Zehntes Kapitel

Draußen regnete es. Wenigstens das war angenehm - bei Regen war es nicht ganz so unerträglich, gefangen zu sein. Und zugleich erinnerte der Regen Roveen an eine Heimat, die sie niemals gesehen hatte. In Lomar regnete es nur selten, und wenn, dann entlud der Himmel sein Wasser mit Donnern und Blitzen und mächtigem Sturm - in Koristir dagegen regnete es nur.
Gaell trat hinter sie. »Astarka«, sagte sie leise. »Starr nicht immerzu aus dem Fenster. Erzähl weiter!«
Roveen war froh, in diesem Moment in den Regen zu blicken und nicht in das Gesicht ihrer Freundin - dieses Lächeln wollte sie für sich behalten. Astarka… Gaell sprach das Wort immer ein klein wenig falsch aus, versuchte verzweifelt, das R zu gurgeln, wo sie es hätte weich rollen müssen - aber sie benutzte das Wort, oft und gerne. Roveen hatte ihr gesagt, es bedeute Herzensschwester, und das tat es auch - unter anderem. Immer noch lächelnd, drehte Roveen sich um.
»Was willst du hören?«
»Elandor«, antwortete Gaell und seufzte verzückt.
Auch Roveen seufzte, wenn auch weniger begeistert. Sie hatte genug von Elandor, dem kraftstrotzenden Recken mit den nimmermüden Lenden. Es war kaum noch etwas übrig von ihrer eigentlichen Geschichte: Von der Herrin, die alle Männer aus ihrem Schloß verbannte und die sich nur noch mit Frauen umgab - es sollte eine schaurige Geschichte werden, mit Geistern, Geheimnissen und unerklärlichen Todesfällen. Doch kaum durfte Gaell einmal den Faden weiterspinnen, kam in einer Gewitternacht Elandor geritten, verstaute seinen feurigen schwarzen Hengst zwischen den Stuten im Stall und machte sich daran, in dem männerverlassenen Schloß eine Frau nach der anderen aufzusuchen… alle, bis auf die Herrin. Elandors Abenteuer bevölkerten den Wandteppich; Gaell wurde nicht müde, immer neue Geschichten um ihren Helden zu fordern und in Bilder umzusetzen. Der Teppich war ein Kunstwerk, das stand außer Frage - doch es gelang Roveen nicht, sich denjenigen vorzustellen, der ihn in seine Halle hängen würde. In diesem Land sicher keiner.
Roveen schüttelte den Kopf. »Nein, bitte nicht - mein Kopf ist völlig ausgetrocknet.« Wie lange waren sie jetzt schon gefangen? Einen Monat, zwei Monate? Zwei Monate, seit sie den letzten Mann gesehen hatten - was für Roveen eine durchaus angenehme Erholung war, konnte Gaell nur schlecht ertragen, wenn überhaupt. Selbst ihr Gedächtnis schien darunter zu leiden. In den letzten Bildern hatte der arme Elandor immer groteskere Formen angenommen - daß er noch gehen konnte ohne umzufallen, war ein Wunder.
Gaell verzog das Gesicht. »Na, dann erzähle ich eben weiter, wenn es sein muß.«
»Nein!« Roveen staunte selbst über diesen schrillen, unfreundlichen Ton in ihrer Stimme. »Ich mag nichts hören! Und ich mag auch nicht mehr sticken!«
»Oh, nicht schon wieder«, maulte Gaell. »Du hattest deine Tage gerade erst.«
»Ich habe nicht meine Tage!« fuhr Roveen sie an. »Aber ich kann Elandor nicht mehr ertragen! Und dich auch nicht! Bist du nicht in der Lage, auch nur einen Tag lang an etwas anderes zu denken als Kerle?« Es war nicht ihr erster Streit, seit sie hier waren, und sicher auch nicht ihr letzter - manchmal wünschte sich Roveen, einfach nur das Fenster aufzumachen und hinauszuspringen, solange die Sonne schien - und wie und wo sie dann landete, war egal. Hauptsache, sie mußte Gaell und Elandor und dieses Zimmer nie wieder sehen… Sie schüttelte den Kopf. »Ach, es tut mir leid.«
Gaell konnte nichts dafür. Sie war nun einmal, was sie war - nicht halb so dumm, wie sie den Männern vorspielte, doch das war auch schon der einzige Unterschied. Roveen hatte die Hoffnung aufgegeben, daß in der Abgeschiedenheit ihres Gefängnisses das zum Vorschein kommen würde, was sie für die echte Gaell hielt - ihre Mehr-als-Herzensschwester, die Freundin, die es wert war, solch einen Lebensweg einzuschlagen, eine Konkubine zu werden…
»Manchmal bist du wirklich eine Ziege«, hielt Gaell ihr entgegen. »Mäh, mäh, mäh.« Dann kräuselten sich ihre Lippen amüsiert, und Roveen, die wußte, daß als nächstes eine Anspielung auf besonders bockige Ziegenböcke kommen mußte, floh zurück zum Fenster.
Der Regen war vorüber. Auch das noch.
Die Tür erlöste Roveen, als der Schlüssel sich im Schloß drehte. Roveen fuhr herum, hektischer als sonst - es war nicht so ungewöhnlich, daß jemand hereinkam. Jeden Tag brachten die Frauen etwas zu essen, und frisches Wasser… Aber niemals in all den Wochen kam die Sirahë selbst. Die Sirahë, die nun ihm Türrahmen stand.
»Gute Morgen«, sagte sie - war es Morgen? Roveen hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Vielleicht war es noch Morgen. Aber es war auch egal.
»Was wollt Ihr?« fragte Roveen schroff. Gaell sagte nichts, lächelte vor sich hin, spielte mit einer Haarsträhne und strich mit der anderen Hand den Wandteppich glatt.
Die Sirahë senkte den Blick, wie ein schüchternes Mädchen. »Ich benötige die Hilfe von einer von Euch beiden.«
»Oh«, quietschte Gaell. »Hast du gehört? Sie braucht Hilfe!« Sie machten es immer so, wenn eine Dritte in ihr Reich drang, redeten über sie, doch niemals wirklich mit ihr - aber in diesem Moment hätte Roveen Gaell die süßen blauen Augen auskratzen mögen. Die Verlegenheit der Sirahë war nur gespielt, so aufgesetzt wie Gaells Verhalten - aber zugleich sah die Sirahë aus wie jemand, der wirklich Hilfe brauchen konnte.
Sie wirkte so viel älter als bei ihrem letzten Treffen, daß Roveen sich unwillkürlich fragte, ob sie wirklich erst seit zwei Monaten hier waren, und wie alt sie selbst aussehen mochte.
»Hilfe wobei?« fragte sie zurück.
»Das werde ich Euch noch erklären - werdet Ihr mit mir kommen?«
Roveen warf Gaell einen kurzen Blick zu - so respektvoll? Die Frau mußte wirklich Probleme haben - aber Gaells Augen antworteten nicht, bargen nur Spott für diese Frau. Roveen nickte. Sie mochte die Sirahë nicht, jetzt nicht mehr als früher, doch dies war eine Möglichkeit, aus diesem Zimmer herauszukommen - Herauskommen! Aus diesem Zimmer! - und dafür war Roveen bereit, ihre Seele zu geben.
Gaell blickte ihr seltsam nach, als sie an der Seite der Sirahë das Zimmer verließ. Wie einer Verräterin… Roveen lächelte.
Während sie durch die Gänge hasteten, verlor die Sirahë keine weiteren Worte, keine Erklärungen. Sie ging direkt in der Mitte der Flures, folgte der Linie zwischen den Bodenfliesen, als würde sie an einer Schnur gezogen. Ihre Schritte waren schnell, zu schnell für Roveen, die sich wochenlang kaum bewegt hatte und dazu noch mit ihrem langen Kleid kämpfen mußte. Sie Sirahë hatte gut reden; sie trug weite Hosen, die mit jedem Schritt ein unangenehm scheuerndes Geräusch verursachten, bösartig im Vergleich zum freundlichen Rascheln von Unterröcken… Ganz sicher brauchte die Sirahë Hilfe. Roveen fragte sich, warum sie die noch von niemand anderem bekommen hatte.
Mit beiden Händen ihre Röcke haltend, hetzte Roveen hinter der anderen Frau her, und mit jedem Schritt bereute sie mehr, auf das Angebot eingegangen zu sein, das Zimmer verlassen zu haben. Sie hatte nicht viel von diesem Schloß wahrgenommen, bevor man sie gefangennahm, und danach nur das, was sie vom Fenster aus sehen konnte - aber was sie nun sah, gefiel ihr nicht. Es war nicht häßlich - es war kalt. Roveen mochte das Schloß nicht. Und diese Abneigung war gegenseitig. Mehr noch - was Roveen spürte, schien auch für die Sirahë gelten. Roveen hatte vieles lernen müssen, um Konkubine zu werden, aber wenn eines davon wichtig war, dann, wie man in den Körpern und Bewegungen anderer Menschen las. Natürlich ging es um den Umgang mit Männern. Aber in diesem Punkt waren Männer und Frauen ohne Unterschied… Roveen lächelte. Die Sirahë hatte ihr schon viel verraten, auch ohne ein Wort zu sagen.
»Es will Euch nicht haben, nicht wahr?« flüsterte sie.
»Was?« Die Sirahë blieb stehen, fragte nur irritiert und kurz angebunden über die Schulter.
»Das Schloß akzeptiert euch nicht als seine Herrin. Das ist es doch, nicht wahr? Das Schloß, und wenn schon das Schloß nicht, dann auch nicht das Volk -«
»Schweigt zu Dingen, von denen Ihr nichts versteht!«
»Oh, das tue ich…« Roveen blieb stehen, um zu Atem zu kommen, ihre Röcke zu sortieren und eine störrische Strähne aus ihrem Gesicht zu streichen. »Das tue ich.«
Die Sirahë blieb stehen und fuhr herum. Ihre Augen blitzten auf. Dann begann sie zu lachen. »Mein Sohn liest die Gefühle der Menschen, Ihr lest die Gefühle des Palastes - jedem das seine; was mich betrifft, ich möchte keines von beiden kennen. Aber keine Sorge. Wir sind gleich da.«

Das Zimmer der Sirahë war eine Insel in der Kälte. Ein kleines Vorzimmer führte durch einen Vorhang in ein gemütliches, holzgetäfeltes Schlafzimmer, in dem alles groß und einladend wirkte - die Fensternische, der Kamin, in dem ein überschwengliches Feuer prasselte, das Bett mit den schweren Vorhängen… Roveen stutzte.
Ganz offensichtlich war das Vorzimmer darauf ausgerichtet, Besucher zu empfangen. Nichtsdestotrotz nahm die Sirahë sie direkt mit ins Schlafzimmer. Roveen hob eine Augenbraue, doch sie sagte nichts.
»Setzt Euch schon einmal«, sagte die Sirahë und deutete auf die Bänke in der Fensternische. »Ihr mögt Tee, hoffe ich?«
Roveen nickte. In diesem Zimmer war etwas Einschüchterndes, aber etwas völlig anderes als im Rest des Schlosses. Man merkte es nicht sofort, es war nicht wie die aggressive Kälte in den Gängen, es war eine warme Macht. Als hätten die Generationen von Frauen, die hier vor der Sirahë gelebt hatten, ihre Seelen an keinem anderen Ort ausbreiten können, war dieser Raum voll von ihnen. Bestickte Kissen lagen auf der Fensterbank, ihre Farben zu einem matschigen Gelb verschossen von den vielen Jahren im Sonnenlicht. Roveen mußte wieder an die Kiste mit dem Stickzeug denken, an den Haufen alten, muffigen Stoffes. Die Sirahë stickte nicht. Aber auch sie hatte ihr Siegel im Wachs dieses Zimmers hinterlassen. Die Kunst der Sirahë lag in den Kräutern. Roveen konnte die Gerüche nicht auseinanderhalten, konnte den Büscheln getrockneter Blätter keine Namen geben. Ihre Mutter hatte sie vieles gelehrt, doch die Pflanzen hatte sie für sich behalten… Es war auch kein Wissen, nach dem es Roveen dürstete.
Das Kissen war flach und durchgesessen, aber bequem. Roveen schlug die Beine übereinander, sortierte ihre Röcke und lehnte sich zurück. So sah sie entspannt aus und selbstsicher und war doch bereit, jeden Moment aufzuspringen. Eine Konkubine wußte zuviel über Frauen, um einer zu vertrauen. Natürlich gab es Ausnahmen: Ihre Mutter, zum Beispiel, oder - in Maßen - Gaell. Die Sirahë gehörte nicht dazu.
»Ihr sagtet, Ihr benötigt Hilfe?« fragte Roveen distanziert. Die unangenehmen und wichtigen Fragen stellte sie lieber, solange die andere Frau am fernen Ende des Raumes mit ihrem Teewasser beschäftigt war, als wenn sie ihr direkt gegenüber saß. »Und wenn ich’s tue?«
Die Sirahë zuckte die Schultern. »Habt Ihr mir geholfen.«
»Und ihr werdet uns freilassen?«
»Nein.«
Roveen pfiff durch die Zähne. Das war eine Antwort, mit der sie nicht gerechnet hatte. »Ihr könntet es zumindest versprechen, ganz gleich, ob Ihr -«
»Warum sollte ich lügen?«
»Warum sollte ich Euch helfen?«
»Um eine Abwechslung zu haben. Um mehr als drei Schritte tun zu können, ohne gegen eine Wand zu stoßen. Um eine Rolle zu spielen, die Euch angemessen ist.« Die Sirahë drehte sich um, redete endlich mit Roveen und nicht mehr mit ihrem Teekessel.
Es gab nur wenige Menschen, die Roveen fürchtete. Zu ihrem Beruf gehörte, sich niemals einschüchtern zu lassen - der Unterschied zwischen einer Konkubine und einer Hure war, daß niemand weniger wert war als eine Hure, und niemand mehr als eine Konkubine. Konkubinen wählten ihr Amt aus freien Stücken, doch war es immer nötig, sich diese Unterscheidung vor Augen zu rufen, wollte man nicht alles Selbstwertgefühl verlieren. In diesem Moment, in dem Roveen der Sirahë ins Gesicht blickte, war es nötiger als in allen anderen. Roveen konnte nicht beschreiben, was sie in den Augen der Sirahë sah - sie hatte es noch nie zuvor an einem Menschen gesehen - Roveen wußte nicht, was es war. Aber sie wußte, daß es einen Kampf geben mußte. Nicht mit Fäusten, und nicht sofort, aber… einen Kampf.
Und so stand Roveen auf und blickte die Sirahë an und sagte: »Ihr habt keine Macht über mich, Sirahë. Ihr habt Macht über meinen Körper, aber nun, das hatten schon andere vor Euch. Macht über meine Seele werdet ihr niemals erlangen.« Es war nicht das erste Mal, daß sie diese Worte sprach - manchmal waren sie nur allzu nötig. Es waren gute Worte.
Doch die Sirahë schüttelte den Kopf, bedeutete ihr, sich wieder hinzusetzen, und hielt ihr eine Teeschale hin. Das Unbenennbare war aus ihren Augen verschwunden. Erst jetzt konnte Roveen den Gedanken zuende fassen: Nämlich, daß die Sirahë etwas von einem Engel hatte. Zumindest für den Moment.
»Nutzt diesen Satz nicht an mir ab. Dies ist Koristir. Wir haben hier schon beileibe genug Worte.« Die Sirahë wirkte gelöster, als sie an ihrem Tee nippte.
Roveen zögerte, bevor sie trank. »Aber das ist etwas, das Ihr braucht«, sagte sie leise. »Jemanden zum reden. Das meint Ihr doch mit Hilfe, nicht wahr? Mit Euren Hofdamen könnt Ihr nicht viel anfangen. Die Engelsgeborenen haben diesen Ort verlassen. Euer Mann ist tot.« Sie ging nicht auf den kurzen scharfen Blick ihres Gegenübers ein, aber sie registrierte ihn. »Aber eine Konkubine - das ist eine interessante Frau. Und geschult im geduldigen Zuhören. Also - wenn ich Euch damit helfe - redet.«
Die Sirahë schwieg. Ihre Knie berührten Roveens. Der Fenstersitz sah auf seine wuchtige Art größer aus, als er eigentlich war - er mußte aus einer Zeit stammen, als die Frauen noch kleiner waren. Weder Roveen noch die Sirahë waren übermäßig groß. Die hochgewachsenen Engelsgeborenen wären niemals unter dem Türsturz durchgekommen - kein Engelsgeborener würde sich jemals bücken. Dies war ein Frauenzimmer.
Die Sirahë schwieg, doch schien es nicht aus Verlegenheit zu entstehen, oder weil sie sich überrumpelt und enttarnt fühlte. Es war mehr ein abwartendes Schweigen. Was würde als nächstes kommen?
Nichts. Die Sirahë sagte nichts. Offenbar wollte sie, daß Roveen weiterredete. Das konnten sie jetzt noch länger ausreizen, aber nach den Wochen der Gefangenschaft fehlte Roveen hierzu die Geduld.
»Warum wollt Ihr uns nicht freilassen?«
»Wollt Ihr in den Krieg ziehen?« fragte die Sirahë zurück.
Diesmal war es an Roveen, sie wortlos anzublicken.
»Habt Ihr Euch das noch nicht gedacht? Doubladir hat Loringaril das Krieg erklärt - das konnten sie sich nicht entgehen lassen. Wenn Ihr nach Lomar zurückkehrt, schwebt Ihr in Gefahr.«
Roveen bemühte sich um ein müdes Lächeln, um sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. »So besorgt seid Ihr um uns, daß Ihr uns lieber einsperrt?« Sie schüttelte den Kopf.
Die Sirahë zuckte die Schultern. »Ihr wolltet eine Erklärung.«
Während die Schloßherrin immer gelöster wirkte, griff Beklommenheit nach Roveen. Was war das für ein Spiel? Die Sirahë wollte sich nicht unterhalten, wollte nichts von dem, was Roveen zu bieten bereit war - aber was wollte sie? Bei allen Engeln, was wollte sie?
»Fürchtet Ihr mich?« fragte die Sirahë leise.
Roveen schüttelte den Kopf, aber sie wußte es nicht. Das war das Schlimmste. Sie konnte Menschen einschätzen, sie verstehen, sich auf die einstellen. Sie hatte den Prinzen ertragen, sie hatte Ember ertragen und Gaell in ihren schlimmsten Momenten - aber vor dieser Frau wollte sie wegrennen.
»Ihr solltet mich fürchten«, sagte die Sirahë.
»Hilft Euch das?« fragte Roveen zurück. »Vielleicht solltet Ihr mich fürchten?«
»Nein«, sagte die Sirahë.
»Dann fürchte ich Euch auch nicht.«
Sie tranken ihren Tee, der inzwischen nur noch lauwarm war. Roveen hatte nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verging, wenn man nichts tat als Katz und Maus spielen. Es war fremd. Es war gräßlich. Und irgendwie war es spannend.
»Also gut«, sagte die Sirahë. »Ich sehe, Ihr laßt Euch nicht so schnell unterkriegen, aber Ihr seid noch zu leicht zu verwirren, daran müssen wir arbeiten.«
»Was?« entfuhr es Roveen. Dieser Wechsel kam zu plötzlich.
»Genau das meine ich. Aber ich denke, ich kann mit Euch arbeiten.«
Diesmal sagte Roveen nichts. Sie konnte den Spieß auch umdrehen.
»Wie gut«, fragte die Sirahë, »kennt Ihr Euch mit den politischen Strukturen Koristans aus?«
Die Frage gefiel Roveen. Es gab allzu viele Menschen, die sich nicht vorstellen konnten, daß eine Konkubine etwas anderes wußte, als wie man hohen Herrschaften zu Diensten war. Aber Konkubinen waren mächtiger, je dümmer und harmloser man sie hielt… Roveen würde sich hüten, zuviel von sich zu verraten. So antwortete sie nur: »Gut genug, um zu wissen, daß Ihr an seiner Spitze nichts zu suchen habt.«
Die Sirahë schoß vorwärts, schneller als Roveen sie kommen sah oder ausweichen konnte. Doch ihr Schlag war nicht fest, schien noch im letzten Moment abzubremsen, als die Handfläche Roveens Wange berührte. Es tat nicht weh, aber Roveen schnappte nach Luft, vor Schreck. Und die Sirahë ebenfalls. Einen Moment lang starrten beide Frauen sich an. Einen Moment lang waren ihre Gesichter offen, maskenlos, und Roveen sah Entsetzen, Angst, Verlassenheit, Wut… Es war ein zäher, langer Moment. Ihre Bewegungen waren langsam, wie unter Wasser, als Roveen die Hand hob, nicht, um zurückzuschlagen, sondern um ihre Wange zu berühren. Verschiedene Menschen hatten diese Wange schon geschlagen - niemanden außer Gaell schlug Roveen zurück. Doch ihre Hand ging ihren eigenen Weg, schwebte hin zu dem anderen Gesicht, das so nah vor ihrem hing. Ihre Fingerspitzen berührten die Wange der anderen Frau. Kalte Haut, und direkt darunter die harten Muskeln zusammengebissener Zähne. Roveen zog ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.
Die Sirahë senkte den Blick. »Das wollte ich nicht.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Roveen. Und es stimmte.
»Ich habe den Tee verschüttet. Seid Ihr naß geworden?«
»Macht Euch darum keine Sorgen.« Macht Euch lieber Sorgen um Euch selbst. »Macht Euch lieber Sorgen um Euch selbst.« Nun sagte sie es doch. »Beherrscht Ihr dieses Land, indem Ihr Euch beherrscht?«
Die Sirahë antwortete nicht. Doch obwohl diese Worte härten, grausamer waren als die letzten, schlug sie nicht noch einmal zu.
Roveen stand auf und ging zu dem monströsen Bett hinüber. »Kommt her«, sagte sie ruhig. »Legt Euch hin. Ihr seht nicht aus, als ob Ihr das oft genug tut. Ihr wollt meine Hilfe? Ihr wollt mindestens drei verschiedene Arten, wie ich Euch helfen soll, aber Ihr könnt Euch nicht für eine entscheiden.« Ihr Rock klebte am Bein. Der Tee hatte auch sie getroffen… »Nun kommt schon, legt Euch hin. Oder wollt Ihr keine Hilfe?«
Die Frau auf der Fensterbank rührte sich nicht, stand nicht auf, sah nicht zu Roveen hin. Roveen hockte sich auf die Bettkante. Sie seufzte.
»Die politische Struktur von Koristan«, begann sie und versuchte, sich zu erinnern, wie genau es aussah. »Koristan ist ein lächerlich kleines Land, aber dennoch ist es noch einmal unterteilt in acht Grafschaften. Die Grafen haben kaum Macht außer ihren Namen… und sie sind in erster Linie dazu da, sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Die eigentliche Macht liegt beim König, der mächtigste sterblich geborene Mann… ist der Richter.« Roveen hatte ihre Lektion gelernt, für zwei zugehört, weil Gaell sich langweilte und nicht aufmerksam war. Sie lehnte sich zurück. »Glaubt mir, ich weiß soviel über dieses Land, wie man in einem halben Nachmittag lernen kann. Aber Ihr habt Probleme, bei denen Ihr Hilfe braucht, und Ihr wollt nicht mein Wissen abfragen. Worum geht es? Wollen die Grafen nicht so wie ihr?«
Die Sirahë saß wie versteinert. Ihre Augen waren auf das Fenster gerichtet, aber Roveen sah ihr Spiegelbild, sah, daß sie das Glas nicht durchdrangen. So beobachtete die Sirahë sie.
»Bitte«, sagte Roveen. »Bitte, hört mit dem Versteckspielen auf. Ich habe gerade mehr von mir verraten, als ich jemals gedurft hätte -« Aber sie durfte es jetzt, denn dies war der Moment, in dem Roveen begriff, daß sie wirklich nicht nach Loringaril zurückkehren würde, und auch nicht nach Indiradin - daß ihr Schicksal sie an die Seite dieser Frau verschlagen hatte, und warum. Roveen wurde kalt. Trotzdem flehte sie: »Bitte, kommt zu mir!« Und immer noch diese beobachtenden Augen im Fenster.
Roveen hatte Angst. Und die Sirahë? Wahrscheinlich auch. Roveen mußte wieder an ihre Mutter denken, wie immer, wenn sie Angst hatte… Wenn du glaubst, jemand will dir etwas zuleide tun, versuch nicht wegzurennen. Das bringt dich nur in Gefahr. Rede auf ihn ein, schneller als du rennen könntest. Dann sind ihre Gedanken wie gelähmt. Wegrennen mußt du allein vor dem Feuer. Mit Feuer kann man nicht reden… Der verzweifelte Versuch, einer Tochter Ratschläge zu geben, die sich entschlossen hatte, Konkubine zu werden. Ihre Mutter war eine Ausländerin. Sie hatte nie begriffen, daß Konkubine ein großer, angesehener Beruf war… Roveen fühlte sich erbärmlich. Doch sie hörte auf ihre Mutter.
»Wenn es darum geht, die Grafen zu betören, damit sie Euch besser gesonnen sind - versucht es selbst und seht, wieviel Vergnügen es macht. Ich kann Euch helfen, Euch passend zu kleiden - ohnehin würde es Euch nicht schaden, ein paar Ratschläge zu beherzigen, was Euer Äußeres angeht. Ihr seid immer noch eine wunderschöne Frau, aber Ihr herrscht über dieses Land - das soll man doch auch sehen können!«
Roveen holte Luft. Die Sirahë hörte zu, den Blick weiter abgewandt. ‘Hörte zu’ war immer noch besser als ‘schoß vorwärts, um Roveen zu schlagen’. Ihre Hände hielt sie im Schoß gefaltet; die eine schien die andere zu erwürgen. Roveen redete weiter: »Wenn Ihr Angst habt, Euer Gesicht vor den Grafen zu verlieren, wenn Ihr sie selbst umschmeichelt - dann schickt Gaell, sie hat Vergnügen daran. Ihr betrachtet es noch als Demütigung, aber wir haben gelernt, die Macht darin zu sehen.«
Noch immer saß die Sirahë reglos, lauernd. Und doch hatte Roveen das Gefühl, das Richtige zu tun. Diese Frau lebte hier seit Jahren, umgeben von Wörtern - und nur mit Wörtern war ihr beizukommen. »Gaell ist großartig, das werdet Ihr sehen. Ich bin es auch, aber mich solltet Ihr anders nutzen, als Freundin. Ihr wollt mir Dinge erzählen, die mich zu einer Gefahr machen würden, für Euch oder das Land, und Ihre ringt mit Euch, denn wenn Ihr es nicht tut, geht Ihr ein, Ihr seid auf dem besten Weg, aber wenn Ihr es tut, müßtet Ihr mich töten - Ihr seid so dumm!« Wie weit war es bis zu Tür? Wie schnell konnte Roveen rennen, wenn sie jetzt aufsprang? Wie schnell die Sirahë? »Warum, glaubt ihr denn, sollte ich Euch verraten? Und an wen? Gaell? Wenn sie nicht selbst herausfindet, daß Ihr Eurem Sohn die Krone gestohlen habt -«
Da. Es war gesagt. Es war gesagt, und Roveen lebte noch. Roveen lebte noch, und die Sirahë saß auf ihrem Platz am Fenster und schaute sie an. Ihr Gesicht war wieder seltsam. Roveen hoffte, daß es erleichtert war. Es mußte erleichtert sein. Was auch sonst?
Ihre Stimme war tonlos, als die Sirahë fragte: »Wie kommt Ihr darauf?« Nicht ‘Woher wißt Ihr es?’, aber nahe genug daran.
Roveen blieb ruhig. Dies war der Moment, in dem sie entweder bereits gewonnen hatte oder bereits tot war. Jetzt mußte sie keine Angst mehr haben. »Ihr habt uns nie verhört«, sagte sie. »Ihr habt versucht, uns auszuspionieren - aber Ihr habt uns nie zum Verschwinden der Krone befragt. Warum nicht? Ihr seid im Moment hier anstelle des Königs, und Ihr müßt jeder Spur nachgehen. Jeder hat doch geglaubt, daß Ember und der Prinz sie gestohlen haben. Davon hätten wir gewußt… aber Ihr habt es trotzdem nie für nötig gehalten, uns zu vernehmen.«
»Und das ist alles?« fragte die Sirahë leise.
»Mir genügt es«, erwiderte Roveen. »Ich stelle keine allzu hohen Ansprüche an die Wahrheit.«
Die Sirahë lächelte, traurig, nicht triumphierend. Sie stand auf, schob die Kissen von der Fensterbank und öffnete die hohen Flügel des Fensters - was sie sehr anzustrengen schien, als sei dies eine Aufgabe für Männer, als sei das Fenster seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Kühle feuchte Luft drang in das Zimmer, zog durch den Vorhang zum Vorraum wieder ab und ließ Roveen frösteln.
»Dann soll es Euch genügen«, sagte die Sirahë und stieg auf die Fensterbank. Sie stieg nicht bis auf das Fensterbrett, und sie lehnte sich nicht hinaus, aber wie sie so dastand, eine zierliche Gestalt vor dem schiefergrauen Fenster, war es doch Drohung genug. Plötzlich bekam Roveen es mit einer neuen Angst zu tun - der Angst, zu weit gegangen zu sein. Zu weit nicht für sie selbst…
Eine Frau, die nicht schlief. Eine einsame, unglückliche Frau. Eine Frau, die eine Schuld auf sich geladen hatte - eine Frau, die an einem offenen Fenster stand, zu viele Stockwerke über dem Boden. Das hatte Roveen nicht gewollt, wirklich nicht.
Sie kannte das Gefühl. Manchmal war es schwer, an einem Fenster vorüberzugehen, ohne hinausspringen zu wollen. Einmal hatte Roveen oben auf den Zinnen gestanden, in Lomar, vor vielleicht drei Jahren. Sie wollte nicht springen, aber sie wollte, daß Gaell sie zurückhielt. Mehr als zwei Stunden stand sie dort und wartete. Dann stieg sie die Leitern wieder hinunter. Gaell hatte nie davon erfahren…
Sehr langsam stand Roveen auf. Sie durfte jetzt keine plötzlichen Bewegungen machen, nichts, was die Sirahë erschrecken konnte. »Wartet«, sagte sie. Was meinte sie? Wartet auf mich? Mit kleinen Schritten ging Roveen auf das Fenster zu. »Ich will Euch nicht zerstören.«
Die Sirahë stand reglos, die Hand am Fensterrahmen. Vielleicht stand sie nun noch ein wenig weiter vorne - Roveen konnte es nicht sagen. Das Fenster war beängstigend. Selbst ihr, die auf dem Boden stand, reichte seine untere Kante nur knapp bis über das Knie. Von der Fensterbank aus…
»Bitte«, sagte Roveen. »Bitte, springt nicht.«
Keine Reaktion. Roveen atmete durch, schob sich näher an die Frau und das Fenster heran, und griff zu, faßte die Sirahë beim Arm.
Die Sirahë drehte sich im gleichen Momente. Das Fenster bewegte sich auf Roveen zu mit der Geschwindigkeit eines Schwindels. Dann war der Himmel wieder über ihr. Roveen fühlte, wie sich die Fensterkante in ihren Rücken trieb. Die Sirahë hielt sie fest, daß sie nicht stürzte… Jetzt hatte sie ihr das Leben gerettet, und nicht umgekehrt.
Es dauerte noch einen Moment, bis Roveen begriff, daß die Sirahë sie festhielt. Doch sie machte keine Anstalten, sie ins Zimmer zurückzuziehen. Das Blut rauschte in Roveens Kopf beinahe lauter als die Angst.
Die Sirahë sagte etwas, doch die Worte wehten über Roveen hinweg, und sie konnte nicht antworten. Sie konnte nicht einmal schreien.
Und sie wollte es auch nicht.
Dann war sie wieder im Zimmer. Ihr Haar war naß. Es regnete wieder. Roveen weinte. Sie wollte nicht weinen. Sie weinte niemals. Sie weinte.
»Wer ist nun die Stärkere?« fragte die Sirahë. »Hast du geglaubt, ich wäre gesprungen? Glaubst du, ich hatte Angst vor dir?«
»Ich hatte Angst um Euch«, flüsterte Roveen atemlos.
»Warum hast du das getan?« fragte die Sirahë. Das Fenster war wieder geschlossen, aber nicht ganz, ein leiser Wind zog durch die Ritzen. »Wolltest du mir drohen?«
Roveen schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte nur… daß Ihr wißt… daß ich es weiß.« Warum? Damit sie damit nicht mehr alleine war? »Ihr habt den Engelsgeborenen einen bösen Streich gespielt.« Sie mußte lächeln. Vielleicht bewunderte sie die Sirahë. Welche Frau sollte sie nicht bewundern - sie, die so etwas fertiggebracht hatte?
»Und hast du nicht gedacht«, fragte die Sirahë weiter, »ich wollte dich töten?«
Roveen antwortete nicht.
»Hattest du Angst vor mir? Hast du mich gefürchtet?«
Ihre Hände lagen warm auf Roveens Schultern; ihr Gesicht war nah.
Roveen nickte. »Ja… ja, Sirahë.«
»Aralee«, sagte die Frau. »Nenn mir deinen wirklichen Namen, und denke von mir als Aralee.«
»Roveen«, antwortete Roveen.
»Den richtigen Namen. Roveen und Gaell, das habt ihr beiden euch doch ausgedacht! Rötlich und golden - soviel Indiradrim kann ich auch. Aber meine Mutter hat mich Aralee genannt - wie nannte dich damals deine?
Roveen hielt die Lippen zusammengepreßt. Sie hatte es versprochen… Das war kein Name für eine Konkubine. Es war der Name ihrer Mutter, und ihrer Großmutter - kein Name, um ihn zu beschmutzen.
»Dein Geheimnis ist bei mir aufgehoben«, sagte Aralee leise, »so wie meines bei dir.« Sie lächelte. Es war Schönheit in ihrem Gesicht.
»Jirka«, antwortete Roveen. Kein Name für eine Konkubine. Aber in diesem Moment war sie keine.
»Jirka«, wiederholte Aralee. »Du mußt keine Angst vor mir haben.« Sie nahm sie bei der Hand und führte sie endlich weg vom Fenster, hin zu der Wärme des Feuers. »Ich will dich auch nicht zerstören.«

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