Draußen regnete es. Wenigstens das war angenehm - bei Regen
war es nicht ganz so unerträglich, gefangen zu sein. Und
zugleich erinnerte der Regen Roveen an eine Heimat, die sie niemals
gesehen hatte. In Lomar regnete es nur selten, und wenn, dann
entlud der Himmel sein Wasser mit Donnern und Blitzen und
mächtigem Sturm - in Koristir dagegen regnete es nur.
Gaell trat hinter sie. »Astarka«, sagte sie leise.
»Starr nicht immerzu aus dem Fenster. Erzähl
weiter!«
Roveen war froh, in diesem Moment in den Regen zu blicken und
nicht in das Gesicht ihrer Freundin - dieses Lächeln wollte
sie für sich behalten. Astarka… Gaell sprach das
Wort immer ein klein wenig falsch aus, versuchte verzweifelt, das
R zu gurgeln, wo sie es hätte weich rollen müssen
- aber sie benutzte das Wort, oft und gerne. Roveen hatte ihr
gesagt, es bedeute Herzensschwester, und das tat es auch -
unter anderem. Immer noch lächelnd, drehte Roveen sich um.
»Was willst du hören?«
»Elandor«, antwortete Gaell und seufzte
verzückt.
Auch Roveen seufzte, wenn auch weniger begeistert. Sie hatte genug
von Elandor, dem kraftstrotzenden Recken mit den nimmermüden
Lenden. Es war kaum noch etwas übrig von ihrer eigentlichen
Geschichte: Von der Herrin, die alle Männer aus ihrem
Schloß verbannte und die sich nur noch mit Frauen umgab - es
sollte eine schaurige Geschichte werden, mit Geistern, Geheimnissen
und unerklärlichen Todesfällen. Doch kaum durfte Gaell
einmal den Faden weiterspinnen, kam in einer Gewitternacht Elandor
geritten, verstaute seinen feurigen schwarzen Hengst zwischen den
Stuten im Stall und machte sich daran, in dem
männerverlassenen Schloß eine Frau nach der anderen
aufzusuchen… alle, bis auf die Herrin. Elandors Abenteuer
bevölkerten den Wandteppich; Gaell wurde nicht müde,
immer neue Geschichten um ihren Helden zu fordern und in Bilder
umzusetzen. Der Teppich war ein Kunstwerk, das stand außer
Frage - doch es gelang Roveen nicht, sich denjenigen vorzustellen,
der ihn in seine Halle hängen würde. In diesem Land
sicher keiner.
Roveen schüttelte den Kopf. »Nein, bitte nicht - mein
Kopf ist völlig ausgetrocknet.« Wie lange waren sie
jetzt schon gefangen? Einen Monat, zwei Monate? Zwei Monate, seit
sie den letzten Mann gesehen hatten - was für Roveen eine
durchaus angenehme Erholung war, konnte Gaell nur schlecht
ertragen, wenn überhaupt. Selbst ihr Gedächtnis schien
darunter zu leiden. In den letzten Bildern hatte der arme Elandor
immer groteskere Formen angenommen - daß er noch gehen konnte
ohne umzufallen, war ein Wunder.
Gaell verzog das Gesicht. »Na, dann erzähle ich eben
weiter, wenn es sein muß.«
»Nein!« Roveen staunte selbst über diesen
schrillen, unfreundlichen Ton in ihrer Stimme. »Ich mag
nichts hören! Und ich mag auch nicht mehr sticken!«
»Oh, nicht schon wieder«, maulte Gaell. »Du
hattest deine Tage gerade erst.«
»Ich habe nicht meine Tage!« fuhr Roveen sie an.
»Aber ich kann Elandor nicht mehr ertragen! Und dich auch
nicht! Bist du nicht in der Lage, auch nur einen Tag lang an etwas
anderes zu denken als Kerle?« Es war nicht ihr erster Streit,
seit sie hier waren, und sicher auch nicht ihr letzter - manchmal
wünschte sich Roveen, einfach nur das Fenster aufzumachen und
hinauszuspringen, solange die Sonne schien - und wie und wo sie
dann landete, war egal. Hauptsache, sie mußte Gaell und
Elandor und dieses Zimmer nie wieder sehen… Sie
schüttelte den Kopf. »Ach, es tut mir leid.«
Gaell konnte nichts dafür. Sie war nun einmal, was sie war -
nicht halb so dumm, wie sie den Männern vorspielte, doch das
war auch schon der einzige Unterschied. Roveen hatte die Hoffnung
aufgegeben, daß in der Abgeschiedenheit ihres
Gefängnisses das zum Vorschein kommen würde, was sie
für die echte Gaell hielt - ihre Mehr-als-Herzensschwester,
die Freundin, die es wert war, solch einen Lebensweg einzuschlagen,
eine Konkubine zu werden…
»Manchmal bist du wirklich eine Ziege«, hielt Gaell
ihr entgegen. »Mäh, mäh, mäh.« Dann
kräuselten sich ihre Lippen amüsiert, und Roveen, die
wußte, daß als nächstes eine Anspielung auf
besonders bockige Ziegenböcke kommen mußte, floh
zurück zum Fenster.
Der Regen war vorüber. Auch das noch.
Die Tür erlöste Roveen, als der Schlüssel sich im
Schloß drehte. Roveen fuhr herum, hektischer als sonst - es
war nicht so ungewöhnlich, daß jemand hereinkam. Jeden
Tag brachten die Frauen etwas zu essen, und frisches Wasser…
Aber niemals in all den Wochen kam die Sirahë selbst. Die
Sirahë, die nun ihm Türrahmen stand.
»Gute Morgen«, sagte sie - war es Morgen? Roveen hatte
jedes Gefühl für Zeit verloren. Vielleicht war es noch
Morgen. Aber es war auch egal.
»Was wollt Ihr?« fragte Roveen schroff. Gaell sagte
nichts, lächelte vor sich hin, spielte mit einer
Haarsträhne und strich mit der anderen Hand den Wandteppich
glatt.
Die Sirahë senkte den Blick, wie ein schüchternes
Mädchen. »Ich benötige die Hilfe von einer von Euch
beiden.«
»Oh«, quietschte Gaell. »Hast du gehört?
Sie braucht Hilfe!« Sie machten es immer so, wenn eine Dritte
in ihr Reich drang, redeten über sie, doch niemals wirklich
mit ihr - aber in diesem Moment hätte Roveen Gaell die
süßen blauen Augen auskratzen mögen. Die
Verlegenheit der Sirahë war nur gespielt, so aufgesetzt wie
Gaells Verhalten - aber zugleich sah die Sirahë aus wie
jemand, der wirklich Hilfe brauchen konnte.
Sie wirkte so viel älter als bei ihrem letzten Treffen,
daß Roveen sich unwillkürlich fragte, ob sie wirklich
erst seit zwei Monaten hier waren, und wie alt sie selbst aussehen
mochte.
»Hilfe wobei?« fragte sie zurück.
»Das werde ich Euch noch erklären - werdet Ihr mit mir
kommen?«
Roveen warf Gaell einen kurzen Blick zu - so respektvoll? Die Frau
mußte wirklich Probleme haben - aber Gaells Augen antworteten
nicht, bargen nur Spott für diese Frau. Roveen nickte. Sie
mochte die Sirahë nicht, jetzt nicht mehr als früher,
doch dies war eine Möglichkeit, aus diesem Zimmer
herauszukommen - Herauskommen! Aus diesem Zimmer! - und
dafür war Roveen bereit, ihre Seele zu geben.
Gaell blickte ihr seltsam nach, als sie an der Seite der
Sirahë das Zimmer verließ. Wie einer
Verräterin… Roveen lächelte.
Während sie durch die Gänge hasteten, verlor die
Sirahë keine weiteren Worte, keine Erklärungen. Sie ging
direkt in der Mitte der Flures, folgte der Linie zwischen den
Bodenfliesen, als würde sie an einer Schnur gezogen. Ihre
Schritte waren schnell, zu schnell für Roveen, die sich
wochenlang kaum bewegt hatte und dazu noch mit ihrem langen Kleid
kämpfen mußte. Sie Sirahë hatte gut reden; sie trug
weite Hosen, die mit jedem Schritt ein unangenehm scheuerndes
Geräusch verursachten, bösartig im Vergleich zum
freundlichen Rascheln von Unterröcken… Ganz sicher
brauchte die Sirahë Hilfe. Roveen fragte sich, warum sie die
noch von niemand anderem bekommen hatte.
Mit beiden Händen ihre Röcke haltend, hetzte Roveen
hinter der anderen Frau her, und mit jedem Schritt bereute sie
mehr, auf das Angebot eingegangen zu sein, das Zimmer verlassen zu
haben. Sie hatte nicht viel von diesem Schloß wahrgenommen,
bevor man sie gefangennahm, und danach nur das, was sie vom Fenster
aus sehen konnte - aber was sie nun sah, gefiel ihr nicht. Es war
nicht häßlich - es war kalt. Roveen mochte das
Schloß nicht. Und diese Abneigung war gegenseitig. Mehr noch
- was Roveen spürte, schien auch für die Sirahë
gelten. Roveen hatte vieles lernen müssen, um Konkubine zu
werden, aber wenn eines davon wichtig war, dann, wie man in den
Körpern und Bewegungen anderer Menschen las. Natürlich
ging es um den Umgang mit Männern. Aber in diesem Punkt waren
Männer und Frauen ohne Unterschied… Roveen
lächelte. Die Sirahë hatte ihr schon viel verraten, auch
ohne ein Wort zu sagen.
»Es will Euch nicht haben, nicht wahr?« flüsterte
sie.
»Was?« Die Sirahë blieb stehen, fragte nur
irritiert und kurz angebunden über die Schulter.
»Das Schloß akzeptiert euch nicht als seine Herrin.
Das ist es doch, nicht wahr? Das Schloß, und wenn schon das
Schloß nicht, dann auch nicht das Volk -«
»Schweigt zu Dingen, von denen Ihr nichts
versteht!«
»Oh, das tue ich…« Roveen blieb stehen, um zu
Atem zu kommen, ihre Röcke zu sortieren und eine
störrische Strähne aus ihrem Gesicht zu streichen.
»Das tue ich.«
Die Sirahë blieb stehen und fuhr herum. Ihre Augen blitzten
auf. Dann begann sie zu lachen. »Mein Sohn liest die
Gefühle der Menschen, Ihr lest die Gefühle des Palastes -
jedem das seine; was mich betrifft, ich möchte keines von
beiden kennen. Aber keine Sorge. Wir sind gleich da.«
Das Zimmer der Sirahë war eine Insel in der Kälte. Ein
kleines Vorzimmer führte durch einen Vorhang in ein
gemütliches, holzgetäfeltes Schlafzimmer, in dem alles
groß und einladend wirkte - die Fensternische, der Kamin, in
dem ein überschwengliches Feuer prasselte, das Bett mit den
schweren Vorhängen… Roveen stutzte.
Ganz offensichtlich war das Vorzimmer darauf ausgerichtet,
Besucher zu empfangen. Nichtsdestotrotz nahm die Sirahë sie
direkt mit ins Schlafzimmer. Roveen hob eine Augenbraue, doch sie
sagte nichts.
»Setzt Euch schon einmal«,
sagte die Sirahë und deutete auf die Bänke in der
Fensternische. »Ihr mögt Tee, hoffe ich?«
Roveen nickte. In diesem Zimmer war etwas Einschüchterndes,
aber etwas völlig anderes als im Rest des Schlosses. Man
merkte es nicht sofort, es war nicht wie die aggressive Kälte
in den Gängen, es war eine warme Macht. Als hätten die
Generationen von Frauen, die hier vor der Sirahë gelebt
hatten, ihre Seelen an keinem anderen Ort ausbreiten können,
war dieser Raum voll von ihnen. Bestickte Kissen lagen auf der
Fensterbank, ihre Farben zu einem matschigen Gelb verschossen von
den vielen Jahren im Sonnenlicht. Roveen mußte wieder an die
Kiste mit dem Stickzeug denken, an den Haufen alten, muffigen
Stoffes. Die Sirahë stickte nicht. Aber auch sie hatte ihr
Siegel im Wachs dieses Zimmers hinterlassen. Die Kunst der
Sirahë lag in den Kräutern. Roveen konnte die
Gerüche nicht auseinanderhalten, konnte den Büscheln
getrockneter Blätter keine Namen geben. Ihre Mutter hatte sie
vieles gelehrt, doch die Pflanzen hatte sie für sich
behalten… Es war auch kein Wissen, nach dem es Roveen
dürstete.
Das Kissen war flach und durchgesessen, aber bequem. Roveen schlug
die Beine übereinander, sortierte ihre Röcke und lehnte
sich zurück. So sah sie entspannt aus und selbstsicher und war
doch bereit, jeden Moment aufzuspringen. Eine Konkubine wußte
zuviel über Frauen, um einer zu vertrauen. Natürlich gab
es Ausnahmen: Ihre Mutter, zum Beispiel, oder - in Maßen -
Gaell. Die Sirahë gehörte nicht dazu.
»Ihr sagtet, Ihr benötigt Hilfe?« fragte Roveen
distanziert. Die unangenehmen und wichtigen Fragen stellte sie
lieber, solange die andere Frau am fernen Ende des Raumes mit ihrem
Teewasser beschäftigt war, als wenn sie ihr direkt
gegenüber saß. »Und wenn ich’s
tue?«
Die Sirahë zuckte die Schultern. »Habt Ihr mir
geholfen.«
»Und ihr werdet uns freilassen?«
»Nein.«
Roveen pfiff durch die Zähne. Das war eine Antwort, mit der
sie nicht gerechnet hatte. »Ihr könntet es zumindest
versprechen, ganz gleich, ob Ihr -«
»Warum sollte ich lügen?«
»Warum sollte ich Euch helfen?«
»Um eine Abwechslung zu haben. Um mehr als drei Schritte tun
zu können, ohne gegen eine Wand zu stoßen. Um eine Rolle
zu spielen, die Euch angemessen ist.« Die Sirahë drehte
sich um, redete endlich mit Roveen und nicht mehr mit ihrem
Teekessel.
Es gab nur wenige Menschen, die Roveen fürchtete. Zu ihrem
Beruf gehörte, sich niemals einschüchtern zu lassen - der
Unterschied zwischen einer Konkubine und einer Hure war, daß
niemand weniger wert war als eine Hure, und niemand mehr als eine
Konkubine. Konkubinen wählten ihr Amt aus freien Stücken,
doch war es immer nötig, sich diese Unterscheidung vor Augen
zu rufen, wollte man nicht alles Selbstwertgefühl verlieren.
In diesem Moment, in dem Roveen der Sirahë ins Gesicht
blickte, war es nötiger als in allen anderen. Roveen konnte
nicht beschreiben, was sie in den Augen der Sirahë sah - sie
hatte es noch nie zuvor an einem Menschen gesehen - Roveen
wußte nicht, was es war. Aber sie wußte, daß es
einen Kampf geben mußte. Nicht mit Fäusten, und nicht
sofort, aber… einen Kampf.
Und so stand Roveen auf und blickte die Sirahë an und sagte:
»Ihr habt keine Macht über mich, Sirahë. Ihr habt
Macht über meinen Körper, aber nun, das hatten schon
andere vor Euch. Macht über meine Seele werdet ihr niemals
erlangen.« Es war nicht das erste Mal, daß sie diese
Worte sprach - manchmal waren sie nur allzu nötig. Es waren
gute Worte.
Doch die Sirahë schüttelte den Kopf, bedeutete ihr, sich
wieder hinzusetzen, und hielt ihr eine Teeschale hin. Das
Unbenennbare war aus ihren Augen verschwunden. Erst jetzt konnte
Roveen den Gedanken zuende fassen: Nämlich, daß die
Sirahë etwas von einem Engel hatte. Zumindest für den
Moment.
»Nutzt diesen Satz nicht an mir ab. Dies ist Koristir. Wir
haben hier schon beileibe genug Worte.« Die Sirahë
wirkte gelöster, als sie an ihrem Tee nippte.
Roveen zögerte, bevor sie trank. »Aber das ist etwas,
das Ihr braucht«, sagte sie leise. »Jemanden zum reden.
Das meint Ihr doch mit Hilfe, nicht wahr? Mit Euren Hofdamen
könnt Ihr nicht viel anfangen. Die Engelsgeborenen haben
diesen Ort verlassen. Euer Mann ist tot.« Sie ging nicht auf
den kurzen scharfen Blick ihres Gegenübers ein, aber sie
registrierte ihn. »Aber eine Konkubine - das ist eine
interessante Frau. Und geschult im geduldigen Zuhören. Also -
wenn ich Euch damit helfe - redet.«
Die Sirahë schwieg. Ihre Knie berührten Roveens. Der
Fenstersitz sah auf seine wuchtige Art größer aus, als
er eigentlich war - er mußte aus einer Zeit stammen, als die
Frauen noch kleiner waren. Weder Roveen noch die Sirahë waren
übermäßig groß. Die hochgewachsenen
Engelsgeborenen wären niemals unter dem Türsturz
durchgekommen - kein Engelsgeborener würde sich jemals
bücken. Dies war ein Frauenzimmer.
Die Sirahë schwieg, doch schien es nicht aus Verlegenheit zu
entstehen, oder weil sie sich überrumpelt und enttarnt
fühlte. Es war mehr ein abwartendes Schweigen. Was würde
als nächstes kommen?
Nichts. Die Sirahë sagte nichts. Offenbar wollte sie,
daß Roveen weiterredete. Das konnten sie jetzt noch
länger ausreizen, aber nach den Wochen der Gefangenschaft
fehlte Roveen hierzu die Geduld.
»Warum wollt Ihr uns nicht freilassen?«
»Wollt Ihr in den Krieg ziehen?« fragte die
Sirahë zurück.
Diesmal war es an Roveen, sie wortlos anzublicken.
»Habt Ihr Euch das noch nicht gedacht? Doubladir hat
Loringaril das Krieg erklärt - das konnten sie sich nicht
entgehen lassen. Wenn Ihr nach Lomar zurückkehrt, schwebt Ihr
in Gefahr.«
Roveen bemühte sich um ein müdes Lächeln, um sich
ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. »So besorgt
seid Ihr um uns, daß Ihr uns lieber einsperrt?« Sie
schüttelte den Kopf.
Die Sirahë zuckte die Schultern. »Ihr wolltet eine
Erklärung.«
Während die Schloßherrin immer gelöster wirkte,
griff Beklommenheit nach Roveen. Was war das für ein Spiel?
Die Sirahë wollte sich nicht unterhalten, wollte nichts von
dem, was Roveen zu bieten bereit war - aber was wollte sie? Bei
allen Engeln, was wollte sie?
»Fürchtet Ihr mich?« fragte die Sirahë
leise.
Roveen schüttelte den Kopf, aber sie wußte es nicht.
Das war das Schlimmste. Sie konnte Menschen einschätzen, sie
verstehen, sich auf die einstellen. Sie hatte den Prinzen ertragen,
sie hatte Ember ertragen und Gaell in ihren schlimmsten Momenten -
aber vor dieser Frau wollte sie wegrennen.
»Ihr solltet mich fürchten«, sagte die
Sirahë.
»Hilft Euch das?« fragte Roveen zurück.
»Vielleicht solltet Ihr mich fürchten?«
»Nein«, sagte die Sirahë.
»Dann fürchte ich Euch auch nicht.«
Sie tranken ihren Tee, der inzwischen nur noch lauwarm war. Roveen
hatte nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verging, wenn man nichts
tat als Katz und Maus spielen. Es war fremd. Es war
gräßlich. Und irgendwie war es spannend.
»Also gut«, sagte die Sirahë. »Ich sehe,
Ihr laßt Euch nicht so schnell unterkriegen, aber Ihr seid
noch zu leicht zu verwirren, daran müssen wir
arbeiten.«
»Was?« entfuhr es Roveen. Dieser Wechsel kam zu
plötzlich.
»Genau das meine ich. Aber ich denke, ich kann mit Euch
arbeiten.«
Diesmal sagte Roveen nichts. Sie konnte den Spieß auch
umdrehen.
»Wie gut«, fragte die Sirahë, »kennt Ihr
Euch mit den politischen Strukturen Koristans aus?«
Die Frage gefiel Roveen. Es gab allzu viele Menschen, die sich
nicht vorstellen konnten, daß eine Konkubine etwas anderes
wußte, als wie man hohen Herrschaften zu Diensten war. Aber
Konkubinen waren mächtiger, je dümmer und harmloser man
sie hielt… Roveen würde sich hüten, zuviel von
sich zu verraten. So antwortete sie nur: »Gut genug, um zu
wissen, daß Ihr an seiner Spitze nichts zu suchen
habt.«
Die Sirahë schoß vorwärts, schneller als Roveen
sie kommen sah oder ausweichen konnte. Doch ihr Schlag war nicht
fest, schien noch im letzten Moment abzubremsen, als die
Handfläche Roveens Wange berührte. Es tat nicht weh, aber
Roveen schnappte nach Luft, vor Schreck. Und die Sirahë
ebenfalls. Einen Moment lang starrten beide Frauen sich an. Einen
Moment lang waren ihre Gesichter offen, maskenlos, und Roveen sah
Entsetzen, Angst, Verlassenheit, Wut… Es war ein zäher,
langer Moment. Ihre Bewegungen waren langsam, wie unter Wasser, als
Roveen die Hand hob, nicht, um zurückzuschlagen, sondern um
ihre Wange zu berühren. Verschiedene Menschen hatten diese
Wange schon geschlagen - niemanden außer Gaell schlug Roveen
zurück. Doch ihre Hand ging ihren eigenen Weg, schwebte hin zu
dem anderen Gesicht, das so nah vor ihrem hing. Ihre Fingerspitzen
berührten die Wange der anderen Frau. Kalte Haut, und direkt
darunter die harten Muskeln zusammengebissener Zähne. Roveen
zog ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.
Die Sirahë senkte den Blick. »Das wollte ich
nicht.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Roveen. Und es
stimmte.
»Ich habe den Tee verschüttet. Seid Ihr naß
geworden?«
»Macht Euch darum keine Sorgen.« Macht Euch lieber
Sorgen um Euch selbst. »Macht Euch lieber Sorgen um Euch
selbst.« Nun sagte sie es doch. »Beherrscht Ihr dieses
Land, indem Ihr Euch beherrscht?«
Die Sirahë antwortete nicht. Doch obwohl diese Worte
härten, grausamer waren als die letzten, schlug sie nicht noch
einmal zu.
Roveen stand auf und ging zu dem monströsen Bett
hinüber. »Kommt her«, sagte sie ruhig. »Legt
Euch hin. Ihr seht nicht aus, als ob Ihr das oft genug tut. Ihr
wollt meine Hilfe? Ihr wollt mindestens drei verschiedene Arten,
wie ich Euch helfen soll, aber Ihr könnt Euch nicht für
eine entscheiden.« Ihr Rock klebte am Bein. Der Tee hatte
auch sie getroffen… »Nun kommt schon, legt Euch hin.
Oder wollt Ihr keine Hilfe?«
Die Frau auf der Fensterbank rührte sich nicht, stand nicht
auf, sah nicht zu Roveen hin. Roveen hockte sich auf die Bettkante.
Sie seufzte.
»Die politische Struktur von Koristan«, begann sie und
versuchte, sich zu erinnern, wie genau es aussah. »Koristan
ist ein lächerlich kleines Land, aber dennoch ist es noch
einmal unterteilt in acht Grafschaften. Die Grafen haben kaum Macht
außer ihren Namen… und sie sind in erster Linie dazu
da, sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Die eigentliche Macht
liegt beim König, der mächtigste sterblich geborene
Mann… ist der Richter.« Roveen hatte ihre Lektion
gelernt, für zwei zugehört, weil Gaell sich langweilte
und nicht aufmerksam war. Sie lehnte sich zurück.
»Glaubt mir, ich weiß soviel über dieses Land, wie
man in einem halben Nachmittag lernen kann. Aber Ihr habt Probleme,
bei denen Ihr Hilfe braucht, und Ihr wollt nicht mein Wissen
abfragen. Worum geht es? Wollen die Grafen nicht so wie
ihr?«
Die Sirahë saß wie versteinert. Ihre Augen waren auf
das Fenster gerichtet, aber Roveen sah ihr Spiegelbild, sah,
daß sie das Glas nicht durchdrangen. So beobachtete die
Sirahë sie.
»Bitte«, sagte Roveen. »Bitte, hört mit dem
Versteckspielen auf. Ich habe gerade mehr von mir verraten, als ich
jemals gedurft hätte -« Aber sie durfte es jetzt, denn
dies war der Moment, in dem Roveen begriff, daß sie wirklich
nicht nach Loringaril zurückkehren würde, und auch nicht
nach Indiradin - daß ihr Schicksal sie an die Seite dieser
Frau verschlagen hatte, und warum. Roveen wurde kalt. Trotzdem
flehte sie: »Bitte, kommt zu mir!« Und immer noch diese
beobachtenden Augen im Fenster.
Roveen hatte Angst. Und die Sirahë? Wahrscheinlich auch.
Roveen mußte wieder an ihre Mutter denken, wie immer, wenn
sie Angst hatte… Wenn du glaubst, jemand will dir etwas
zuleide tun, versuch nicht wegzurennen. Das bringt dich nur in
Gefahr. Rede auf ihn ein, schneller als du rennen könntest.
Dann sind ihre Gedanken wie gelähmt. Wegrennen mußt du
allein vor dem Feuer. Mit Feuer kann man nicht reden…
Der verzweifelte Versuch, einer Tochter Ratschläge zu geben,
die sich entschlossen hatte, Konkubine zu werden. Ihre Mutter war
eine Ausländerin. Sie hatte nie begriffen, daß Konkubine
ein großer, angesehener Beruf war… Roveen fühlte
sich erbärmlich. Doch sie hörte auf ihre Mutter.
»Wenn es darum geht, die Grafen zu betören, damit sie
Euch besser gesonnen sind - versucht es selbst und seht, wieviel
Vergnügen es macht. Ich kann Euch helfen, Euch passend zu
kleiden - ohnehin würde es Euch nicht schaden, ein paar
Ratschläge zu beherzigen, was Euer Äußeres angeht.
Ihr seid immer noch eine wunderschöne Frau, aber Ihr herrscht
über dieses Land - das soll man doch auch sehen
können!«
Roveen holte Luft. Die Sirahë hörte zu, den Blick weiter
abgewandt. ‘Hörte zu’ war immer noch besser als
‘schoß vorwärts, um Roveen zu schlagen’.
Ihre Hände hielt sie im Schoß gefaltet; die eine schien
die andere zu erwürgen. Roveen redete weiter: »Wenn Ihr
Angst habt, Euer Gesicht vor den Grafen zu verlieren, wenn Ihr sie
selbst umschmeichelt - dann schickt Gaell, sie hat Vergnügen
daran. Ihr betrachtet es noch als Demütigung, aber wir haben
gelernt, die Macht darin zu sehen.«
Noch immer saß die Sirahë reglos, lauernd. Und doch
hatte Roveen das Gefühl, das Richtige zu tun. Diese Frau lebte
hier seit Jahren, umgeben von Wörtern - und nur mit
Wörtern war ihr beizukommen. »Gaell ist großartig,
das werdet Ihr sehen. Ich bin es auch, aber mich solltet Ihr anders
nutzen, als Freundin. Ihr wollt mir Dinge erzählen, die mich
zu einer Gefahr machen würden, für Euch oder das Land,
und Ihre ringt mit Euch, denn wenn Ihr es nicht tut, geht Ihr ein,
Ihr seid auf dem besten Weg, aber wenn Ihr es tut,
müßtet Ihr mich töten - Ihr seid so dumm!«
Wie weit war es bis zu Tür? Wie schnell konnte Roveen rennen,
wenn sie jetzt aufsprang? Wie schnell die Sirahë?
»Warum, glaubt ihr denn, sollte ich Euch verraten? Und an
wen? Gaell? Wenn sie nicht selbst herausfindet, daß Ihr Eurem
Sohn die Krone gestohlen habt -«
Da. Es war gesagt. Es war gesagt, und Roveen lebte noch. Roveen
lebte noch, und die Sirahë saß auf ihrem Platz am
Fenster und schaute sie an. Ihr Gesicht war wieder seltsam. Roveen
hoffte, daß es erleichtert war. Es mußte erleichtert
sein. Was auch sonst?
Ihre Stimme war tonlos, als die Sirahë fragte: »Wie
kommt Ihr darauf?« Nicht ‘Woher wißt Ihr
es?’, aber nahe genug daran.
Roveen blieb ruhig. Dies war der Moment, in dem sie entweder
bereits gewonnen hatte oder bereits tot war. Jetzt mußte sie
keine Angst mehr haben. »Ihr habt uns nie
verhört«, sagte sie. »Ihr habt versucht, uns
auszuspionieren - aber Ihr habt uns nie zum Verschwinden der Krone
befragt. Warum nicht? Ihr seid im Moment hier anstelle des
Königs, und Ihr müßt jeder Spur nachgehen. Jeder
hat doch geglaubt, daß Ember und der Prinz sie gestohlen
haben. Davon hätten wir gewußt… aber Ihr habt es
trotzdem nie für nötig gehalten, uns zu
vernehmen.«
»Und das ist alles?« fragte die Sirahë leise.
»Mir genügt es«, erwiderte Roveen. »Ich
stelle keine allzu hohen Ansprüche an die Wahrheit.«
Die Sirahë lächelte, traurig, nicht triumphierend. Sie
stand auf, schob die Kissen von der Fensterbank und öffnete
die hohen Flügel des Fensters - was sie sehr anzustrengen
schien, als sei dies eine Aufgabe für Männer, als sei das
Fenster seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Kühle
feuchte Luft drang in das Zimmer, zog durch den Vorhang zum Vorraum
wieder ab und ließ Roveen frösteln.
»Dann soll es Euch genügen«, sagte die
Sirahë und stieg auf die Fensterbank. Sie stieg nicht bis auf
das Fensterbrett, und sie lehnte sich nicht hinaus, aber wie sie so
dastand, eine zierliche Gestalt vor dem schiefergrauen Fenster, war
es doch Drohung genug. Plötzlich bekam Roveen es mit einer
neuen Angst zu tun - der Angst, zu weit gegangen zu sein. Zu weit
nicht für sie selbst…
Eine Frau, die nicht schlief. Eine einsame, unglückliche
Frau. Eine Frau, die eine Schuld auf sich geladen hatte - eine
Frau, die an einem offenen Fenster stand, zu viele Stockwerke
über dem Boden. Das hatte Roveen nicht gewollt, wirklich
nicht.
Sie kannte das Gefühl. Manchmal war es schwer, an einem
Fenster vorüberzugehen, ohne hinausspringen zu wollen. Einmal
hatte Roveen oben auf den Zinnen gestanden, in Lomar, vor
vielleicht drei Jahren. Sie wollte nicht springen, aber sie wollte,
daß Gaell sie zurückhielt. Mehr als zwei Stunden stand
sie dort und wartete. Dann stieg sie die Leitern wieder hinunter.
Gaell hatte nie davon erfahren…
Sehr langsam stand Roveen auf. Sie durfte jetzt keine
plötzlichen Bewegungen machen, nichts, was die Sirahë
erschrecken konnte. »Wartet«, sagte sie. Was meinte
sie? Wartet auf mich? Mit kleinen Schritten ging Roveen auf
das Fenster zu. »Ich will Euch nicht
zerstören.«
Die Sirahë stand reglos, die Hand am Fensterrahmen.
Vielleicht stand sie nun noch ein wenig weiter vorne - Roveen
konnte es nicht sagen. Das Fenster war beängstigend. Selbst
ihr, die auf dem Boden stand, reichte seine untere Kante nur knapp
bis über das Knie. Von der Fensterbank aus…
»Bitte«, sagte Roveen. »Bitte, springt
nicht.«
Keine Reaktion. Roveen atmete durch, schob sich näher an die
Frau und das Fenster heran, und griff zu, faßte die
Sirahë beim Arm.
Die Sirahë drehte sich im gleichen Momente. Das Fenster
bewegte sich auf Roveen zu mit der Geschwindigkeit eines
Schwindels. Dann war der Himmel wieder über ihr. Roveen
fühlte, wie sich die Fensterkante in ihren Rücken trieb.
Die Sirahë hielt sie fest, daß sie nicht
stürzte… Jetzt hatte sie ihr das Leben gerettet, und
nicht umgekehrt.
Es dauerte noch einen Moment, bis Roveen begriff, daß die
Sirahë sie festhielt. Doch sie machte keine Anstalten, sie ins
Zimmer zurückzuziehen. Das Blut rauschte in Roveens Kopf
beinahe lauter als die Angst.
Die Sirahë sagte etwas, doch die Worte wehten über
Roveen hinweg, und sie konnte nicht antworten. Sie konnte nicht
einmal schreien.
Und sie wollte es auch nicht.
Dann war sie wieder im Zimmer. Ihr Haar war naß. Es regnete
wieder. Roveen weinte. Sie wollte nicht weinen. Sie weinte niemals.
Sie weinte.
»Wer ist nun die Stärkere?« fragte die
Sirahë. »Hast du geglaubt, ich wäre gesprungen?
Glaubst du, ich hatte Angst vor dir?«
»Ich hatte Angst um Euch«, flüsterte Roveen
atemlos.
»Warum hast du das getan?« fragte die Sirahë. Das
Fenster war wieder geschlossen, aber nicht ganz, ein leiser Wind
zog durch die Ritzen. »Wolltest du mir drohen?«
Roveen schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte
nur… daß Ihr wißt… daß ich es
weiß.« Warum? Damit sie damit nicht mehr alleine war?
»Ihr habt den Engelsgeborenen einen bösen Streich
gespielt.« Sie mußte lächeln. Vielleicht
bewunderte sie die Sirahë. Welche Frau sollte sie nicht
bewundern - sie, die so etwas fertiggebracht hatte?
»Und hast du nicht gedacht«, fragte die Sirahë
weiter, »ich wollte dich töten?«
Roveen antwortete nicht.
»Hattest du Angst vor mir? Hast du mich
gefürchtet?«
Ihre Hände lagen warm auf Roveens Schultern; ihr Gesicht war
nah.
Roveen nickte. »Ja… ja, Sirahë.«
»Aralee«, sagte die Frau. »Nenn mir deinen
wirklichen Namen, und denke von mir als Aralee.«
»Roveen«, antwortete Roveen.
»Den richtigen Namen. Roveen und Gaell, das habt ihr
beiden euch doch ausgedacht! Rötlich und golden
- soviel Indiradrim kann ich auch. Aber meine Mutter hat mich
Aralee genannt - wie nannte dich damals deine?
Roveen hielt die Lippen zusammengepreßt. Sie hatte es
versprochen… Das war kein Name für eine Konkubine. Es
war der Name ihrer Mutter, und ihrer Großmutter - kein Name,
um ihn zu beschmutzen.
»Dein Geheimnis ist bei mir aufgehoben«, sagte Aralee
leise, »so wie meines bei dir.« Sie lächelte. Es
war Schönheit in ihrem Gesicht.
»Jirka«, antwortete Roveen. Kein Name für eine
Konkubine. Aber in diesem Moment war sie keine.
»Jirka«, wiederholte Aralee. »Du mußt
keine Angst vor mir haben.« Sie nahm sie bei der Hand und
führte sie endlich weg vom Fenster, hin zu der Wärme des
Feuers. »Ich will dich auch nicht zerstören.«
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