Elftes Kapitel

Alexander hatte sich bereits zu Bett gelegt, doch er war weit davon entfernt, schlafen zu können. Immer wieder schreckte er hoch, erwartete ein Klopfen an der Tür, erwartete, daß Halan die Botschaft verstanden hatte, daß er hereinkam ohne anzuklopfen, daß er nicht mehr um Erlaubnis fragen würde. Im Grunde seines Herzens wußte Alexander, daß er vergeblich wartete, aber er gab das Sehnen nicht auf. Es waren solche Momente, in denen er sich fragte, warum sie nicht bei Damiander hatten bleiben können. Er bemühte sich, nur an Halan zu denken, und an Damiander - niemals an Koris…
Ein leises Klopfen an der Tür ließ ihn hochschrecken, zaghafter noch, als man es von Halan erwarten sollte - und doch sah es ihm so ähnlich! Freudenschauer durchliefen Alexanders Körper, jedes Haar sträubte sich vor Erwartung - es tat weh; Alexander hatte das Gefühl, gar nicht schnell genug zur Tür kommen zu können, und doch zwang er sich, erst seine zerrauften Haare, seine Unterkleider glattzustreichen. Er schluckte, bevor er die Tür genauso zögerlich und schüchtern öffnete wie das Klopfen andauerte. Noch nie war Halan in einem solchen Moment freiwillig zu ihm gekommen -
Es war nicht Halan. Vor der Tür stand Ember von Valon.
Alexanders Vorfreude erlosch und machte unangenehmer Übelkeit Platz. Ember blickte an ihm hinunter, und bis hin zu Alexanders Zehennägeln schien ihm nichts zu entgehen, am Allerwenigsten das Offensichtliche. Aber zumindest hatte er den Anstand zu erröten.
»Bitte vergebt mir«, sagte er leise und ungewohnt hastig. »Ich kam auf ein Wort mit Euch, doch es lag nicht in meiner Absicht, Euch aus dem Bett zu holen.«
Alexander trat einen Schritt zurück. Zumindest hatte er jetzt auf seiner Seite alles Recht, eklig zu sein. »Nun, Ember, man darf annehmen, daß nicht alle Eure Absichten auch von den gewünschten Ereignissen gekrönt werden.« Dann fügte er hinzu: »Aber wo Ihr schon einmal hier seid, tretet ein.«
Beschwichtigend hob Ember die Hände. »Ich warte gerne hier auf dem Flur, bis Ihre Euch angezogen habt.«
Alexander schüttelte den Kopf. Wohltuende Bosheit begann in ihm aufzusteigen. »Muß es mir peinlich sein, wenn ich nackt bin, oder Euch, wenn Ihr mich anstarrt? Kommt herein, oder geht.«
Er hoffte, daß Ember eintreten würde - es gab ihm die völlige Oberhand über das Gespräch, das sie während des Essens nicht hatten führen können. Und ohne Halan war es auch einfacher. Halan hätte gemeint, daß Alexander sich anziehen sollte. Aber es war würdevoller, in Unterkleidung zu bleiben.
Ember schlüpfte ins Zimmer. Er preßte ein seltsames dunkles Bündel an sich. Alexander fragte nicht danach. Ember hätte es nicht mitgebracht, wenn er nicht vorhatte, es zu erklären. »Ihr seid ein außergewöhnlicher junger Mann«, sagte Ember. »Ich kann Eure Entscheidungen nur selten nachvollziehen.«
»Niemand zwingt Euch, mich zu verstehen«, erwiderte Alexander. Er konnte schlecht zugeben, daß er Ember auf eine gewisse Weise mochte, daß er diese Art mochte, wie sie sich stritten - Ember war und blieb ein Widerling, aber er bereitete Vergnügen. »Ich kann auch Eure Entscheidung, mich um diese Tageszeit aufzusuchen, nicht nachvollziehen, es sei denn, Ihr hättet eindeutige Absichten.«
Er spürte, daß weniger Entrüstung als mehr Berechung in Embers Rückfrage lag. »Für was haltet Ihr mich?«
Alexander setzte sich auf das Bett und zog die Beine an. »Ich halte Euch für einen rücksichts- und gewissenlosen Emporkömmling, Ember. Wenn es Euch irgend einen Vorteil brächte, würdet Ihr mit mir schlafen.«
Ember verzog keine Miene. »Und würde es… mir einen Vorteil bringen?«
Alexander zögerte. Nicht, weil er es ernsthaft in Betracht gezogen hätte, aber um Ember glauben zu lassen, daß er es tat. »Nein«, sagte er dann. »Ich glaube nicht, daß es Euch nützen würde. Wenn Ihr in meinem Ansehen steigen wollt, gebt mir meine Krone zurück.«
Mit einem breiten Grinsen entblößte Ember seine Zähne und legte dann sehr, sehr vorsichtig sein Bündel auf dem Boden ab. Es war, wenn man der Form überhaupt einen Namen geben konnte, länglich. Die Krone konnte es nicht sein, und doch hätte Ember kaum vorsichtiger damit umgehen können. »Eure Krone habe ich nicht. Ich hatte sie auch nie. Aber vielleicht könnte ich Euch etwas darüber erzählen… wenn Ihr Euch entschließen solltet, mich etwas mehr zu mögen.«
»Ich fühle mich geehrt«, erwiderte Alexander. »Ich bin unterschätzt und verhöhnt worden, aber erst jetzt, wo Ihr versucht, mich zu erpressen, fühle ich mich endlich wie ein vollwertiger Herrscher.«
Ember antwortete ohne zu zögern und zunehmend amüsiert. »Wenn Ihr das hier für eine Erpressung haltet, müßt Ihr wirklich noch viel lernen.«
Das Geplänkel machte Spaß, aber es war spät am Abend, und wenn das so weiterging, würde Alexander kaum jemals schlafen können. Ihm fröstelte. Gänsehaut zog sich über seine nackten Arme und Beine. Seine Würde zu bewahren, indem er sich keine Verlegenheit anmerken ließ, war schön und gut - doch nun durfte er aus diesem Grund nicht unter seine Decke kriechen, wo es wärmer gewesen wäre. Er mußte diesem Spiel ein Ende setzen. »Ember, warum seid Ihr dann hier? Wir haben um diese Zeit besseres zu tun, als ewig zu debattieren, also sagt, was Sache ist.«
»Ich wollte Euch ein Geschenk bringen, eines, das nicht jedes Auge in diesem Land sehen sollte«, wisperte Ember.
»Ist es ungerecht?« fragte Alexander.
Ember lachte leise. »In allerhöchstem Maße… und dann auch wieder nur allzu gerecht… Ich möchte Euch bitten, Euren Blick einen Moment lang abzuwenden, denn was ich sonst noch in meinem Bündel habe, sollt Ihr erst später zu Gesicht bekommen… Ein jedes Ding zu seiner Zeit, aber das wird Euch die Weisheit bereits gelehrt haben.«
Alexander wollte etwas erwidern wie ‘So wie mit Kronen?’, doch dann siegten seine Ungeduld und das leise Funkeln in Embers Blick, und er schloß seine Augen und drehte den Kopf zur Seite, bis Ember sagte: »Es muß Euch eine große Überwindung gekostet haben, meiner Aufforderung ohne Widerrede Folge zu leisten, und das soll belohnt sein. Nun schaut her!«
Ember saß mit verschränkten Beinen neben dem Stoffbündel auf dem Fußboden. In seinen Armen hielt er eine gläserne Flasche, so behutsam, wie Halan seine Schriftrollen halten würde, und mit ebenso großer Hingabe lächelte er Alexander an.
Der runzelte seine Brauen. »Und was soll das sein? Eine Flasche Wein? Wollt Ihr mich betrunken machen, damit ich willenlos bin, damit Ihr -«
Ember legte einen Finger an die Lippen. »Tse, tse, tse…nicht so voreilig, mein junger Prinz… Dies ist etwas, das Ihr noch nie gesehen habt. Es erfordert Ehrfurcht. Dies ist nicht weniger als Euer Geburtsrecht.«
Alexander konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Mein Geburtsrecht! Wollt Ihr mich mit einer Weinflasche krönen? Glaubt nicht, daß ich so leicht zu verhöhnen bin, Ember von Valon!«
Ember schüttelte den Kopf. »Glaubt mir, ich weiß, wie ich Euch verhöhnen muß… Sirah…« Alexander horchte auf bei diesem Wort. »Das ist der Wein der Engel und Könige, Goldwein. In Loringaril trinkt nur der König davon… Ich entsinne mich, daß Ihr Euch habt Nektar reichen lassen, als Ihr jenen verhängnisvollen Kronrat einberieft - und ich erinnere mich an Euren Gesichtsausdruck, als Ihr den ersten Schluck nahmt. Die Könige von Loringaril mögen nicht viel wissen, aber daß Nektar pur ungenießbar ist, haben selbst sie begriffen. Goldwein ist ein Gemisch von Nektar und edelstem Weißwein… Wenn es noch hell wäre, könnte ich Euch zeigen, wie sich die Schlieren des Goldes durch den Wein ziehen… Aber falls Euch diese Kerze genügt, seht selbst.«
Er hielt die Flasche Alexander hin, der sie mit spitzen Fingern nahm wie etwas Zerbrechliches, wie etwas Gefährliches, das seine Hände verbrennen konnte. Für ihn sah der Inhalt nicht anders aus als gewöhnlicher Weißwein, wie der, den sie zum Essen getrunken hatten. Der Wein der Engel - Damianders Wein war rot, nicht golden.
»Ihr wißt, was ich von Euch halte und wie weit ich Euch traue, Ember«, sagte Alexander. »Und dann erwartet Ihr, daß ich ausgerechnet einen Wein aus Euren Händen annehme?« Er mußte ein Gefühl der Erregung niederzwingen. Daß dies genau das war, was er brauchte - nicht für sich, aber für Halan - konnte er Ember nicht sagen.
»Nun, vergiften, will ich Euch zum Beispiel bestimmt nicht. Tot seid Ihr mir nicht von Nutzen. Ebensowenig als ein thronloser König. Ihr zwingt mich, ehrlich mit Euch zu sein, Alexander. Ich bin ein Mann, der seinen Vorteil sucht, ganz recht. Am Hof von Loringaril bin ich in Ungnade gefallen, seit ich nicht verhindern konnte, daß der Prinz, den ich beraten sollte, den Botschafter Doubladirs tötete. Aber alles, was ich jemals gelernt habe, alles, was ich jemals wollte, ist, ein Berater zu sein. Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich werde ihn nicht wiederholen. Ich möchte Euer Berater sein, Alexander. Glaubt mir - Ihr braucht mich. Ihr müßt noch vieles lernen… und ich kann Euch unterstützen im Kampf um Euren Thron. Ich kann Euch Eure Krone nicht geben, und auch nicht den Titel, nur diesen Wein. Wenn Ihr ihn nicht wollt, seid Ihr nicht interessiert, nicht an mir, nicht an dem Titel und nicht an der Krone, und ich kann Euch nicht helfen. Dann muß ich mich einem anderen Herren zur Verfügung stellen.«
Endlich schwieg er. Leise fragte Alexander: »War das jetzt eine Erpressung, Ember von Valon?«
Ember lächelte. »Vielleicht… Werdet Ihr den Wein trinken?«
»Ich würde Euch gerne auffordern, in den Nilomar zu springen und Euren Wein gleich mitzunehmen«, erwiderte Alexander. »Aber ich kann es mir nicht erlauben. Ich brauche jede Hilfe, die ich bekommen kann. Bis jetzt habe ich einen Chronisten und einen Hauptmann. Beiden traue ich blind. Euch traue ich nicht, egal, welche Spielchen Ihr auch mit mir versucht, ehrlicher Ember. Aber in jedem Fall kann ich eine Menge von Euch lernen - Wachsamkeit, und wie man lügt und nach Macht strebt. Letzteres ist nichts, was einen König auszeichnen sollte - aber ich bin noch kein König und muß es tun, und meine beiden Begleiter sind zu gut und zu ehrlich.«
»Also werdet Ihr den Wein trinken?« fragte Ember.
»Ich werde ihn probieren.« Alexander wartete einen Moment, bis Ember genug gelächelt hatte, und setzte hinzu: »Nach Euch.«
Ember machte die erwartete abwehrende Handbewegung. »Sirah, das darf ich nicht! Dieser Wein ist nur für Engel und Könige! Ihr würdet Euch selbst herabsetzen, wenn Ihr mich davon trinken ließet!«
Alexander schüttelte den Kopf. »Erstens. So könnt Ihr nicht beweisen, daß Ihr mich nicht vergiften wollt. Zweitens. In dieser Stadt bindet mich Tolimanders Gesetz, und es wäre höchst ungerecht, Euch diesen Wein, den Ihr mit eigenen Händen gestohlen habt, vorzuenthalten. Drittens. Ich wünsche es so. Und wenn Ihr bereit seid, mich als König anzuerkennen, dann wiegt für Euch mein Wort schwerer als jedes Brauchtum - Habt Ihr Gläser mitgebracht?«
»Ein einziges«, sagte Ember und zauberte es aus seinem Bündel. Alexander erkannte einen Zwilling jener Gläser, aus denen sie beim Essen getrunken hatten. »Ich konnte nicht erwarten…«
»Wir werden abwechselnd trinken«, erwiderte Alexander. »Und Ihr habt gelogen, als Ihr sagtet, nichts außer Berater gelernt zu haben. Wenn alle Höfe Euch davonjagen, so gebt Ihr immer noch einen passablen Dieb ab… Aber nun öffnet die Flasche.«
Vorsichtig entfernte Ember das Siegel mit der Spitze seines Dolches. Die Waffe gefiel Alexander, auch wenn er nicht sagen konnte, ob sie ihm auch in diesen Händen gefiel. »Das Glas ist geborgt. Ich werde es nachher selbstverständlich zurückstellen.«
Fasziniert beobachtete Alexander, wie er einschenkte. Er hatte noch niemals gesehen, wie eine Flüssigkeit in ein Glas glitt. Im schummrigen Licht der Talgkerze sah der Wein wirklich golden aus, und Sterne schienen in ihm zu schimmern. Dann hielt Ember Alexander das Glas hin.
»Ich sagte, Ihr trinkt zuerst«, erwiderte Alexander.
»Oh… das werde ich, das werde ich… aber schau ihn Euch an! Atmet ihn ein!«
»Trinkt und riecht zuerst, Ember. Ich weiß über giftige Dämpfe Bescheid. Ich mag jung sein, und verkommen, daß ich bereit bin, mich auf einen Dieb und Erpresser einzulassen - aber dumm bin ich nicht.«
»Wie Ihr wünscht…«
Alexander nahm kein Auge von Ember, als dieser das Glas an seine Lippen führte. Ember war angespannt und wachsam - Halan hätte nicht vorsichtiger sein können. Und wie Halan versuchte er zu schwindeln. Er trank nicht, gab nur vor, einen Schluck zu nehmen, und ließ das Glas wieder sinken.
»Trinkt es leer«, sagte Alexander. »Und dann schenkt mir ein.«
Embers Gefühle gefielen ihm - kurzes Erschrecken, aber keine Angst - offenbar war der Wein tatsächlich nicht vergiftet. Noch ein kurzes Zögern, als Ember erneut zu einem Schluck ansetzte… Erwartungsfreude… und endlich… Begeisterung. Ember ließ sich Zeit, das Glas zu leeren, aber es bestand kein Zweifel daran, daß er es genoß.
»Ihr könnt mich nicht täuschen«, sagte Alexander leise. »Laßt mich Euch etwas verraten: Ich kann Eure Gefühle lesen. Ihr mögt lügen, aber Euer Innerstes spricht die Wahrheit.«
Ember sagte nichts. Ohne sich zu rühren, saß er mit verschränkten Beinen auf dem Boden, das nun leere Glas in Händen. Alexander beobachtete ihn einen Moment, bis er endlich fragte: »Und? Beginnt das Gift bereits zuwirken?«
Ember schüttelte sehr, sehr langsam den Kopf. »Danke«, sagte er, und es schien, als sei seine Stimme noch ein klein wenig schleppender als zuvor. »Danke, daß Ihr mir gestattet habt, davon zu kosten. In meinem ganzen Leben… habe ich nichts Köstlicheres erlebt.«
Dann füllte er das Glas zum zweiten Mal, und es war ein klein wenig Wehmut dabei, als er es nicht selbst leeren, sondern an Alexander weiterreichen mußte.
Das Glas, wiewohl bis an den Rand gefüllt, war so leicht, daß Alexander es mit zwei Fingern sicher zu halten vermochte - nichts im Vergleich zu Damianders schweren Kelch - und ebenso leicht schmeckte auch der Goldwein. Die Süße des Nektars und das Herbe des Weines wurden hier auf ein angenehmes Maß abgemildert, und es ließ sich gut trinken - ein Schluck hinterließ einen klebrigen Nachgeschmack, den der nächste zu tilgen versprach, und Alexander hatte das Glas schnell gelehrt. Aber was er an Ember beobachtete, geschah nicht an ihm selbst - weder stieg ihm der Wein zu Kopf, noch fuhr er ihm in die Glieder. Es war ein angenehmer, leichter Tropfen, natürlich durfte man nicht zuviel davon trinken, aber in Maßen genossen, war er doch kaum berauschend. Wahrscheinlich vertrug Ember nur sehr wenig - das war etwas, das man ausnutzen mußte.
Gleichmütig lächelnd schob Alexander das Glas zurück. »Ich danke Euch für dieses Geschenk, Ember, und ich kann nicht abstreiten, daß es ein edles ist - noch mag ich es meinem Gewissen antun, Euch um den Genuß eines zweiten Glases zu bringen, also trinkt.«
Es war ein Triumph, Ember zuzusehen - so mußte sich Damiander fühlen, wenn er seinen Kelch herumreichte und doch selbst niemals wirklich berauscht war - es war ein gutes Gefühl. Es war Macht.
Wieder mußte Alexander an Koris denken, Koris, der kaum jemals Wein trank und doch immer welchen für seine Gäste bereithielt, Koris, der Alexander gelehrt hatte, die Schwächen seiner Gegner in Erfahrung zu bringen und auszunutzen… jetzt hätte er so stolz auf ihn sein können…
»Ihr seid so ein kluger Mann, Ember«, sagte er freundlich. »So ein weiser Berater - nun, was könnt Ihr mir über das Verschwinden meiner Krone verraten?«
Ember schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Sirah«, nuschelte er. »Wirklich, ich weiß nichts, wirklich nichts.«
»Und was für ein Geheimnis tragt Ihr da mit euch herum?«
»Das ist ein Geheimnis… Das kann ich nicht sagen.«
Der Wein mochte seine Wirkung an Ember tun, doch es reichte offenbar nicht aus, um ihm die Zunge zu lockern. Alexander trank das Glas leer und füllte es dann erneut für Ember. »Kann ich Euch dann zumindest für noch ein wenig Goldwein begeistern?«
Ember wich zurück. »Nein, tut mir leid, ich hatte genug… ich vertrage wirklich nichts mehr.«
Alexander lachte. »Ihr vertragt sehr, sehr wenig, Ember von Valon, nicht wahr? Kann es sein, daß dies das wahre Geheimnis des Goldweins ist? Engelsgeborene können ihn trinken wie Wasser« - er bewegte das Glas sanft in der Hand und sah fasziniert den Kreisen zu, die sich an der Oberfläche bildeten - »aber auf gewöhnliche Menschen wirkt es in höchstem Maße berauschend… Doch ich kann und mag diese Flasche nicht allein leeren, und da das Siegel einmal erbrochen ist, können wir sie also nicht verschließen - Ihr werdet mir wohl oder übel helfen müssen, Ember.« Mit kleinen Schlucken trank er. Es wurde Zeit, sich aus Embers Gefühlen zurückzuziehen - das klarste Kopf nützte ihm nichts, wenn er gleichzeitig den Rausch eines anderen teilte, und Ember begann sich seltsam anzufühlen… begierig…
Alexander schüttelte sich, doch das Begehren blieb. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete Ember, der immer noch am Boden hockte, entspannt und mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht, seine glänzenden Augen auf eine Stelle gerichtet, wo sie wirklich nicht viel zu suchen hatten. Alexanders kurzes Unterkleid war hochgerutscht. Schnell stand er auf, um es glattzustreichen. Ermuntern wollte er Ember nicht, und erst recht nicht begehren…
Als ihm das Zimmer entgegenrollte, begriff er seinen Fehler. Er fühlte sich vorwärts kippen und suchte einen Halt, aber es gab keinen, und so gelang es ihm nur, sich mit einer halben Drehung auf das Bett zurück zu retten. Er konnte nicht sagen, ob das nun sein eigener Schwindel war oder Embers; Gefühle wallten in ihm auf, und er konnte sie nicht abschütteln, noch einordnen… Dann stand Ember vor ihm, legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Alexander… geht es Euch gut? Ihr seid plötzlich so… blaß…«
Alexander starrte ihn an. Ein Teil von ihm hatte plötzlich Angst. Der Rest verlor sich im Glitzern von Embers Augen. Ihm war es noch nie zuvor aufgefallen… Es waren wunderschöne Augen.

Im Warteraum war es angenehm ruhig, angenehm kühl und angenehm schattig. Alexander legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Er war nicht müde - nicht so sehr, daß er sich nach Schlaf gesehnt hätte - aber seltsam erschöpft. Doch schlafen? Das wollte er lieber nicht. In diesem Moment fürchtete er seine Träume mehr als das Urteil des Alondras.
An seiner Seite rührte sich Halan. »Anders… geht es dir gut?«
Alexander seufzte. »Bitte, laß mich in Ruhe. Ich habe schlecht geträumt.«
»Du hättest gestern nicht soviel Wein trinken dürfen.« Alexander schrak hoch, starrte ihn an, und ließ sich dann wieder zurücksinken: Halan konnte nichts ahnen von den Träumen danach. »Ich glaube nicht, daß du damit einen guten Eindruck auf den Alondras gemacht hast.«
»Er wollte keinen guten Eindruck«, murmelte Alexander. Er fühlte sich zu schwach, um jetzt zu streiten - erst recht, wenn er nachher noch das Urteil des Alondras ertragen mußte. »Aber es tut mir leid.«
Mehr konnte er nicht sagen - nicht, daß er Damiander herausgefordert hatte, und nichts von Damianders Rache. Als sich Damiander vor seinen Augen in Koris verwandelte, da hatte er ihn durchschaut, und das, obwohl er sich so sehr nach Koris sehnte, daß er alles dafür gegeben hätte - warum mußte er ihm dann ausgerechnet in der Maske jenes Mannes erliegen, der widerwärtiger war als alles, was Alexander kannte? Bei dem Gedanken zitterte Alexander noch immer, und sein Mund war erfüllt von dem klebrigen sauren Nachgeschmack des Weins. Schmutz konnte man fortwaschen, aber wer sich in einem Traum besudelte, dem würde es noch lange anhaften. Mit Wasser zerstörte man keinen Traum.
»Also gut«, sagte Halan. »Ruh dich aus. Es wird noch ein wenig dauern, bis wir an der Reihe sind. Dann sage ich dir Bescheid.«
Alexander zeigte keine Reaktion - das war kein Angebot, das war eine Selbstverständlichkeit… Wortlos döste er vor sich hin, versuchte die Erinnerung zu verdrängen, wie auch den Gedanken, daß es vielleicht gar kein Traum war.
»Prinz Alexander… Prinz Harold… einen guten Morgen wünsche ich…« Entgeistert starrte Alexander in Embers Gesicht, unfähig, auch nur einen Gruß hervorzubringen. »Es freut mich, daß Eure Wartezeit bald ein Ende hat - ich habe gehört, daß Ihr schon heute zum Alondras vorgelassen werden sollt…«
Er erwiderte Alexander Blick, wieder ein Lächeln auf den Lippen. Es war nur ein Traum - Embers Gesicht verriet nichts von dem, was sein Ebenbild und Alexander in diesem Traum getan hatten. Seine Gefühle… Alexander wagte nicht, danach zu tasten - das leere Lächeln in Embers Gesicht gefiel ihm bedeutend besser.
»Wie auch immer«, fuhr Ember fort. »Ich will Euch nicht stören in Eurer… meditativen Vorbereitung. Ich wünsche Euch viel Glück - und die Antwort, die Ihr hören wollt.«
So rätselhaft wie er gekommen war, wandte sich Ember wieder zum Gehen. Nur zweierlei tat er noch: Er nickte Alexander mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Mundwinkeln so seltsam zu, daß dem angst und bang wurde, und zog mit beiden Händen seine Brokatweste zurecht - viel zu nachdrücklich und vielsagend. Dann war er fort, und die Müdigkeit ebenso. Alexander zitterte.
Nervös sah er sich um. Die anderen Wartenden - vielleicht zwanzig Leute mochten es sein, aber allein sie zu zählen wurde als Unhöflichkeit betrachtet - saßen dort wie Statuen, ein jeder auf seinem Stuhl, ein jeder für sich allein, ein jeder in seiner eigenen Welt. Keinen Blickkontakt zu haben in einem Raum voller Menschen war nur möglich, wenn man unbewegt auf seine Füße starrte, bis endlich die Tür am anderen Ende aufging und der eigene Name gerufen wurde. Niemals auf die Namen der anderen achten - niemanden nach dem Grund seiner Anwesenheit fragen - es gab keine Wachen, die hier auf die Einhaltung der Gesetze geachtet hätten. Es war nicht nötig.
Und ebenso, wie niemand in Landalon gegen die Gerechtigkeit verstoßen hätte, hatte auch niemand Embers kurzen, seltsamen Auftritt bemerkt. Alle sahen so tot und teilnahmslos aus - und doch fühlte Alexander sich beobachtet.
»Was für ein unangenehmer Mensch«, flüsterte Halan. »Seit er vorgibt, freundlich zu sein, sogar noch mehr als zuvor. Und wie er dich angesehen hat!«
Alexander hielt die Luft an und gemahnte sich zu Würde - kein Zittern. Keine Nervosität. Keine Bauchschmerzen… Er wurde beobachtet. Er konnte es fühlen. Der Mann dort in der Ecke - Alexander mußte erst den Stock, der neben dem Stuhl lehnte, bemerken, um in dem bärtigen Fremden Janek zu erkennen: Der Mann war gekleidet wie ein typischer tayelliner Arbeiter - und seit wann ließ er sich einen Bart wachsen? Als sie in Tayellin einritten, war er noch glattrasiert - wie lange war das jetzt her?
Janek nickte ihm zu, als sich ihre Blicke kreuzten, machte aber keine Anstalten, herüberzukommen. Statt dessen bedeutete er Alexander mit leichtem Winken seiner Finger, selbst aufzustehen und den Saal zu durchqueren. So lockten Mägde Gänse, um sie danach zu rupfen - so lockte man nicht Alexander! Aber auf der anderen Seite hatte er Janek lange nicht gesehen und war neugierig, wie es dem in dieser Stadt ergangen sein mochte - und so konnte er vermeiden, mit Halan über Ember sprechen zu müssen. Als Janek seinen Blick nicht anwandte, stand Alexander auf und ging zu ihm hinüber. Schließlich waren sie hier alle gleich, und Alexander hatte zwei gesunde Füße.
»Janek«, sagte er - an den anderen Namen mochte er sich nicht gewöhnen - »was gibt es?«
Janek grinste. »Ist schon in Ordnung - du kannst dich wieder hinsetzen.«
»Was?«
»Ich wollte dich nur mal aus der Nähe sehen.«
»Was?« fragte Alexander noch einmal, wütend. Er kam sich verhöhnt vor. Wollte Janek nur sehen, ob er parieren gelernt hatte?
»Ich wollte wissen, ob ich richtig gesehen habe.«
»Und was«, fragte Alexander ruhig und gedehnt, »hast du gesehen?«
Janek lachte leise. »Du machst keinen besonders frischen Eindruck. Ich fragte mich, ob das Fieber zurückgekehrt ist oder ob du gestern einfach nur über den Durst getrunken hast.«
Janek war neben Halan der einzige, vor dem Alexander zu erröten wagen konnte. »Fällt es so sehr auf?«
»Mirfällt es auf«, entgegnete Janek. »Aber ich habe auch geübte Augen.«
Alexander schluckte. »Du bist auch der Letzte, mir Vorwürfe zu machen.«
»Du verstehst mich falsch, Junge - das war kein Vorwurf. Das war nur Neugier. Ich wußte nicht einmal, daß es in dieser Stadt Wein gibt. Die Arbeiter zumindest bekommen keinen. Sie brauchen auch keinen, sagen sie. Sie sind mit ihrem Leben sehr zufrieden.« Leise lachte der Mann in sich hinein.
»Der Alondras hat Wein«, sagte Alexander, laut genug, daß wer wollte es hören konnte. »Wir waren bei ihm zum Essen eingeladen.«
Die Lachfalten um Janeks Augen vertieften sich. »Das erleichtert mich! Und ich fing schon an, an die Gerechtigkeit zu glauben.«
Der Stuhl neben ihm war frei. Alexander setzte sich. »Was wirst du den Alondras fragen?«
Die Lachfalten verschwanden, als Janek ihn scharf anblickte. »Das geht dich nichts an, und das weißt du.«
»Doch«, erwiderte Alexander fest. »Es geht mich etwas an. Denn davon hängt ab, ob du uns weiterhin begleiten wirst oder nicht.«
Janek hob eine rötlichbraune Augenbraue. »So, tut es das? Zumindest eines verspreche ich dir - ich bin froh, dieses Nest wieder hinter mir lassen zu können.«
Alexander lachte und rieb sich die juckenden Hände am Ärmelsaum, als plötzlich alle zu ihm hinstarrten. »Und ich dachte schon, du wolltest hierbleiben - bei dieser Frau.«
Janek schüttelte den Kopf und sah plötzlich müder aus, als Alexander sich fühlte. »Nein… das wäre nichts für mich. Hier gibt es nicht meine Art von Arbeit, oder meine Art von Leben.«
’Keinen Wein?’ wollte Alexander schon neckisch fragen, als sich plötzlich ein Schatten über ihn beugte und hüstelte.
Alexander wandte den Kopf zur Seite. Dort stand ein Mann, der anderswo Diener geheißen hätte - hier benutzte man sicher ein anderes Wort, aber Alexander hatte keine Lust, es noch zu lernen. Heute war ihr letzter Tag in Landalon.
»Es ist soweit«, flüsterte der Schatten. »Du kannst vor den Alondras treten.«
So wurde es hierzulande gemacht - wenn der König von Koristan Audienz hielt, wurden die Namen der Auserwählten mit klangvoller Stimme ausgerufen, aber hier geschah es, wie alles, mit verlegener Heimlichkeit. Alexander überlegte, er nun durch die Schatten zur Tür hin schleichen sollte - so hatten sich jene bewegt, die vor ihm an die Reihe gekommen waren - aber er nickte Janek noch einmal zu, durchquerte den Saal aufrechten Hauptes, während Halan ebenfalls aufstand und sich ihm anschloß.
Der Diener schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht, du bist erst danach an der Reihe, setz dich wieder hin, bis -«
»Wir gehen gemeinsam«, grollte Alexander ihn an. »Vor meinem Bruder hege ich keinerlei Geheimnisse. Aber Ihr werdet draußen bleiben!«
Entgeistert starrte der Diener ihn an. »Wie kannst du es -«
Doch Alexander ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Es ist meine Frage an den Alondras! Und ich allein kann entscheiden, wen sie etwas angeht!« Er schrie nicht. Er wußte, was sich gehörte, und daß man sie sonst wohl der Stadt verwiesen hätte. Doch seine Stimme ließ keinen Zweifel an der Gültigkeit seiner Worte. »Also unterlaßt es, so mit ihm zu reden!«
Der Diener atmete durch und zwang ein Lächeln in sein Gesicht. »Alexander«, sagte er ruhig. »Ich muß dich bitten, deine Worte zu mäßigen oder diese Halle zu verlassen. Der Alondras ist bereit, deine Frage zu hören.«
Es rauschte in Alexanders Ohren. Dies waren die Momente, in denen er die Beherrschung verlor. »Es tut mir leid«, würgte er hervor. »Dürfen… wir jetzt eintreten? Wir gehören zusammen - und unsere Fragen auch. Und wir möchten sie wirklich nur dem Alondras stellen.« Blut. Irgendwelches Blut würde noch an diesem Tag fließen. Zumindest in seiner Vorstellung. Aber bis dahin: Ruhe…
»Dann folgt mir bitte«, sagte der Diener. »Und überzeugt euch, daß eure Fragen nur von denen gehört werden, die sie hören sollen.«
Alexander nickte Halan zu, der ihn seltsam ansah, als wolle er ihm etwas sagen, aber nicht herausbringen. Warum sprach er dann kein Elomond? Alexander zuckte die Schultern und folgte dem Diener.
In seiner Größe brauchte sich die Halle des Richters hinter keinem Thronsaal zu verstecken. In seiner Kälte ebensowenig. Und Leere. Da waren zwei große Kerzen am anderen Ende der Halle, zwischen ihnen ein einfaches Stehpult, so wie das des Schreibers im Nebenraum… Wichtig war nicht das Pult. Wichtig war allein das Buch, das darauf lag. Das Buch. Tolimanders Buch. Die Kälte und Einsamkeit des Saales griffen nach Alexander, und Halans unbändige Ehrfurcht.
»Ihr dürft näher herantreten«, sagte der Diener. »Wenn ihr in der Mitte steht, kann man euch besonders gut hören.«
Alexander konnte nur eingeschüchtert nicken. Wie konnte eine Halle so weit sein, und zugleich so erdrückend? Die tonnenförmige Decke spannte sich hoch über Alexanders Kopf, doch er wagte es nicht hochzusehen. Jetzt wollte er nur noch seine Frage stellen und dann wieder fort, so schnell wie möglich. Wie hielt es der Alondras nur den ganzen Tag an einem Ort wie diesem aus? Mit halbgeschlossenen Augen versuchte Alexander, sich in den Richter zu versetzen, seinen Blick umzukehren… Der Alondras hatte immer den Ausgang vor Augen, seine Opfer nur eine fensterlose Wand. Vielleicht half das. Trotzdem wollte Alexander mit dem Mann nicht tauschen. Hatte er jemals mit Koris tauschen wollen?
»Willkommen in der Halle der Gerechtigkeit.« Die Stimme des Alondras, schön, volltönend und unheimlich, füllte den Raum und ließ Alexander sich noch kleiner und verlorener fühlen. »Tolimander wird sich eure Fragen anhören und in seinem Buch mit unumstößlicher Wahrheit beantworten. Doch wählt eure Worte mit Bedacht - denn ich kann jedem meiner Besucher nur eine einzige Frage erlauben.«
Wie oft am Tag, wie oft in seinem Leben sprach er wohl diese Worte? Alexander wollte es lieber nicht wissen. Er begriff, daß er Angst hatte, und das machte ihm mehr Angst. Sein Mund war plötzlich trocken. Noch vor einem Augenblick lag seine Frage noch klar und deutlich vor ihm, wie ein Pfeil, der nur darauf wartete, dem Alondras entgegengeschossen zu werden - nun war sie fort und nichts übrig als ein paar einzelne, verlorene Wortfedern.
»Ihr seid bereit, euch der Gerechtigkeit zu stellen«, fuhr der Alondras fort. »Doch seid gewarnt, denn sie ist unbarmherzig und liebt niemanden als sich selbst.«
Alexander schluckte. Dies klang wie die Frage-und-Antwort-Zeremonie zu seiner mißglückten Krönung - nur, daß er damals die Möglichkeit bekommen hatte, seinen Text Tage im Voraus zu lernen. Jetzt wußte er nicht, was er sagen sollte.
Der Alondras erlöste ihn, indem er weiterredete, und doch wurde Alexander das Gefühl nicht los, in einer wichtigen Prüfung versagt zu haben. »Aber wer ein gerechtes Leben führt, hat keinen Grund, sie zu fürchten, denn sie ist die Wahrheit.« Er machte eine Pause. »Und nun fragt. Das Buch der Gerechtigkeit kennt eure Antworten.«
Alexander atmete durch, und selbst sein Atem zitterte. Wenn er jetzt sprechen mußte, war er verloren! Wo war Halan, wenn er ihn brauchte?
Doch dann straffte er sich, kniff die Schulterblätter zusammen, bis es wehtat. »Keine Antwort der Welt kann grausamer sein als das Schicksal, das ich ohne sie erleiden muß«, sagte er, viel lauter als eigentlich nötig, damit seine Stimme auch wirklich kraftvoll klang und von den Wänden widerhallte. »So höre denn meine Frage, Tolimander, allsehender Engel der Gerechtigkeit.« Endlich wußte er, warum die Anwesenheit des vierten Mannes gar kein Problem war - nicht für Halan und ihn. Alexander stellte seine Frage auf Elomond. »Wer ist der rechtmäßige Herrscher von Koristan?«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, nur der Nachhall der Worte im leeren Raum war zu spüren. Dann schlug der Alondras mit beiden Händen das mächtige Buch auf und blickte hinein. Er winkte den jungen Mann zu sich hinüber, deutete auf die Seite vor ihm, murmelte etwas - und erst jetzt begriff Alexander, daß es sich nicht um einen Diener handelte, sondern um den Sohn und Erben des Alondras. Er biß sich auf die Zunge. Wenn sie herauskamen, würde er Halan schlagen, weil der ihn nicht gewarnt hatte… Seine Hände juckten.
»Deine Antwort lautet«, donnerte der Alondras, und Alexanders Herz blieb stehen, »Korisander.«
»Nein, das meinte ich nicht!« rief Alexander. »Was ich meinte, war -« Seine Stimme erstarb unter dem durchdringenden Blick des Alondras.
»Nur eine Frage, und wählt sie mit Bedacht. Das gilt auch für euch, wie für jeden anderen. Doch sicher werdet ihr diese Antwort noch als gerecht und weise erkennen - urteilt niemals vorschnell! Nun lebt wohl, und möge eurem Land Gutes angedeihen.«
Alexander zitterte. Er wollte schreien und konnte es nicht, wollte rennen, wollte nach vorne stürmen und das Buch des Alondras, das sogenannte Buch der Gerechtigkeit, zerfetzen, bis nichts mehr davon übrig war. Er konnte sich nicht rühren. Die Stimme des Alondras ertönte in seinem Kopf, schwoll zu einem Tosen an, bis er meinte, bersten zu müssen.
»Meine Frage«, sagte Halan leise an Alexanders Seite. Seine Stimme klang so, wie Alexander sich fühlte, und war doch mehr, als er selbst noch hervorzubringen vermochte. »Ich möchte meine Frage noch stellen.«
»Tolimander wird dich hören«, erwiderte der Alondras. Vorsichtig schlug er das Buch wieder zu. »Doch sei gewarnt: Eine leichtfertig gestellte Frage, und die Antwort -«
Halan fiel ihm ins Wort, bevor er den ganzen Text noch einmal aufsagen konnte. Nicht vor Angst oder Einschüchterung zitterte seine Stimme - es war Wut. Halan, der ruhige, beherrschte Halan, stand so kurz davor, einen Mann anzuschreien, wie Alexanders es noch nie erlebt hatte, nicht, solange er wach war. »Die Antwort auf meine Frage wird uns nicht gefallen, egal, wie sie ausfällt.« Er blieb in der Gemeinsprache, als sei der Alondras des Elomond nicht würdig. Trotzig trat er vor, bis er direkt vor dem Pult stand, nah genug, um selbst in das Buch zu blicken. Alexander blieb allein zurück in der Mitte der Halle. Er konnte Halan nicht nachgehen.
Halan stellte seine Frage so leise, daß sie eine Drohung hätte sein können. »Wer besitzt, in diesem Moment, Korisanders Krone der Weisheit?«
Vater und Sohn Alondras blickten sich an, schlugen das Buch auf, blickten hinein, wieder einander an, wieder in das Buch. Verwirrung schlug Alexander entgegen, und Halans Ungeduld, als dieser sich auf die Zehenspitzen stellte, um in das Buch hineinsehen zu können. Dann sagte der Alondras mit ruhiger, volltönender Stimme, die den Saal füllte, als sei nichts geschehen: »Deine Antwort lautet: Amra.«

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