohnehin nicht.
Mit jedem Tag, den sie in Tayellin verbrachten, wurde es schwerer
mit Halan auszuhalten. Es schien ihn nicht zu stören,
daß sie in diesen Kämmerchen festsaßen. Er brachte
es fertig, etwas zu murmeln wie »Chronik darf nicht
vernachlässigt werden«, und wenn er es auch nicht gewagt
hatte, vor dem richterlichen Schreiber auf sein Recht zu beharren,
überwand er seine Scheu doch, als es darum ging, ihm mehrere
Bögen Pergament abzuschwatzen. Der Schreiber lächelte
erfreut, als Halan ihn darum bat. Die Tatsache, daß die
eingebildeten engelsgeborenen Gäste arbeiten wollten,
mußte das Herz von Tayellin erfreuen.
Aber Alexander wollte Halan keine Lügen für die Chronik
diktieren, noch wollte er ihm beim Niederschreiben der Wahrheit
zusehen, noch wollte er die ganze Zeit über allein in seinem
Zimmer sitzen. Halan konnte man einkerkern - er hätte es
wahrscheinlich nicht einmal gemerkt. Doch Alexander mußte
sich bewegen können - hier herumzusitzen machte ihn aggressiv,
und das, obwohl er nichts dringender brauchte als einen kühlen
Kopf.
Einmal am Tag gingen sie zur Halle des Richters, um zu fragen, ob
sie vielleicht an diesem Tag vorgelassen werden könnten - aber
das war keine Bewegung, das war eine Tortur, eine täglich
wiederkehrende Demütigung. Niemand war bereit, ihnen zu sagen,
wie lange es noch dauern würde, oder wie viele Rechtssuchende
vor ihnen auf der Liste standen: Die Tugend der Gerechtigkeit war
Geduld.
Am Morgen des vierten Tages stand Alexander nicht vor der Halle
des Richters, sondern an der Pferdekoppel. Zu lange hatte er, durch
die Verbände zur Tatenlosigkeit verdammt, unnütz
herumgesessen oder gelegen. Wenn es hier sonst nichts für ihn
zu tun gab, wollte er wenigstens ausreiten - allein, wenn es sein
mußte, denn Halan konnte sich nicht vorstellen, wie sich ein
Mensch nur zum Vergnügen auf ein Pferd setzen konnte und
nicht, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Alexander wollte
ausreiten. Vielleicht würde es ihn glücklich
machen…
Was für die Menschen in Tayellin galt, war auch für die
Pferde Pflicht. Anstelle von Stallungen gab es hier eine
große Koppel, auf denen die Tiere soviel Auslauf und Gras
hatten, wie sie wollten - eine ganz und gar würdelose
Unterbringung für einen edlen Hengst wie Farrell, aber warum
sollte er es auch besser haben als sein Reiter?
Auf dem Weg zur Sattelkammer wurde Alexander von einem Mann
angehalten. »Was suchst du hier?« fragte er, nicht
unfreundlich, aber forsch. »Hat man euch nicht gesagt, ihr
sollt nicht draußen herumlungern, wenn andere arbeiten
müssen?«
Doch, das hatte man ihnen gesagt. Kein Tag verging ohne
dergeartete Hinweise, und das war auch der Grund, warum Tayellins
Straßen so menschenverlassen waren, als sei ein Unwetter
hindurchgefegt und habe alles Leben vernichtet: Es war ungerecht,
wenn ein Mensch, der im Haus arbeitete, nach draußen blicken
mußte auf jemanden, der nichts zu tun hatte und es sich gut
gehen ließ. Wer arbeitete, sollte nur andere Arbeiter sehen -
das war gerecht.
Seit ihrer Ankunft hatte Alexander zwar nichts über
Gerechtigkeit gelernt, wohl aber viel davon, was man hier darunter
verstand. Und auf diese Frage war er vorbereitet. »Ich bin
nicht zu meinem Vergnügen hier«, antwortete er ernst und
ohne zu zögern. »Mein Pferd ist hier auf der Koppel
abgestellt, bei den Hengsten. Er ist daran gewöhnt,
regelmäßig bewegt zu werden - sonst wird er
bösartig. Er ist ein schwieriges, garstiges Tier, und da ich
selbst die nötige Zeit habe, kann ich schlecht diese Arbeit
von jemand anderem erwarten, nicht wahr? Es
wäre…« - er lächelte sanft, als er dies
sagte - »nicht gerecht.«
Der Mann lachte. Tayellin war eine seltsame, strenge Stadt, aber
das bedeutete nicht, daß die Leute hier keinen Humor hatten.
»Wenigsten lernst du schnell.«
»Gerechtigkeit für euch«, erwiderte Alexander.
»Weisheit für mich. Wenn ich jetzt meinen Sattel haben
dürfte?«
Der Mann blickte ihn abschätzend an. Seine kräftigen
Muskeln zeichneten sich unter der groben Tunika ab. »Ich
werde dir zur Hand gehen«, sagte er - nicht helfen,
und dafür dankte ihm Alexander. »Sag mir nur, welcher
Sattel, und welches Pferd.«
Alexander nickte, aber lieber hätte er den Kopf
geschüttelt, über sich selbst. Es gehörte sich,
daß ihm der Stallbursche den Sattel trug, das Pferd sattelte
- weswegen fühlte er sich dann plötzlich so…
schuldig? Es war wirklich an der Zeit, daß sie aus dieser
Stadt fortkamen - daß sie nach Hause kamen. Wenn es so etwas
noch gab…
Das Gras auf der Weide war hoch und naß, und mehr als einmal
geriet Alexander mit dem Fuß an eine Distel. Farrell
mußte ihn schon bemerkt haben - kein Pferd war klüger,
oder aufmerksamer - aber er blieb am fernen Ende und graste
zwischen den anderen Pferden, wie ein ganz gewöhnliches
Tier.
Doch dort graste nicht nur Farrell. Nur wenige Schritte von ihm
entfernt stand das weiße Pferd.
Alexander blieb ruhig. Er erstarrte nicht, ließ nicht das
Zaumzeug fallen, rannte nicht weg. Er nickte nur seinem Begleiter
zu, deutete auf den Schimmel und fragte: »Ist das nicht ein
wunderschönes Geschöpf? Wem gehört er?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht
sagen. Die Pferde hier gehören fast alle unseren Gästen.
Mehr weiß ich dazu nicht. Aber deiner ist der Rappe, nicht
wahr?«
Alexander nickte abwesend. »Ich werde später
ausreiten«, sagte er. »Im Moment ist es nicht
nötig. Ihr seht selbst, wie ruhig er ist.« Ohne sich
weiter um den Mann zu kümmern, drehte er sich um und ging
über die Wiese zurück. Wie immer machte er kleine
Schritte, auch wenn er am liebsten gerannt wäre. Er
mußte zu Halan.
Das weiße Pferd war hier. Ihr Verfolger war hier. Und sie
mußten herausfinden, wer es war.
»Wir dürfen nichts überstürzen«,
würde Halan sagen, und: »Bist du wirklich
sicher?«, und: »Du wirst dich geirrt haben«, und:
»Wir haben keinerlei Beweise« - mit allem hatte
Alexander gerechnet, nur nicht damit, daß Halan ihm sofort
glaubte und ihn beim Wort nahm, um mit ihm zur Halle des Richters
zu eilen.
Und doch waren sie nun hier, wieder einmal, wie an jedem
langweiligen Tag seit ihrer Ankunft. Alexander hatte nicht
erwartet, daß Halan ihn ernst nehmen würde - nicht so
schnell, nicht ohne die Androhung von Tobsuchtsanfällen - und
fühlte sich ein klein wenig überrumpelt, als Halan ihm
das Reden überließ - auch wenn es ihn freute.
»Könntet Ihr in Eurer Liste etwas für uns
nachsehen?« fragte er so freundlich wie möglich.
»Wir glauben, daß ein Bekannter von uns, ein guter
Freund, ebenfalls zu Gast in Tayellin ist. Wenn ich Euch seinen
Namen nenne - werdet Ihr mir dann sagen, wo er untergebracht
ist?« Er fühlte, daß seine Stimme leicht zitterte,
und hoffte, der Schreiber würde es nicht merken. Ihm fehlte
Erfahrung beim Lügen. Er konnte alles verschweigen, wenn es
sein mußte, aber es kam selten vor, daß er so direkt
und plump log.
»Es tut mir leid«, sagte der Schreiber, »aber
ich fürchte, mir sind die Hände gebunden. Der Inhalt
dieser Liste ist vertraulich - wer darin steht, hat ein Anliegen an
den Alondras, und das geht niemandem außer ihm und dem
Alondras etwas an.«
»Aber der ganze Warteraum ist voller Menschen, die auf
dieser Liste stehen!« Alexander hob seine Stimme kaum -
diesmal würde er Ruhe bewahren. »Obwohl es vertraulich
ist, müssen dort auch alle gemeinsam warten.«
Der Schreiber schüttelte den Kopf. »Sie müssen
nicht. Sie sitzen dort freiwillig. Und niemand kennt den Namen des
anderen, wenn der ihn nicht freiwillig nennen mag.«
Wenn er doch wenigsten hinter seinem Schreibpult hervorkommen
würde! Dann konnte Alexander ihn ablenken, während Halan
schnell die Liste erfaßte - sie wußten beide, nach
welchem guten Freund zu suchen war. Es gab nur einen, der
als Verfolger in Frage kommen konnte: Ember von Valon, der Mann,
der nicht existierte.
»Aber das ist nicht gerecht!« entfuhr es Alexander -
nicht impulsiv, sondern wohlüberlegt. Das Zauberwort wollte
mit Bedacht gewählt sein, um seinen Sinn nicht zu verfehlen.
»Hier soll verhindert werden, daß wir zum ersten Mal
seit Monaten unseren Freund treffen können!« Nein, das
trug zu dick auf. Aber es gelang Alexander, die Lage zu retten,
während Halan nur reglos hinter ihm stand. »Ebenso, wie
man uns nicht zu unserem Verwandten läßt!«
»Verwandter?« Der Schreiber zwinkerte verwirrt.
»Ihr sagtet nie, daß ihr Verwandte in Tayellin habt,
ihr…«
Alexander schnitt ihm das Wort ab. »Die Elomaran Korisander
und Tolimander sind, wie man weiß, Brüder. Harold und
ich stammen in direkter Linie von Korisander ab,« - ein
Hinweis, auf den man in dieser Stadt nicht viel gab, aber sie
konnten es nicht oft genug betonen - »und euer Alondras geht
auf Tolimander zurück: Das macht ihn zu unserem Vetter, und
doch läßt man uns nicht zu ihm.«
Der Schreiber hielt seine Feder mit beiden Händen wie eine
Waffe. Er stand hinter dem Schreibpult, als sei er dort
festgewachsen, und starrte über Alexanders Schulter. Seine
kleinen Mäuseaugen weiteten sich. Alexander fühlte eine
Anwesenheit im Raum und drehte sich um, in genau dem Moment, als
der Alondras sagte: »Gibt es irgendwelche
Unstimmigkeiten?«
Wen hatte Alexander erwartet? Wie sollten in einer Stadt wie
dieser die Engelsgeborenen aussehen, um der Gerechtigkeit zu
genügen? In der Tür stand ein Mann, dessen Alter nur
schwer einzuschätzen war - sicherlich älter als Halan,
und wahrscheinlich jünger als Koris: Das bedeutete eine
Bandbreite von fünfundzwanzig Jahren, in denen man den
König, der keiner war, ansetzen mochte. Sein Gesicht war
ungeschminkt und freundlich und hatte durch seine Faltenlosigkeit
doch etwas Maskenhaftes. Die Farbe seiner kurzen Haare war sehr
hell, daß es sie seltsam spärlich wirken ließ -
eine Mischung aus weißblond und silbergrau. Grau war auch das
schlichte Gewand des Mannes - ähnliches hatte Alexander bis
jetzt nur an Totenmägden gesehen, und er mußte ein
Lächeln unterdrücken - und doch war dieser auf den ersten
Blick so unscheinbare Mann eindeutig engelsgeboren. Sein
Selbstbewußtsein strahlte von ihm ab wie Wärme von einer
Kerze, gemischt mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit, die
nichts Aufdringliches hatte. Ein ganz klein wenig erinnerte der
Alondras an Koris.
Alexander neigte sein Haupt - nicht tief, und nur einen Moment
lang, aber die Geste mußte genügen - und blickte dann
direkt in die großen dunklen Augen. »Bruder«,
sagte er auf Elomond - es war ein stärkeres Wort als Vetter -
»wir sind gekommen, um mit euch zu sprechen. Werdet Ihr uns
empfangen?«
Ein Lächeln hellte das Gesicht. Alexander konnte die
Gefühle des Alondras nicht einordnen, denn sie waren beinahe
so leise wie Halans, aber zumindest schien der Richter nicht
beleidigt ob der Anrede. Daß er sie verstanden hatte, stand
außer Frage, denn auch er antwortete in der Sprache der
Engel.
»Kind, es ist schön, nach all den Jahren einen Gast
Eures Landes in unserem zu begrüßen.« Diese
Anrede, auch wenn sie wieder einmal auf Alexanders Jugend
anspielte, schien ebensowenig als Beleidigung gemeint zu sein, und
so nahm Alexander sie hin. »Leben doch seit vielen
Generationen die Schüler der Gerechtigkeit als angesehene
Menschen unter Euch.«
Alexander verspürte den Drang, etwas besonders weises zu
sagen - und Halans Wünschen und Flehen. In sehr, sehr
seltenen, kostbaren Momenten konnte Alexander beinahe seine
Gedanken lesen, und das gab ihm zusätzliche Kraft, als er
antwortete: »Ebenso wie das Recht ein ständiger Gast war
in Koristan, so ist doch auch Landalon nie ohne Weisheit gewesen,
denn Gerechtigkeit ohne Weisheit ist ebenso falsch und grausam wie
Weisheit ohne Recht.« Danach biß er sich auf die Zunge.
Diese Worte klangen in seinem Kopf deutlich besser als in der
Wirklichkeit - wenn der Alondras sie nun nur nicht als Anklage oder
Beleidigung auffaßte!
Doch der Alondras nickte nur. »Ich weiß. Es ist gut,
daß Ihr so denkt. Ich weiß, daß Euch Grausamkeit
widerfahren ist, und daß Ihr gekommen seid, damit ich ein
Urteil darüber spreche. Und doch muß nun auch ich
grausam zu Euch sein, denn ich werde das Buch nicht eher zu Eurem
Fall befragen, als bis Ihr zwischen all den anderen Wartenden an
der Reihe seid.«
Halan und Alexander blickten sich kurz an, und Halan nickte
aufmunternd und lächelte dabei. Alexander fühlte sich
ruhig und selbstsicher, als er erwiderte: »Das wissen wir,
und wir sind bereit zu warten, wenn es der Gerechtigkeit dient.
Aber unsere Anwesenheit in Tayellin ist mehr als ein Gesuch - sie
sich auch ein Besuch. Denkt Ihr nicht, daß es an der Zeit
ist, die Beziehungen zwischen unseren Ländern einmal
aufzufrischen? Wenn ich erst einmal König bin - das
heißt, wenn ich es werden sollte«, fügte er
schnell hinzu, als er sah, wie der Alondras eine Augenbraue hob,
»habe ich nicht mehr die Zeit und die Möglichkeit
für derartige Besuche. Aber nun sind wir hier, und wir
würden Euch gerne kennenlernen - nicht als Richter, sondern
als Person.«
Auch wenn der Schreiber ohnehin kein Wort verstehen konnte, sagte
Alexander doch nichts von dem weißen Pferd oder davon,
daß sie sich verfolgt und bedroht fühlten - dafür
war später immer noch genug Zeit.
»Ich weiß nicht, was ich mir darunter vorzustellen
habe«, sagte der Alondras distanziert. »Aber falls es
Euren Erwartungen Genüge tut, so wird es sich sicherlich
einrichten lassen, daß wir heute Abend eine Mahlzeit zusammen
einnehmen.«
»Oh, das wäre sehr freundlich von Euch«, sagte
Halan.
»Aber seid gewarnt«, fuhr der Alondras fort,
»daß ich mich nicht auf Fragen einlassen werde, die
etwas mit Politik, Staatsführung oder Eurem Anspruch auf die
Krone zu tun haben.«
»Natürlich nicht.« Alexander hatte auch nie damit
gerechnet. »Aber es ehrt uns, daß Ihr uns dennoch die
Möglichkeit zu einem Gespräch über persönliche
Dinge bieten wollt.« Persönliche Dinge würde
er ganz sicher nicht ansprechen. »Heute Abend
schon?«
Es klang ein wenig zu begriffsstutzig für seine
Verhältnisse, aber der Alondras nickte, ohne zu spotten.
»Ich weiß nicht, wo Ihr untergebracht seid. Aber nehmt
in meinem Warteraum Platz, und ich werde Euch abholen.«
Die Wohnräume des Alondras lagen über der Richterhalle.
Aber wenn dieses Gebäude auch kein Palast war - es war doch so
groß, daß es für einen einzelnen Bewohner kaum
weniger Platz bot. Die Hundertschaften von Dienern, mit denen das
Schloß von Koristir bevölkert war, fehlten hier
völlig. Es gab keine Diener in Tayellin, noch nicht einmal
für den Herrscher. Der Alondras hatte einen Koch. Das war
alles.
Während sie die steile gezimmerte Treppe hinaufstiegen, die
hinter dem Wartesaal lag, fragte sich Alexander zum wiederholten
Mal, was sie nun erwarten mochte. Er rechnete mit Prunk. Egal, was
der Alondras auch an Sachlichkeit predigen mochte - er war und
blieb ein Engelsgeborener, und er wußte, was ihm zustand.
Kühle Kargheit empfing sie. Die Räume waren
weitläufig und hell, deutlich großzügiger bemessen
als die Unterkünfte in den klotzförmigen Häusern,
doch auch hier fehlten jeglicher Zierrat, Bilder und Statuen.
Alexander kannte nur einen Menschen, der ähnlich dürftig
leben mochte, und lächelte im Stillen. Aralee mußte es
hier sicher gefallen.
»Schaut Euch hier nur um«, meinte der Alondras
lächelnd. »Bis das Essen fertig ist, dauert es noch
einen Moment. Ich nehme an, Ihr wollt meine Bücher
sehen?«
Eine Woge der Glücks erfüllte den Raum. Alexander
seufzte innerlich. Er konnte noch so sehr darum kämpfen,
Halans Herz zu gewinnen - im Zweifelsfall würde sich sein
Geliebter für ein Buch entscheiden. Für ein Buch
würde Halan ihn verraten und verlassen…
»Ich würde es gerne sehen«, flüsterte Halan
ehrfurchtsvoll.
»Nicht das Buch«, erwiderte der Alondras.
»Meine Bücher. Ihr sollt Euch überzeugen
können, daß von jedem unserer Bücher - jedem, bis
auf das eine, das nicht zu kopieren ist und nicht zum
Vorführen - Abschriften in Eurer Bibliothek existieren.«
Wieder blieb seine Stimme frei von Hohn, auch wenn seine Worte
nichts anderes sein konnten. In der Bibliothek von Koristir standen
Tausende von Büchern aus über tausend Jahren - wie sollte
irgend jemand, selbst ein Nachfahr Korisanders, auswendig wissen,
welche Werke darunter waren und welche nicht? Doch dann sah
Alexander Halan nicken, und er sah das Leuchten in seinen Augen.
Halan wußte es.
Alexander fühlte, daß der Alondras sie beide
beobachtete, und ihm wurde kalt. Er wußte, daß seine
Augen nicht leuchteten. Dies war eine Prüfung. Ein
Essen, bei dem sie sich endlich einmal kennenlernen konnten…
Ein Essen, bei dem sich der Oberste aller Richter ein Bild von
ihnen machen konnte… Der Mann, der entscheiden sollte, ob
Alexander der rechtmäßige Erbe der Engels der Weisheit
war, der Krone des Wissens… wußte jetzt, daß
Alexander sich nicht für Bücher interessierte.
Vorsichtig tastete Alexander nach den Gefühlen des Alondras.
Aber da war nichts zu fühlen. Halan verstand sich darauf,
seine Gefühle zu verbergen - vielleicht hatte diese Gabe auch
in Tolimanders Haus überdauert. Alexander blieb an der
Oberfläche, grub nicht tiefer - ebenso, wie man Augen
spüren konnte, die anstarrten, und Finger, die abtasteten,
konnte es sein, daß dieser Mann es fühlen konnte, wenn
seine Gefühle gelesen wurden. Gefühle… das war
etwas anderes als langweilige, tote Bücher.
»Unser Haus wird oftmals falsch eingeschätzt«,
sagte Alexander leise und ging zum Fenster hinüber. Er blickte
Halan nicht an, noch den Alondras, als er weiterredete:
»Allzu oft reduziert man unsere Aufgabe auf das Ansammeln von
Büchern. Es ist wahr, wir besitzen jedes Buch, daß
jemals geschrieben wurde, aber die meisten von ihnen sind nicht den
Platz wert, den sie im Regal einnehmen, nicht das Pergament, und am
allerwenigsten die Zeit, sie abzuschreiben und zusammenzutragen.
Wenn es bei der Weisheit um Bücher ginge, hätte
Korisander uns nicht die Krone hinterlassen, sondern das
Buch.«
Auf der Fensterbank, in einer Ecke halb hinter dem Vorhang
verborgen, stand eine kleine Tonfigur. Alexander nahm sie auf.
Ungeschickte Hände hatten sie geformt, und doch war sie in
ihrer hilflosen Art ohne jeden Zweifel als Engel zu erkennen. Und
es war die allererste Darstellung eines Engels, den sie in Tayellin
überhaupt entdeckten. Die Fingerabdrücke, unverwischbar,
wenn auch nicht unzerstörbar im Ton festgehalten, waren klein
- die Finger eines Kindes. Alexander mußte plötzlich an
seine Krönung zurückdenken, an die tanzenden
Kinder… Hastig stellte er die Figur zurück.
»Ihr müßt Euch nicht bemühen, mich zu
beeindrucken«, sagte der Alondras, und es klang ein wenig
amüsiert. »Eure Weisheit bedarf keiner Demonstration.
Ich werde nicht darüber richten. Wenn Ihr mir Eure Fragen
stellt, wird das Buch ein Urteil fällen, nicht ich. Ich bin
nicht der Engel der Gerechtigkeit, nur ein Mann, der seine Arbeit
tut wie jeder andere auch. Es gibt nichts, das mich von meinem Volk
unterscheidet.«
Alexander nahm die Figur nicht noch einmal auf, doch er zog den
Vorhang davor beiseite. »Ihr seid ein Engelsgeborener«,
sagte er. »Tolimanders Erbe.«
Der Alondras nickte. »Es ist ein Geschenk, das er uns
hinterlassen hat«, sagte er. »Zusammen mit der Aufgabe,
es mit der Welt zu teilen. Das ganze Volk von Landalon ist
Tolimanders Erbe.«
Alexander lächelte zurück. »Wenn wir euch nicht
beeindrucken dürfen, ist es ungerecht, wenn Ihr es bei uns
versucht.«
Der Alondras antwortete nicht, trat nur an das Fenster und zog den
Vorhang wieder vor die Figur. »Sie ist ein Andenken«,
sagte er unvermittelt, als ob Alexander danach gefragt hätte.
»Viele Menschen, denen ich zur Gerechtigkeit verhelfe, sind
mir dankbar und glauben, mir etwas schenken zu müssen, um das
zu beweisen. Sie brauchen das nicht zu tun, und es ist mir auch
lieber, wenn sie auf diese Darbietungen verzichten, doch ich
weiß, was ihnen diese Geschenke bedeuten, daher nehme ich sie
an. Diese Figur hat mir gefallen. Ein kleiner Junge hat sie
gemacht, der von mir wissen wollte, wer sein Vater ist. Er kam aus
Indiradin zu mir mit seiner Frage. Ich war glücklich, ihm
helfen zu können. Ich glaube, diese Figur ist das einzige
Abbild Tolimanders in dieser Stadt. Ich weiß, daß Ihr
Euch darüber gewundert habt. Die meisten Fremden wundern sich.
Sie begreifen nicht, daß es verschiedene Arten gibt, einen
Engel zu ehren. Ein jedes Volk tut es auf seine Weise.«
Alexander legte die Hände zusammen, so daß der Alondras
nur ihre unversehrten Rücken sehen konnte. Sie schmerzten
wieder ein wenig, und sie juckten. »Es ist wohl sehr schwer,
uns nicht gegenseitig beeindrucken zu wollen«, sagte
er leise. »Jetzt fangt Ihr schon wieder damit an. Das Essen
wird kalt sein, bis wir einander von unserer wahren
Größe überzeugt haben. Warum zeigt Ihr uns nicht,
wohin wir uns setzen sollen?«
Er konnte schlecht sagen, daß er Hunger hatte, bohrenden
Hunger nach einer Mahlzeit, die seinem Rang angemessen war, und der
Duft, der bereits die Wohnung durchzog, ließ ihm das Wasser
im Munde zusammenlaufen.
Der Alondras lächelte so unverbindlich wie immer. Keines von
Alexanders Worten hatte ihn auch nur an den Rand einer Wut
gebracht. »Weise gesprochen, Alexander«, sagte er.
»Ich werde Euch in das Speisezimmer führen. Bitte
verzeiht mir, wenn ich danach in der Gemeinsprache mit Euch rede,
aber ein weiterer Gast meines Hauses wird dem Mahl beiwohnen, und
da er das ist, was Ihr einen gewöhnlichen Sterblichen
nennt und wir einen Menschen, versteht und spricht er kein Elomond,
und es wäre ungerecht -«
»- unhöflich«, unterbrach ihn Alexander.
»Was noch schlimmer ist.« Er nickte Halan zu. »Da
auch wir die gemeine Sprache beherrschen, wird es uns keine
größeren Probleme bereiten…« Seine Augen
sprachen zu Halans in einer Sprache, die noch geheimer war als die
Zungen der Engel, versuchten wortlos Fragen zu stellen: Noch ein
Gast? Hat er vorher auch nur ein Wort davon verloren? Was soll das
heißen? Falls Halan überhaupt verstand, so
antwortete er doch nicht, wandte nur den Blick ab und folgte
zusammen mit Alexander dem Alondras ins Eßzimmer.
Wo Ember von Valon bereits auf sie wartete.
Halan und Alexander erstarrten in der Tür, blickten einander
an, blickten in den Raum hinein - doch das Bild blieb das gleiche,
der Mann, der dort an einer Seite des Tisches saß und zu
ihnen hinübersah, die breite Lücke zwischen seinen
Vorderzähnen lächelnd gebleckt, war Ember von Valon und
kein anderer.
Alexander grub seine Zehen in das Leder seiner Sandalen und die
Finger in die Handflächen - er wollte vorwärts
stürmen, sich auf den Mann stürzen, der die Schuld an
seinem Niedergang trug und der nun so freundlich und unschuldig
dasaß; er wollte ihn packen und mit dem Kopf auf die
Tischplatte schlagen - doch er tat es nicht, nicht aus Vernunft,
sondern weil die Situation so bizarr war. Es war am Alondras, dies
zu erklären.
»Erlaubt mir, Euch meinen Gast vorzustellen«, sagte
der Richter. »Dies ist Ember, ein guter Freund aus
Loringaril.« Alexander unterdrückte ein Lachen ebenso
wie seinen Zorn. Es konnte nicht sein, daß irgend jemand
Ember als ‘guten Freund’ bezeichnete - Feind,
vielleicht, Speichellecker auch, sogar ‘Berater’, zur
allergrößten Not - aber sicher niemals Freund.
»Danke«, sagte Halan. Manchmal bewunderte ihn
Alexander für seine Kühlheit. »Aber wir kennen uns
bereits.«
Jetzt war es an der Zeit, daß Ember es seinem Herrn Harven
nachtat und alles abstritt, daß er erklärte, die
Korisanderskinder niemals gesehen zu haben - doch er nickte nur,
stand auf und trat auf sie zu, die rechte Hand zum Gruße
ausgestreckt. Es dauerte einen Moment, bis Alexander begriff,
daß ihm Ember wirklich und wahrhaftig die Hand schütteln
wollte. Alexander zögerte einen Moment, die Arme hinter dem
Rücken verschränkt, dann hielt er Ember den Rücken
seiner linken Hand hin.
Er konnte sich denken, daß ein Handkuß in Landalon
ungewöhnlich war, und ihm mißbehagte der Gedanke, mit
Embers Lippen in Berührung zu kommen - aber er mochte die
Geste der Demütigung. Er mochte es, als Ember sich
tatsächlich vorbeugte, seine Hand im letzten Moment wieder
fortzuziehen. Er mochte den Ärger in Embers Gesicht. Und er
mochte es, daß Ember nichts sagte.
Halan verzichtete gleich darauf, Ember die Hand zu reichen, nickte
ihm nur zu, so kalt und herablassen, wie er einem Diener begegnet
wäre, oder einem Möbelstück. »Die Engel halten
ihre Hand über Euch, Ember«, sagte Halan ruhig.
»Es ist uns eine Freude, Euch so gesund und wohlbehalten hier
zu sehen. Uns zu folgen, hat sich offenbar für Euch
gelohnt.« Bei seinen Worten lief es Alexander kalt über
den Rücken. Er war bereit, vieles zu tun, damit Halan nicht
mit ihm in diesem Tonfall reden würde.
»Gemessen an dem, was Euch widerfahren ist«, zischte
Ember, »kann ich Euer Verhalten meiner Person gegenüber
begreifen. Dennoch solltet Ihr Euch die Zeit nehmen… es zu
überdenken. Die Zeiten haben sich nicht nur für Euch
geändert. Ich diene diesem Herrn nicht mehr.«
Embers breites, flaches Gesicht unter dem dichten schwarzen Haar
hatte sich nicht verändert seit dem Tag, als sie aus Koristir
flohen - in der Nacht Ember mit dem Prinzen Lorimander, am anderen
Tag Halan und Alexander durch den Fluchttunnel. Aber erst jetzt
fiel Alexander auf, wie Ember gekleidet war: Er trug keine Roben
mehr, kein Blau und Gold, sondern Hosen wie ein Bürger.
Natürlich waren die Hosen aus Samt, und dazu trug er ein
seidenes Hemd und eine Brokatweste - aber Ember sah nicht mehr wie
ein Berater aus, nicht einmal wie ein Loringarim…
»Also dient Ihr jetzt dem Alondras?« fragte Halan
weiter.
Alexander mußte lächeln bei der Vorstellung - wenig
erschien weiter entfernt von den zweifelhaften Idealen der
Gerechtigkeit als dieser junge Mann, der an der Seite eines
Schwachsinnigen um Macht gekämpft hatte… Zeiten konnten
sich ändern. Menschen nicht.
Er fing einen Blick des Alondras auf, der ihm zu verstehen gab,
daß dies sein Speisezimmer war und kein Ort, um
Feindseligkeiten auszutauschen, und so sagte er schnell: »Wir
werden noch genug Zeit haben, uns zu unterhalten, Ember, und was
mich betrifft, so bin ich auch gerne bereit, diese Zeit zu nutzen.
Aber jetzt sind wir hier, um zu essen. Und im Sitzen redet es sich
besser.« Sie durften Ember nicht allzu schlecht behandeln.
Langsam ging Alexander auf, welche Bedeutung dieser unangenehme
kleine Mann für ihn haben konnte: Denn wenn Ember wußte,
wo die Krone war, und wenn er sich wirklich mit Lorimanders Haus
entzweit hatte… Daß er in Ungnade gefallen war, lag
nahe, denn immerhin hatte er Loringaril in einen Krieg
gebracht… Wenn Alexander sich nun freundlich mit ihm
stellte…
Er streckte Ember die Hand hin und lächelte. Zu viele
Menschen hatten ihn in der letzten Zeit berührt, als daß
er um dieses alte Gesetz noch viel geben durfte. »Bitte seht
uns unsere allzu kalte Begrüßung nach. Ihr sagt, die
Zeiten haben sich geändert? Dann laßt uns ihnen dabei
helfen.«
Jetzt war es an Ember, ihn zu verhöhnen und zu
demütigen, die Hand in der Luft verharren zu lassen - doch
Ember nahm die Hand, zögernd und vorsichtig wie etwas
Zerbrechliches. Alexander schauderte, und er schluckte ein
Gefühl des Ekels hinunter. Embers Finger waren sehr weich, als
fehle in ihren Spitzen der Knochen, und sie waren klamm und
schwitzig. Es war gut. Sollte Ember doch nervös sein! Doch das
Gesicht des Mannes verriet nichts davon.
Erleichtert atmete Alexander auf, als Ember seine Hand wieder
losließ. Die junge Haut brannte und juckte. Alexander zwang
sich, sie nicht wieder anzustarren - jeder würde es sehen. Es
war schlimm genug, daß Embers Fingerspitzen die Narben
berührt hatten, daß er sie nicht länger geheim
halten konnte… Warum nur gab es hier keine Handschuhe
für ihn? Jetzt würden sie sich zu Tisch setzen, und jeder
konnte ihm auf die Hände starren… Sie juckten und
brannten und schmerzten gleichzeitig, obwohl er sie jeden Tag mit
der stinkenden Paste einrieb, die ihm der Heiler gegeben hatte -
sie wurden zum Heilen gezwungen, doch Alexander wußte,
daß sie in Wirklichkeit bluten wollten.
»Nehmt Platz, wo immer Ihr wollt«, sagte der Alondras.
»Das Essen wird jeden Moment hereingetragen.«
Draußen wurde es langsam dunkel. Mit einem Span zündete
der Richter die Kerzen auf dem Tisch an, und diesen Moment nutzte
Alexander, um unbeobachtet seine Hand am Saum seines Unterkleides
abzuwischen. Danach fühlte er sich ein wenig besser. Halan sah
zu ihm hinüber, und Alexander legte die Hände schnell
wieder auf den Tisch, die Handflächen nach unten gekehrt - die
Narben auf seinen Handrücken stammten noch von den
Schwänen und fielen nicht so sehr auf. Mit dem Fuß
versuchte Alexander unter dem Tisch Halan anzustoßen, der ihm
gegenübersaß, doch seine Beine waren zu kurz, und Halan
hatte wie üblich seine Füße unter den Stuhl
geschoben - so konnte er ihn nur anlächeln und sich ansonsten
wünschen, mit dem Alondras zu seiner Linken und Ember zu
seiner Rechten möglichst fruchtbare Gespräche zu
führen - und er hoffte auf ein kleines bißchen
Ungerechtigkeit und ein Essen, das besser war als das, mit dem die
Arbeiter in den Speisesälen abgespeist wurden.
Zumindest dieser Wunsch schien sich zu erfüllen, auch wenn
der Alondras die Speise vorlegte mit einem Gesicht, als wolle er
sich für ihre Qualität entschuldigen.
Das Essen war exzellent - ohne jeden Zweifel das Beste, das sie
seit ihrem Aufbruch aus Lomar bekommen hatten, wenn nicht sogar
noch besser als dort - denn es machte nicht den Eindruck, als habe
es den Weg von der Küche auf den Tisch allein und
dementsprechend langsam zurücklegen müssen. Gebratenes
Geflügelfleisch in einer cremigen Sahnesoße, mit Pfeffer
und Weißwein abgeschmeckt, dazu Nudeln - schon der Geruch war
betörend. Aber Alexander zögerte, als er das erste
Stück Fleisch aufspießte, und er blickte Halan fragend
an. Halan schüttelte leicht den Kopf, nicht verneinend,
sondern verwirrt. Alexander schnitt ein Stück Fleisch ab und
deutete darauf - es durfte nur Huhn sein oder Pute. Wenn der
Alondras versuchte, ihnen eine Falle zu stellen und sie gebratenen
Schwan essen ließ, waren sie verloren für alle Zeit.
Natürlich mußten Schwäne auch hier heilig sein -
Tolimander war schwanengeflügelt wie Korisander - doch
vielleicht war es ungerecht, den Schwan zu erhöhen
gegenüber den anderen Vögeln… Doch Halan schien
ihn nicht zu verstehen, Halan, der doch sonst so mißtrauisch
und vorsichtig war, aß mit kleinen Bissen, als ob von dieser
Mahlzeit keinerlei Gefahr ausging.
»Ihr könnt es bedenkenlos essen«, flüsterte
Ember an seiner Seite. »Es ist Huhn. Auch in Landalon gelten
die Gesetze.«
Alexander nickte dankbar, hoffend, daß der Alondras nicht
gehört hatte, und hatte den Happen schon halb zum Mund
geführt, als ihm einfiel, daß auch Ember ihn vielleicht
zu betrügen suchte. Eilig legte er die Gabel wieder ab und
nippte an seinem Wein. Er mochte weißen Wein nicht allzu
gern; der Geschmack war immer einen Hauch zu sauer für seinen
Gaumen.
»Vertraut mir«, zischte Ember. »Warum sollte ich
Euch belügen? Auch für mich gelten die
Gesetze.«
Alexander biß die Lippen zusammen. Leichter Zorn grollte in
ihm, weil es Ember sein mußte, der ihn verstand, und nicht
Halan, doch er zwang sich, das Gefühl zu unterdrücken.
Immer noch zaghaft nahm er das Fleisch in den Mund. Es war Huhn.
Den Geschmack von Schwanenfleisch hätte Alexander sofort
erkannt, und er war froh, niemals im Leben wieder davon essen zu
müssen. Das nächste gebratene Schwanenfleisch sollte es
in Koristan erst wieder zu Alexanders Tod geben… Alexander
besann sich wieder auf seine Rolle als Gast, und daß er nett
zu Ember sein wollte. Er hob den Kopf und strahlte in die Runde.
»Es ist ganz und gar vorzüglich«, sagte er.
»Dieses Land ist gesegnet mit Köchen, die ihr Handwerk
verstehen.«
Der Alondras erwiderte sein Lächeln mit einem freundlichen
Nicken, aber davon kam noch immer nichts zustande, was man als
Unterhaltung hätte bezeichnen können. Es gab zu viele
Fragen, die Alexander auf der Zunge brannten und die er nicht ohne
weiteres stellen konnte, nicht ohne geschickte Überleitung:
Warum der Alondras zwar mit ihnen und Ember aß, aber ohne
Familie - wenn er schon keine Frau hatte, dann brauchte er doch
zumindest einen Thronfolger - selbst hier war es doch wichtig, das
Engelsblut von Generation zu Generation weiterzugeben. Aber zu
fragen war unhöflich, ehe nicht der Alondras selbst Fragen zu
stellen begann… Alexander aß Huhn und Nudeln, und
schwieg.
Er nippte noch einmal von seinem Wein, bewegte ihn mit der Zunge
im Mund, und dann, er wußte selbst nicht, warum er das tat,
hob er das Glas, lächelte in die Runde und sagte: »Ary
an Asamara.« Auf Eure Seelen… Damianders
Trinkspruch…
Halan schluckte, hustete und ließ seine Gabel fallen. Mit
Augen, weit aufgerissen vor Entsetzen oder Ersticken, und bleichen
Wangen starrte er ihn an. Alexander konnte ihm nicht sagen, wie
bezaubernd er in diesem Moment aussah, aber er konnte den
Augenblick noch ein wenig auskosten, indem er nickte, das Glas noch
eine Spur weiter hob und in der Gemeinsprache die Worte
wiederholte, so daß auch Ember sie verstehen konnte:
»Auf Eure Seelen.«
Dann nahm er einen Schluck, stellte das Glas ab, und begann
endlich, sich über sich selbst zu wundern. Warum dieser
Spruch? Ganz bestimmt wollte er dem Alondras nichts von den beiden
unbekannten Engeln erzählen; das sollte der selbst
herausfinden, wenn er es unbedingt wissen wollte… Alexander
versuchte, sich den Alondras in Damianders Haus vorzustellen,
nackt…
Und merkte plötzlich, daß ihn alle anstarrten.
»Welch ein… interessanter Spruch«, sagte Ember
langsam. »Und gern will ich ihn erwidern.«
Der Alondras lächelte ein Lächeln, das ebenso viel- wie
nichtssagend war. Alexander versuchte es sich einzuprägen -
ein guter Gesichtsausdruck für einen weisen Herrscher.
»Ein Trinkspruch«, sagte der Alondras, »ist das
Letzte, was ich von Korisanders Erben erwartet
hätte.«
Aber diesmal ließ Alexander sich nicht einschüchtern,
fing nicht an zu glauben, bei einer Prüfung durchgefallen zu
sein. Er wußte, daß an diesem Abend kein brauchbares
Gespräch zustande kommen würde, und ihm war seltsam
leicht ums Herz. »Wir sind nicht als Korisanders Erben hier,
das habt Ihr selbst oft genug betont. Was also immer wir auch statt
dessen sein mögen - Ihr wollt uns nicht absprechen, daß
wir alle, alle vier, die wir hier sitzen, eine Seele besitzen? Und
ich kenne nichts höheres, auf das ich würde trinken
mögen.«
Das gewünschte Gespräch war ohnehin
überflüssig. Sie wollten dem Alondras sagen, das sie
verfolgt wurden? Ihn fragen, wem das weiße Pferd
gehörte? Die Antwort saß links von Alexander. Von
Damiander und dem Engel der Träume erzählen? Das glaubte
doch nicht einmal Halan. Um die Anerkennung des Alondras buhlen?
Das führte zu nichts, dieses Stadium hatten sie hinter sich.
Für Alexander konnte es an diesem Abend nur noch ein Ziel
geben: Halan. Niemand anderem galten Damianders Worte. Wenn Halan
nur noch etwas mehr von diesem Wein trank… Alexander
wußte, wie sehr Halan ihn liebte, aber seine Seele wollte
nicht nur erobert, sie wollte betäubt sein, bevor sie seine
Liebe zuließ.
Vorsichtig betrachtete Alexander Halan. Mit den Augen: Er hatte
seine Gabel wieder aufgenommen und aß weiter, als sei nichts
gesagt oder geschehen. Unberührt stand sein Weinglas vor ihm.
Und mit dem Herzen: Aber da gab es nichts zu beobachten. Halans
Gefühle lagen so tief und verschlossen wie je.
Alexander seufzte leise bei sich, und trank sein Glas leer.
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