Zwölftes Kapitel

»Dunkelkind!« Die Kleine gluckste vergnügt, als Natara sie kitzelte. »Dunkelkind! Du bist ein kleines Dunkelkind!«
Natara genoß diese Momente, in denen sie mit dem Kind allein sein durfte - sie mochte Kinder, aber wenn Erwachsene dabeiwaren, durfte sie nicht so herumtollen. Doch wenn Aralee ihr auftrug, mit Amra zu spielen… »Dunkelkind!« rief sie wieder und hielt sich die Hände vors Gesicht. Wieder quietschte die Kleine. Man mußte sie gar nicht mehr kitzeln. Das Wort genügte.
Aber Amra war wirklich ein Dunkelkind. Sie mochte kein Licht. Sie bekam Angst, wenn es hell war. Sie versteckte sich im Schatten, wenn die Sonne schien. Natara bemühte sich immer wieder, nicht daran zu denken, was Amra war - was sie vielleicht war. Vor allem war sie schließlich ein Kind. Ein kleines Mädchen, vielleicht vier Jahre alt - es war so leicht, das zu vergessen…
»Noch mal?« fragte Natara, atemlos vom Lachen.
»Nein«, sagte Amra.
Natara mochte die Art nicht, mit der Amra ‘Nein’ sagte. Sie kannte kleine Mädchen - noch aus der Zeit, als sie manchmal die Nachbarskinder hütete - sie sagten nicht einfach ‘Nein’. Sie schüttelten den Kopf dabei und riefen »Nein, nein, nein!«, ganz oft nacheinander. Wenn Amra dagegen ‘Nein’ sagte, dann sagte sie es nur einmal. Und sie sah ihrem Gegenüber dabei ganz ruhig in die Augen. Das machte Natara Angst.
»Was willst du dann spielen?« fragte Natara.
»Nichts mehr«, sagte Amra. »Ich will nichts mehr spielen.«
»Aber es war doch gerade so lustig«, sagte Natara.
»Es war seltsam«, sagte Amra leise. »Du hast mir Angst gemacht, Natara. Warum mußte ich so lachen? Ich wollte doch gar nicht lachen.«
»Aber - ich habe dich doch nur gekitzelt«, stammelte Natara verwirrt. »Alle Leute lachen, wenn man sie kitzelt.«
»Warum?« fragte Amra.
Natara suchte nach Worten. Kinder fragten oft ‘Warum’. Aber sie fragten es nicht so. »Weil es lustig ist«, sagte sie dann.
»Aber das war nicht lustig.«
Natara seufzte. »Es tut mir leid. Verrat es ihr nicht, ja?«
Amra blickte sie an, ohne zu blinzeln. Im dämmrigen Licht wirkten ihre Augen riesig, und beinahe schwarz. »Ich will nichts verraten. Ich will nur nicht lachen, wenn ich nicht mag.«
Vorsichtig umarmte Natara die Kleine, obwohl sie wußte, daß sie auch das eigentlich nicht sollte. »Ich werde dich nicht mehr kitzeln, versprochen. Aber wenn du nicht mehr spielen willst - was sollen wir dann tun?«
»Nach drinnen gehen«, sagte Amra. »Ich will in den Büchern lesen.«
»Aber eine Geschichte kann ich dir auch hier draußen erzählen«, sagte Natara schnell. »Warum sollen wir reingehen, solange es noch warm ist?« Sie kannte den Grund schon. Draußen im Park war es zwar schön warm und sonnig, aber eben auch hell. Selbst unter den Bäumen war es nicht schattig genug für Amra, noch nicht einmal jetzt, wo die Sonne langsam unterging.
»Deine Geschichten will ich nicht hören«, entgegnete Amra und schüttelte Nataras Arme ab. »Deine Geschichten sind dumm.«
Beleidigt biß Natara die Lippen zusammen. Sie hatte keine große Erfahrung darin, sich Geschichten auszudenken, aber sie versuchte doch immer ihr Bestes, um Amra eine Freude zu machen. Ein so kleines Mädchen sollte nicht in staubigen Bibliotheken herumsitzen. Es war unheimlich, daß Amra schon lesen konnte, besser und schneller als Natara. Aber was an diesem Kind war schon nicht unheimlich?
»Später«, sagte Natara. »Wir gehen nachher zu den Büchern. Aber jetzt -«
»Später ist jetzt.« Amra lief los, auf das Haupttor zu. Natara hätte sie leicht einholen können - zwar konnte Amra, wie eigentlich alle kleinen Kinder, ziemlich schnell laufen, wenn man bedachte, wie kurz ihre Beine eigentlich waren, und manchmal war sie so schwer zu fangen wie ein Kaninchen - aber sie begnügte sich damit, dem Kind mit langen Schritten zu folgen. Zum einen war es sinnlos, Amra etwas ausreden zu wollen, das sie sich fest vorgenommen hatte, und natürlich wollte Natara nicht, daß Amra schrie und tobte und sich auf den Boden warf. Zum anderen durfte Natara nicht rennen. Es reichte aus, einmal zu stolpern oder falsch aufzutreten, und ihr Knöchel würde wieder für den Rest des Tages stechen. Nicht rennen. Nicht hüpfen. Und vielleicht nie wieder tanzen…
Gerade so eben gelang es Natara, vor den Wächtern am Tor zu knicksen - auch das tat weh, und so war es mehr eine angedeutete Geste. Aber die Männer lachten nur und winkten sie durch, ebenso wie sie auch Amra durchgelassen hatten. Wenn sie alleine war, hatte Natara am Hauptportal nichts zu suchen, aber Amra lief mit solcher Selbstverständlichkeit dorthin, wie sich ihr auch niemand in den Weg stellte oder sie zur Nebenpforte schickte. Wenn Amra sich näherte, wichen die Erwachsenen zurück - zum Glück hatte niemand von ihnen gesehen, wie Natara mit Amra im Gras herumtollte! Hester hätte Amra gemocht, dachte Natara, aber diesmal blieb ihr nicht die Zeit, stehenzubleiben und traurig zu sein. Erst mußte sie versuchen, Amra wieder einzufangen, ohne für Aufsehen zu sorgen.
»Bleib doch stehen!« rief sie leise. »Warte auf mich!« Natürlich dachte die Kleine nicht daran. »Wo willst du denn hin?«
Amra rannte zielstrebig den Gang hinunter, ohne zu antworten. Zumindest war es nicht der Weg zum Bücherkeller. Amra liebte den Keller - dort gab es alles, was sie mochte: Bücher und Dunkelheit. Natara aber haßte es dort. Keinen Fuß wollte sie mehr auf die Treppe setzen, bevor sie wußte, was dort unten wartete. Oder wer. Doch Amra lief nicht zur Treppe. Sie lief, Natara immer einen Schritt hinter ihr, an der großen Doppelflügeltür des Thronsaals vorbei, an den geschlossenen Türen der kleinen Besprechungszimmer, bis sie plötzlich kurz vor der nächsten Ecke stehenblieb.
Sie drehte sich um, lächelte Natara an und machte »Pssst!«, mit großem Ernst und einem Finger an den Lippen, so wie Natara es ihr beigebracht hatte, als sie das Nest der Haselmaus im Park fanden. Natara nickte und legte eine Hand an ihren Mund, als Zeichen, daß sie verstanden hatte. Dann bemerkte auch sie die Stimmen.
Die Frau war Aralee, daran gab es keinen Zweifel. Die beiden Männer dagegen erkannte Natara nicht.
»- werde ich nicht zulassen«, sagte Aralee gerade.
»Es ist nicht an Euch, darüber zu entscheiden.« Ein älterer Mann, mit dunkler Stimme, die Natara bekannt vorkam, wenn sie auch nicht sagen konnte, woher.
»Natürlich verstehen wir, daß Ihr Euch zu sperren versucht.« Ein anderer Mann, jünger, und Natara völlig fremd.
Vorsichtig schob Natara sich auf die Ecke zu. Sie wollte wissen, mit wem ihre Herrin da sprach, und warum es auf dem Flur geschah, wo es jeder hören konnte, und nicht in einem der Zimmer.
»Aber sie ist ein Kind! Sie ist bestenfalls vier Jahre alt. Sie gehört nicht auf den Thron. Und Koristan nicht unter die Herrschaft eines Kindes.«
Jetzt sprach wieder der erste Mann. »Es ist ein Engelsurteil, und Ihr werdet Euch ihm beugen müssen.« Es gelang Natara, einen Blick auf ihn zu erhaschen: Er war groß und streng, gekleidet in eine bodenlange hellgraue Robe. Jetzt erkannte Natara ihn auch wieder: Das war der Oberste Richter, der Mann, der auch bei der verunglückten Krönung geredet hatte. Dann mußte der andere einer von den Grafen sein, die Aralee immer so zu schaffen machten.
»Es mag sein, daß Korisander selbst uns dieses Kind gesandt hat«, begann Aralee, doch diesmal fiel ihr der Graf ins Wort.
»Es ist nur allzu verständlich, daß Ihr befangen seid, Witwe. Schließlich ist es in Eurem Interesse, daß Euer Sohn herrscht -«
»Das ist es nicht!« Natara erschrak über die ehrliche Schärfe in Aralees Stimme. »Selbst er war noch zu jung, und ich war nicht glücklich darüber, daß er seinem Bruder so früh nachfolgen sollte. Aber Ihr werdet mir nicht verdenken können, daß ich mich um dieses Land sorge, und um dieses Kind ebenso!«
»Verzeiht, Aralee, wir wollten Euch nichts unterstellen«, sagte der Richter eilig. »Ich verstehe Euch nur allzu gut. Jede andere Lösung wäre mir lieber gewesen als diese. Oft habe ich darum gebetet, daß der junge Alexander die Krone wohlbehalten nach Hause bringen möge. Aber ich bin Richter. Ich mache die Gesetze nicht, ich befolge sie nur.«
Natara legte ihre Hände auf Amras Schultern, damit die Kleine nicht ausgerechnet jetzt loslief und sie beide verriet. Es gehörte sich nicht zu lauschen, soviel stand in jedem Fall fest. Aber es war so spannend - und es ging sie ja auch irgendwie an, und Amra auf jeden Fall - und wenn sie nicht belauscht werden wollten, sollten sie das nächste Mal eben dahin gehen, wo man sie nicht so leicht hören konnte.
»Ein Engelsurteil«, jetzt klang Aralees Stimme wieder ganz sachlich, »ist im Zweifelsfall das, was Ihr zu einem solchen erklärt. Nirgends steht geschrieben, daß ein Kind, das beim Spielen im Garten die Krone findet, sofort auf den Thron zu setzen ist.«
Die Miene des Richters verfinsterte sich. »Mäßigt Eure Worte, Aralee! Ihr habt mein Verständnis - aber verspielt es nicht!«
Aralee schwieg. Natara drückte Amra an sich. Die Kleine zitterte.
»Verzeiht«, sagte Aralee schließlich. »Ich weiß ebensogut wie Ihr, daß Amra nicht irgendein Kind ist. Und ich weiß, was die Gesetze verlangen. Aber dort ist nur die Rede von der Krone. Niemals vom Palast.«
»Was meint Ihr damit?« fragte der Graf ungehalten, doch der Richter nickte erleichtert.
»Ihr seid die Hausherrin, das steht außer Frage. Euer Sohn hat Euch eingesetzt, und ich habe Euch bestätigt.«
»Wer die Krone hat, ist König«, sagte der Graf unnachgiebig.
»Ja«, erwiderte Aralee. »Aber nirgends, in keinem Buch, in keiner Chronik, steht, daß ein König auch herrschen muß.«
Die beiden Männer lachten. Amra riß sich los und lief zu Aralee, schlang ihre Arme um die Beine der Königswitwe. Aralee klopfte ihr sanft auf den schwarzhaarigen Kopf.
»Ist ja gut, mein Schatz«, sagte Aralee. »Dir passiert nichts, darauf gebe ich schon acht.«
Natara machte einen Schritt zurück, doch es war bereits zu spät. Aralee blickte direkt in ihre Richtung, und ihr Gesicht war deutlich unfreundlicher als zuvor im Umgang mit dem Kind.
»Und du, Natara.« Natara wäre am liebsten im Boden versunken; es war schlimm genug, ertappt zu werden, aber vor dem Grafen und dem Richter, ausgerechnet… Sie trat vor, mit brennendem Gesicht, die Augen fest auf den Fußboden gerichtet »Du sollst mir bei Gelegenheit erklären, was genau du unter ‘draußen’ verstehst, denn als ich dich mit Amra dorthin schickte, hatte ich eigentlich etwas anderes im Sinn als den Flur.«
Wieder lachten die beiden Männer, der Graf lauter als der Richter, und sie blickten an Natara hinunter… Es war ein Moment, in dem es besser war zu sterben als zu überleben.
»Aber wie auch immer«, fuhr Aralee fort, »ihr seid beide schmutzig und voller Grasflecken, und so will ich das noch einmal gelten lassen.«
»Es tut mir leid«, flüsterte Natara.
Aralee schüttelte den Kopf. »Das ändert nichts. Aber wenn du jetzt sofort zu Mira läufst und ihr sagst, sie soll das Bad für Amra herrichten - werde ich die Entschuldigung akzeptieren.«
Natara nickte. Dann lief sie los. Oder besser: Lief sie weg.

Egal, wie tief Natara auch Luft holen mochte, sie wurde das Gefühl nicht los, jeden Moment in Ohnmacht fallen zu müssen. Sie konnte nicht richtig atmen. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Natara versuchte zu schlucken, aber ihre Zunge war ihr im Weg. Und ihr Herz klopfte so laut…
»Aufgeregt?« fragte die Zofe. »Wie kommt’s, wirst du gekrönt oder die Kleine?«
Natara schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht aufgeregt. Ich habe Angst.«
»Warum?« fragte die Zofe weiter. »Glaub mir, du hast keinen Grund. Zumindest keinen, der es wert wäre, derart herumzuzappeln.«
Im Spiegel konnte Natara sehen, daß die Frau lächelte. Ihr Gesicht kam Natara bekannt vor, aber sie wußte nicht genau, woher. Zwar kannte sie inzwischen die meisten Zofen, Zimmermädchen und Köchinnen, doch diese gehörte nicht zu ihnen. Vor allem war etwas in ihrer Art, das Natara ein wenig von ihrer Angst nahm. Aralee hatte nur gesagt ‘Hier, nimm Natara und mach etwas aus ihr, aber nicht zuviel’. Und als sei keine weitere Erklärung nötig, saß Natara nun vor dem Spiegel, und das Lockeneisen fraß sich durch ihr Haar und ließ einen stechenden, verbrannten Geruch zurück, während die rothaarige Zofe sie auslachte.
»Wenn ich du wäre, würde ich mir ganz andere Sorgen machen!«
Natara blickte sie verzweifelt durch den Spiegel an. Sie traute sich nicht mehr, den Kopf zu wenden, aus Angst, das heiße Eisen ans Ohr zu bekommen. »Warum denn?« flüsterte sie.
Die Zofe grinste. »Die Krönung, die Feierlichkeiten, alles das hast du morgen hinter dir. Aber dann hast du immer noch viel zu dünnes, viel zu kurzes Haar, mit dem sich nichts anfangen läßt, und du bist immer noch flach wie ein Brett.«
Natara erstarrte. Sie riß die Augen auf, um nicht auch noch zu heulen. »Redet nicht so mit mir!« stieß sie hervor. »Ich bin -« Um ein Haar hätte sie gesagt ‘Ich bin die zukünftige königliche Chronistin’, doch im letzten Moment biß sie sich auf die Zunge. Das war nichts, was sie sein wollte, und nichts, worauf sie stolz war - stolz sein wollte. »Ich bin doch erst zwölf«, sagte sie statt dessen.
»Ach, wirklich? Du siehst aus wie zehn.«
Das war genug. Natara stand auf, schob den Schemel zurück und blickte die Frau an mit dem, was sie für ihren härtesten und entschlossensten Blick hielt. »Ihr habt nicht das Recht, Euch über mich lustig zu machen!« fauchte sie, ihre Stimme bereit, jederzeit in ein weinerliches Schluchzen umzuschlagen. Natara haßte sie dafür.
Sie haßte sich selbst, nicht die Frau, als sie diese wütend anfunkelte, und doch erkannte sie die Zofe in diesem Augenblick. Es war nicht ihr Aussehen - sie sah sie zum ersten Mal von vorne - aber ihre Stimme. Ihre verächtliche Art. »Ihr seid… die Frau aus dem Zimmer«, stammelte sie.
»Alle Frauen kommen aus irgendwelchen Zimmern, hoffe ich«, erwiderte die Zofe. »Und ja, du hast Recht. Gelobt seien die Engel, ich darf mich wieder frei bewegen.«
Natara biß die Lippen zusammen und spürte wieder die Kraft der Bosheit in sich. Es gefiel ihr nicht, und gleichzeitig gefiel es ihr. »Aralee wird es nicht mögen, wie Ihr mit mir umgeht«, sagte sie leise und fühlte sich wie eine gemeine kleine Petze.
»Oh, das weiß sie. Wenn es nur darum ginge, dich zu schminken oder dir Locken in die Haare zu drehen - da gibt es Dutzende von Frauen, die das besser können als ich. Aber dann wärst du immer noch ein dünnes kleines Mädchen in einem komischen Kleid. Ich habe andere Sachen gelernt. Ich kann dir helfen, dich ein wenig älter zu fühlen.«
»Was für Sachen?« fragte Natara zaghaft. Sie verstand nicht…
»Sachen, die du noch nicht lernen solltest. Und, wie man keine Angst vor den Dingen hat. Oder vor den Leuten.«
»Wie?« piepste Natara. Sie fürchtete beides. Zumindest fürchtete sie den Abend, der vor ihr lag. Die Krönung.
»Indem du dich über sie lustig machst. Indem du sie siehst, wie sie wirklich sind.« Die Zofe klopfte Natara auf den Rücken und drückte sie sachte auf den Schemel zurück. »Nimm das kleine Mädchen. Wird Königin, und ist doch nur ein kleines Mädchen. Glaubst du, mit Erwachsenen ist das irgendwie anders? Der Richter, die Grafen - niemand von ihnen ist stärker als du oder ich. Also reg dich nicht auf. Es wird eine lustige Nacht.« Natara hätte gern mitgelacht.
»Nicht für mich«, sagte sie und seufzte. »Ich muß sie aufschreiben.«
»Um so besser«, entgegnete die Zofe vergnügt, und doch wußte Natara aus ihrem Gesicht, daß die Frau mit Worten wie lesen oder schreiben nicht viel anfangen konnte. Wie viele der Menschen, die nachher im Thronsaal sein würden, konnten das, was Natara konnte? Die Grafen? Der Richter? Das Volk? Aralee konnte es, und Amra auch. Natara würde so schnell nicht aufhören, die beiden zu fürchten. Aber was die anderen anging, so halfen die Worte der Zofe. »Wenn du es richtig aufschreibst, werden alle wissen, wie lächerlich es in Wirklichkeit war.«
So einfach ging das nicht, aber Natara wollte nicht widersprechen. »Es gibt Regeln.«
»Es gibt immer Regeln, Regeln für das ganze Leben. Man kann sie befolgen und doch durch sie hindurchsehen.«
Natara wollte das nicht hören. Die Worte begannen gefährlich zu klingen, und wenn sie auch sicher besser waren als die Angst, wollte Natara doch nicht mit ihnen im Kopf über die Krönung schreiben müssen. »Ihr redet wie eine Ketzerin«, sagte sie streng. »Und ich weiß, daß es Aralee nicht gefallen wird, daß Ihr so mit mir sprecht.«
Amüsiert schüttelte die Zofe den Kopf. »Sprich nicht von Ketzern, bevor du weißt, was sie sind. Nun gut - was Aralee will, daß du denkst, soll sie dir selbst sagen. Worüber willst du dann reden?«
»Lieber über gar nichts«, erwiderte Natara. »Ich muß mich konzentrieren.«
Die Zofe blies noch einmal auf das Lockeneisen, berührte es vorsichtig mit dem Handrücken, nickte zufrieden und legte es in die Schachtel zurück. »Dann hätten wir das also. Oder möchtest du noch ein Paar Socken?«
»Socken?« Natara blickte auf ihre Füße. Weiße Socken, weiße Schuhe, die gerade eben unter dem Saum des weißen Kleides herausschauten. Die Schuhe waren ein wenig zu groß, aber noch ein Paar Socken? Natara schüttelte den Kopf. »Ich kann sonst nicht mehr laufen.« Hoffentlich stolperte sie nicht während der Zeremonie! Wenn sie noch einmal umknickte, war das schlimm genug - aber bei allen Engeln, nicht in dieser Nacht!
»Nicht für die Füße.« Die Zofe legte eine Hand auf Nataras Schulter und schob sie dann langsam unter den Kragen, auf Nataras Brust. Natara erschrak, doch sie rührte sich nicht. Es war schlimm, wenn ein Mann das versuchen sollte - aber vor Frauen mußte sie keine Angst haben. »Schau her«, sagte die Zofe und krümmte ihre Hand, so daß sie sich wie ein kleiner Berg unter dem Stoff abzeichnete. Es sah seltsam aus - nicht wie eine Brust, mehr wie eine Beule. »Ein paar aufgerollte Socken ergibt nette kleine Mädchenbrüste. Sie tun nicht weh, und sollte einer der noblen Grafen in der Hitze der Nacht auf die Idee kommen, dich zu begrapschen, bekommt er auch nur Wolle zwischen die Finger. Was sagst du dazu?« Die Zofe zog ihre Hand wieder zurück. Erleichtert atmete Natara auf. Aber sie wußte nicht, was sie sagen sollte, außer »Warum?«
»Du wirst dann ernster genommen. Niemand wird dich auslachen. Das ist es doch, worum es dir geht?«
Natara biß die Lippen zusammen, unsicher, ob sie lachen oder heulen sollte. »Ich dachte, man nimmt Äpfel«, sagte sie dann.
»Äpfel? Nur dumme Hühner stecken sich Äpfel ins Mieder. Das sieht man. Und es tut weh. Und es wird sich immer wie ein Apfel anfühlen. Das einzige, was peinlicher ist, sind Männer mit Walnüssen.«
»Walnüssen?« wiederholte Natara und bemühte sich, sehr verwirrt zu klingen, denn sie hatte eine Idee, was die Frau meinte.
»Walnüsse. In der Hose. Glaub mir - ich kann mir angenehmere Verwendungen für Walnüsse vorstellen.«
Ihr Gesicht war so ernst und geheimnisvoll, daß Natara losprustete. Die Zofe klopfte ihr auf den Rücken. »Geht es?«
Natara huste. »Das war«, fing sie an. ‘Ungehörig von Euch’ wollte sie sagen, aber wie kam sie dazu, einer erwachsenen Frau Vorwürfe oder Vorschriften machen zu wollen? »Gemein«, sagte sie.
»So bin ich«, erwiderte die Frau. »Und jetzt sitz ruhig! Augen zu! Kopf in den Nacken!«
Während sie gehorchte, sah Natara die Frauen des Hofes vor sich. Welche von ihnen trug wohl Socken unter dem Hemd? Oder Äpfel? Natara mußte grinsen und biß sich auf die Zunge. Etwas kitzelte ihr Gesicht. Und in ihren Nase.
»Ruhig! Du wirst abgepudert. Das ist nur Kreidestaub.«
Natara versuchte ruhig durchzuatmen. Wenn sie jetzt gepudert wurde, bedeutete es, daß sie es bald hinter sich hatte. Zumindest das Herausputzen. Hinter ihr ging die Tür auf. Natara wandte sich nicht um, als sie versuchte, durch den Spiegel zu schielen.
Amras kleiner Kopf tauchte im Türrahmen auf. In ihr glattes schwarzes Haar hatte man keine Locken gezwungen, doch sie trug einen Kranz aus Perlen darin. Nein, es war kein doch Kranz: Es war eine Perlenkette, die Amra, doppelt gelegt, auf dem Kopf trug. Natara mußte lächeln. So etwas hatte sie früher auch einmal gemacht, als sie den Schmuck ihrer Mutter stahl, um sich damit zu verkleiden. Nur, daß niemand Amra dafür verprügeln würde.
Dann war Amra im Zimmer, huschte zu Natara hin und zupfte sie am Kleid. »Schön?« fragte sie.
Natara nickte. »Wunderschön«, sagte sie ernst, und es stimmte auch. Amra war ein schönes Kind, aber jetzt sah sie aus wie eine Puppe. Ihr Gesicht war weiß geschminkt und glänzte silbrig. Wie lackierter Stein, nicht mehr wie Haut. Und dieses Kleid - das schwere Brokatgewand reichte Amra bis auf die Füße. Und Aralee hatte die Ärmel gesäumt: Auf dem Krönungsgewand waren zwei Schwäne abgebildet, ihre Hälse reckten sich die Arme entlang. Nun fehlten ihnen die Köpfe. Aber es fiel nur auf, wenn man es wußte. Amra sah sehr würdevoll aus. »Wie eine richtige Königin.«
Das war offenbar genau das, was Amra zu hören erhofft hatte. Sie lief um Nataras Hocker herum und zupfte an der Zofe. »Schön?«
Natara biß die Lippen zusammen, um nicht lachen zu müssen. So viele Gäste würden heute Nacht versammelt sein - wenn Amra das bei jedem von ihnen machte… würde die Krönung sicher noch bis zum nächsten Mittag dauern.

Und als nun die Stunde gekommen war, da Amra, das Schwanenkind, zum König von Koristan gekrönt werden sollte, da versammelte sich alles in der Halle der Könige zu Koristir. Und unter den Anwesenden weilte im Geiste der Elomaran Korisander, um seinem Kind den Segen zu erteilen, auf daß es gerecht und weise über sein Land herrschen möge. Und hervor aus der Mitte der Versammelten trat der Oberste Richter und sprach wie die Traditionen ihn hießen: »Wer ist es, der Einlaß beg -
Das Tintenfaß fiel um, als Aralees Handfläche in Nataras Gesicht klatschte. Natara schnappte nach Luft, zu erschrocken und entsetzt, um auch nur zu heulen. »Die Tinte«, stammelte sie. »Der Fußboden…« Aralee hatte sie schon oft angeschrieen, aber noch nie geschlagen. Noch nie.
»So nicht, kleine Dame«, sagte Aralee eisig.
Natara konnte sie nicht ansehen, mußte immer noch nur auf die Tinte starren, die langsam in die Dielenleisten lief und in ihnen floß wie in einem Bachbett. Und sie hatte keinen Lappen, nicht einmal ihre Schürze, um sie fortzuwischen.
»Wie oft schon habe ich dich gewarnt, mich nicht zu verhöhnen?«
»Aber«, versuchte Natara, »ich -«
»Kein Aber ich diesmal. Ich habe ein Aber ich zuviel gehört von dir. Inzwischen glaube ich, daß du es mit Absicht tust. Und so gut bist du darin, sofort loszuheulen.«
»Aber was ist den… falsch?« schrie Natara. Sie wollte nicht heulen. Also schrie sie zurück. Sie schrie sonst niemals. Und sie fühlte sich auch nicht besser davon. Aber sie wollte Aralee nicht Recht geben.
Zumindest wurde Aralees Stimme wieder leise. »Was falsch ist? Was falsch ist? Du hast alles abgeschrieben!« Sie schlug das Buch zu, das oben auf dem Tisch lag, und ihre Hände waren noch immer zornig. »Die Chronik von Korisander, erstem König der siebzehnten Generation - bist du nun die Chronistin von Korisander, oder von Amra?«
Natara biß sich auf die Zunge. Sie sagte nicht ‘Ich wollte alles genau richtig machen, also habe ich nur die Namen ausgetauscht’. Beinahe gewöhnte sie sich schon daran, niemals eine Arbeit zu Aralees Zufriedenheit erledigen zu können. Das einzige Rätsel blieb, warum die Königswitwe sie immer wieder mit neuen Aufgaben betraute, wenn sie doch so wenig von ihr hielt… Und aus diesem Rätsel heraus schöpfte Natara nun den Mut, Aralee fest ins Gesicht zu blicken und zu sagen: »Amras. Aber das weiß ich erst seit wenigen Tagen. Ihr habt mich bei der Zeremonie offiziell eingeführt, aber ich konnte mich nicht darauf vorbereiten. Ich kann erst seit drei Monaten überhaupt schreiben. Wie soll ich denn jetzt plötzlich Chronistin sein?«
Aralee schüttelte den Kopf, aber sie blickte nun zufriedener drein. »Von Amra wird erwartet, daß sie den Titel einer Königin führt, und sie hatte weniger Zeit, sich darauf vorzubereiten.«
»Aber Amra ist -« begann Natara und brach ab. Das durfte sie so nicht sagen: ‘Aber Amra ist doch keine Königin. Sie heißt nur so. Sie muß nichts von dem tun, was ein König tut.«
Aralee musterte sie ruhig, schien in Nataras Augen all die ungesagten Wörter zu lesen, denn ihre Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, und sie sagte: »Sprich es nur aus: Amra ist ein kleines Mädchen, das auf einen Thron gehievt wurde, für den es viel zu klein ist. Sprich es aus - es ist die Wahrheit, und der Elomaran Korisander hat immer für die Wahrheit gestritten. Amra wird nicht zu einer erwachsenen Frau, wenn du die Chronik nimmst und die Namen änderst. Schreib es auf, wie du es gesehen hast. Nicht die Rituale - die kann man in jeder anderen Chronik nachlesen. Die kleinen Dinge. Ein Kind wird König, und darum wird ein Kind Chronist. Wenn es nach mir ginge… Aber genau dafür bist du da. Damit Menschen, die in der Zukunft deine Chroniken Amras lesen, begreifen, was es bedeutet, ein Land in die Hände von Kindern zu legen.« Sie bückte sich und hob endlich das Tintenfaß auf. Es war leer, der Fleck auf dem Boden getrocknet und schwarz. »Ich werde dir neue Tinte bringen und neues Pergament. Dann vergißt du alles, was du bis lang über Chroniken weißt. Schreib, als hättest du eine Schwester, die nicht dabei war, aber alles wissen will. Schreib ihr einen Brief.«
»Ich hatte einen Bruder«, entgegnete Natara. Sie hatte sich nie eine Schwester gewünscht - da konnte sie ihr auch keine Briefe schreiben.
»Dann stell dir vor, du schreibst ihm.« Nun schlich sich wieder Ungeduld in Aralees Stimme, und Natara nickte schnell. Sie würde auch nicht an ihren Bruder schreiben - der war zu klein gewesen, noch kleiner als Amra. Er würde nichts von alldem verstehen.
Natara wartete, bis Aralee aus dem Zimmer war, mit dem leeren Tintenfaß, dem verdorbenen Pergament, und mit der alten Chronik. Dann griff sie, vorsichtig, nach einem sauberen Blatt. Jetzt, wo sie nicht mehr aufpassen mußte, daß dem alten Buch nichts geschah, konnte sie sich getrost zum Schreiben an den Tisch setzen, statt es auf dem Boden zu tun. Natara nahm die Feder, wischte den Kiel an ihrer Hand sauber, bis keine Tinte mehr daran war, und schrieb dann, langsam und vorsichtig, mit unsichtbaren Buchstaben: Für Hester.

Amra wurde mitten in der Nacht gekrönt. Aber alle Leute waren wach. Es waren sehr viele Leute da, die ganze Halle war voll. Nur in der Mitte war noch Platz, und niemand durfte dort stehen. Weil es schon dunkel war, brannten viele große Kerzen. Darum war es in der Halle auch nicht so kalt. Zu den Leuten die gekommen waren gehörten: Die acht Grafen und der Bürgermeister und der Richter und fast alle Leute die im Schloß wohnen, nur die nicht die zur Küche gehören, denn die mußten für das große Festmahl kochen. Es gab als erstes heiße Suppe mit Fenchel und Graupen. Danach gab es verschiedene gebratene Vögel, aber keinen Schwan, sondern kleine Vögel wie Wachteln und Tauben, die mit Beeren und Kastanien gefüllt waren. Es gab auch einen riesigen Pfau, der in der Mitte des Tisches saß, aber ich kann nicht sagen wonach der geschmeckt hat denn ich habe nicht davon gegessen. Danach gab es anderes Fleisch das in kleine Stücke geschnitten war mit viel Soße dazu, es war Schweinefleisch und Rindfleisch. Es gab auch Gemüse dazu, das waren kandierte Erbsen und Bällchen aus püriertem Kohl, die haben seltsam geschmeckt. Und Buchweizen dazu, aber wer will schon einfachen Buchweizen essen wenn es soviel anderes gibt? Zum Nachtisch gab es dann noch einen riesengroßen Griespudding mit Soße.
Bei der Krönung war auch Aralee die Königswitwe. Sie hatte die Geschäfte des Landes geführt seit der König tot war, und der Richter hat gesagt sie darf sie auch weiter führen solange Amra so klein ist. Trotzdem ist Amra gekrönt worden und nicht Aralee, weil Amra die Krone wiedergefunden hat und ein Schwanenkind ist.
Es gab nämlich keine Schwäne mehr seit die Krone verschwunden war, und weil Amra beides wiedergefunden hat muß sie eine Engelsgeborene sein. Niemand weiß wer ihre Eltern sind, auch sie selbst nicht. Aber sie ist auch noch so klein. Die zwei Schwäne mit denen Amra im Park war sind auch auf der Krönung gewesen, aber Aralee hat gesagt es kommen nie wieder lebendige Schwäne auf die Krönung weil sie häßliche Dinge getan haben. Aber Amra hat darüber gelacht und das war das einzige Mal auf der ganzen Krönung.
Amra war die ganze Zeit über sehr brav und sie war auch gar nicht mehr so sehr aufgeregt, aber vielleicht war sie auch schon müde. Denn es war schon so spät und sonst hat sie dann immer schon geschlafen. Aber sie hat alles gesagt was ein König sagen muß wenn er gekrönt wird, auch die langen Teile auf Elomond. Leider hat niemand erklärt was es bedeutet, aber es bedeutet daß sie ein Kind des Elomaran Korisander ist und ein guter König sein will. Die anderen Sachen die sie gesagt hat stehen schon in den anderen Chroniken und darum schreibe ich sie nicht alle noch einmal ab. Es war nämlich sehr viel und ich konnte mir nicht alles merken, aber Amra hat alles auswendig gelernt. Daran sieht man daß sie eine Engelsgeborene ist. Manche Leute sagen auch sie ist wirklich das Kind von Korisander selbst, aber sie hat keine Flügel und sieht darum nicht wirklich aus wie ein Engel.
In der Halle steht eine Statue von Korisander. Sie ist riesengroß mit ausgebreiteten Flügeln, aber wer sie gebaut hat hat noch nie einen richtigen Engel gesehen denn die Flügel sind zu lang. Wenn man sie herunterklappen würde wären sie länger als die Füße des Engels. Aber das ist auch nicht so wichtig weil die Statue nur ein Bild ist dafür daß der Engel über Koristan wacht. Er breitet schützend seine Flügel aus, darum müssen es große Flügel sein, aber die Statue kann ja nicht höher sein als die Halle.
Der Richter befragte Amra sehr lange bis Amra die Lust verlor und anfing herumzuwandern. Sie wollte sich hinsetzen, aber der einzige Stuhl auf dem noch niemand saß war der Thron und auf dem darf niemand sitzen als der König. Aber dafür mußte Amra erst einmal richtig gekrönt sein. Aralee bat den Richter um eine Pause. Dann nahm sie Amra auf den Schoß, und Amra machte die Augen zu und schlief. Der Richter lachte und lobte Amra weil sie ihre Sache so gut machte und so lange durchgehalten hatte. Aber sonst getraute sich niemand zu lachen weil es doch die Krönung war und eine ernste Sache, und weil man nicht über den König lachen darf selbst wenn das nur ein Kind ist.
Der Richter sagte jetzt ist Zeit für die Pause, und dann kamen Musiker und spielten aber niemand hat dazu getanzt. Von der Musik wurde dann auch Amra wieder wach und dann konnte die Krönung weitergehen. Aber Amra durfte auf dem Schoß von Aralee sitzen bleiben. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah immer weg wenn der Richter sie etwas fragte, aber sie beantwortete wieder brav alle Fragen und sagte sie will ein guter König sein. Dann waren die Fragen endlich vorbei und der Richter sagte jetzt ist es an der Zeit die Krone zu holen.
Wir gingen alle mit ihm zu dem Raum in dem die Krone lag: Denn es ist Gesetz daß der neue König mit dem Engel allein sein muß bevor er die Krone bekommt, damit der Engel ihn noch bestrafen kann wenn er das noch nicht getan hat. Oder vielleicht soll der Engel dem König noch Ratschläge geben, die sonst niemand hören darf. Was in der Zeit passiert steht in keiner Chronik und auch ich durfte nicht bei Amra bleiben. Dabei wollte sie gar nicht allein in der Halle zurückbleiben. Sie lief hinter Aralee her und hielt sich an den Beinen fest, damit Aralee bei ihr blieb. Doch das ging nicht. Amra mußte sich in der Halle hinknien und ganz alleine sein. Es war ein trauriger Moment aber niemand weinte. Auch Amra weinte nicht, aber sie hat auch noch nie jemand weinen sehen weil sie ein Engelskind ist und weil Engelskinder niemals weinen.
Dann gingen der Richter und Aralee und alle Gäste hin zu der Krone. Das ist ein kleines Zimmer ohne Fenster, wie ein Wandschrank mit einer richtigen Tür. Der Raum ist immer leer, nur wenn es gerade keinen König gibt liegt hier die Krone. Sonst ist das Zimmer immer abgeschlossen, egal ob dort die Krone ist oder nicht. Nur der Richter hat den Schlüssel zu der T

Die Feder entglitt Nataras Fingern. Mit fahrig zitternden Händen hob sie sie wieder auf, aber mehr als sie festhalten konnte Natara nicht. Plötzlich war alles ganz still. Natürlich war es still in Aralees Zimmer; Natara sollte Ruhe zum Schreiben haben - aber jetzt hatte sie Angst, und die Stille machte es schlimmer.
Wenn Aralee zurückkam - wenn sie fragte, was los war… Natara schloß die Augen, atmete durch den Mund, weil das am wenigsten Geräusche machte, und lauschte nach Schritten. Stille.
Vorsichtig legte Natara die Pergamente zusammen, korkte das Tintenfaß zu und zog ihre tintenfleckige Arbeitsschürze aus. Was konnte passieren? Nichts, niemand konnte wissen, was Natara dachte. Aber obwohl sie das wußte, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, als sie aus dem Zimmer schlich.
Das Schloß war so groß, leer und kalt wie lange nicht mehr. Jede Tür, an der Natara vorüberkam, drohte aufzuspringen und sie mit Fragen zu überhäufen. Ihre eigenen Schritte verfolgten sie, selbst wenn sie nur mit den Zehenspitzen auftrat. Kalter Wind, wo keiner sein sollte, wehte um Nataras Ohren. Ein Rauschen und Flüstern - Natara rannte nicht, bis sie zum Gang mit den Königsbildern kam.
Ihre Gesichter waren strenger als sonst, ihre Augen lebendiger. Das Bild von Amra, das einzige, auf das Natara sich zu sehen freute, fehlte noch, nur eine Tafel mit ihrem Namen hatte man schon angebracht, dort wo es einmal hinsollte. Eine Bildbreite Abstand klaffte zwischen ihr und dem Bild des toten Königs. Kleine Löcher in der Wand, dort wo einst Alexanders Name gestanden hatte. Seitdem Amra aufgetaucht war, verschwanden nach und nach alle Dinge, die noch an Aralees Sohn erinnerten. Würde Natara auch so verloren gehen? Im Moment fühlte sie sich so. Sie nahm die Beine in die Hand und rannte, bis sie zumindest die Galerie hinter sich hatte. Danach schlich sie wieder durch die Schatten. Sie wollte nicht nach dem Weg fragen; niemand sollte wissen, wo sie hinging - aber der Palast war so groß, so fremd, daß Natara sich mehrmals verlief, bis sie endlich, bleich, zitternd und frierend, an die Kammertür der Totenmagd klopfte. Zum ersten Mal mußte sie sich fragen, was sie tun würde, wenn Lyda nicht da war.
Doch die Tür wurde ihr geöffnet.
»Komm herein, Kind«, sagte die ruhige, warme Stimme, voller Trost für ungeweinte Tränen, wie so oft. »Natara - du bist es? Du siehst bleich aus. Brauchst du einen Heiler?«
Natara schüttelte den Kopf, schlüpfte ins Zimmer und drückte die Tür zu, bevor sie sprach. Es freute sie, daß sich die Totenmagd, die sicher mit so vielen Menschen zu tun hatte, sich an ihren Namen erinnern konnte. Dabei hatten sie lange nicht mehr miteinander geredet. Nur ein paar freundliche Blicke ausgetauscht bei der Krönung, nichts weiter.
»Ich will Euch nicht stören, Lyda«, blubberte es aus Natara heraus, und ihre Zähne klapperten. Erst, als Lyda ihr eine Hand auf die Schulter legte, wurde sie ruhiger.
»Langsam, Mädchen«, sagte Lyda. »Keine Angst. Du bist in Sicherheit. An diesem Ort ist noch nie ein Leid geschehen.« Aber Natara sah die Tür, sah, daß sie repariert worden war - an den Angeln war der Kalk von der Wand geplatzt, als sei jemand gewaltsam in dieses Zimmer eingebrochen. Es konnte nicht allzu lange hersein.
»Der Schlüssel«, flüsterte sie. »Habt Ihr den Schlüssel noch?«
Die Totenmagd fragte nicht ‘Welcher Schlüssel?’, und sie nannte auch nicht Hesters Namen, wofür Natara ihr dankbar war. Sie zog nur den Schlüssel hervor, aus der Tasche ihres Kittelkleides, und nickte.
»Tragt Ihr ihn immer bei Euch?« fragte Natara und kannte die Antwort bereits: Ja, immer. Sie machte eine Pause und trank die Ruhe des Ortes, bevor sie sagte: »Ich glaube, ich weiß, zu welchem Raum er gehört.«
»Willst du es mir sagen?« Das bedeutete ‘und keinem anderen’. Natara wünschte sich, mit so wenig Worten auskommen zu können wie Lyda. Dann wäre die Chronik auch kein Problem mehr.
»Zum Kronenzimmer«, antwortete Natara. »Ich meine, zu dem Zimmer, in dem vor der Krönung die Krone aufbewahrt wird.«
Die großen grauen Augen weiteten sich. »Wenn das stimmt… wollen wir beten, daß niemand außer uns beiden von dem Schlüssel weiß.«
»Niemand weiß es«, erwiderte Natara. »Ganz sicher.«
»Und warum wurde Hester ermordet?«
Natara schüttelte sich. Das Wort klang so selbstverständlich aus Lydas Mund, wie alles, was sie sagte. »Vielleicht war es auch ein Unfall.«
»Vielleicht. Wir können sie nicht mehr fragen.« Die Totenmagd fügte hinzu, als Natara nichts zu sagen wagte: »Für Hester macht es keinen Unterschied. Sie hat ihren Frieden gefunden.« Ihre Augen sagten ‘Nur du und ich, wir kommen nicht zur Ruhe’. Für einen Moment drückte sie Natara an sich. Es tröstete sie beide.
»Können wir den Schlüssel ausprobieren?« fragte Natara.
»Ja«, antwortete Lyda. »Sofort, wenn du willst. Aber wenn er paßt - dann wirst du mit einem Wissen leben, das dir sehr gefährlich werden kann. Und wenn er nicht paßt - dann haben wir immer noch nicht die Antwort, welches von tausend Schlössern das richtige ist. Nur, daß es eine mögliche Antwort weniger gibt.«
»Aber wenn wir es nicht ausprobieren…« Natara brach ab. Würden sie niemals eine Antwort finden. »Was würdet Ihr tun?«
Die Totenmagd zögerte. »Manchmal wünschte ich mir, ich könnte Hester den Schlüssel einfach zurückgeben.«
»Ihr meint - in den Nilomar?«
Lyda nickte. »Dem Schweigen, was des Schweigens ist.«
Natara runzelte die Stirn. Das klang verlockend - und doch unbefriedigend. »Laßt ihn uns ausprobieren«, sagte sie und staunte über ihren Mut. »Und wenn er nicht paßt - dann soll ihn Hester bekommen.«

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