»Dunkelkind!« Die Kleine gluckste vergnügt, als
Natara sie kitzelte. »Dunkelkind! Du bist ein kleines
Dunkelkind!«
Natara genoß diese Momente, in denen sie mit dem Kind allein
sein durfte - sie mochte Kinder, aber wenn Erwachsene dabeiwaren,
durfte sie nicht so herumtollen. Doch wenn Aralee ihr auftrug, mit
Amra zu spielen… »Dunkelkind!« rief sie wieder
und hielt sich die Hände vors Gesicht. Wieder quietschte die
Kleine. Man mußte sie gar nicht mehr kitzeln. Das Wort
genügte.
Aber Amra war wirklich ein Dunkelkind. Sie mochte kein Licht. Sie
bekam Angst, wenn es hell war. Sie versteckte sich im Schatten,
wenn die Sonne schien. Natara bemühte sich immer wieder, nicht
daran zu denken, was Amra war - was sie vielleicht war. Vor
allem war sie schließlich ein Kind. Ein kleines Mädchen,
vielleicht vier Jahre alt - es war so leicht, das zu
vergessen…
»Noch mal?« fragte Natara, atemlos vom Lachen.
»Nein«, sagte Amra.
Natara mochte die Art nicht, mit der Amra ‘Nein’
sagte. Sie kannte kleine Mädchen - noch aus der Zeit, als sie
manchmal die Nachbarskinder hütete - sie sagten nicht einfach
‘Nein’. Sie schüttelten den Kopf dabei und riefen
»Nein, nein, nein!«, ganz oft nacheinander. Wenn Amra
dagegen ‘Nein’ sagte, dann sagte sie es nur einmal. Und
sie sah ihrem Gegenüber dabei ganz ruhig in die Augen. Das
machte Natara Angst.
»Was willst du dann spielen?« fragte Natara.
»Nichts mehr«, sagte Amra. »Ich will nichts mehr
spielen.«
»Aber es war doch gerade so lustig«, sagte Natara.
»Es war seltsam«, sagte Amra leise. »Du hast mir
Angst gemacht, Natara. Warum mußte ich so lachen? Ich wollte
doch gar nicht lachen.«
»Aber - ich habe dich doch nur gekitzelt«, stammelte
Natara verwirrt. »Alle Leute lachen, wenn man sie
kitzelt.«
»Warum?« fragte Amra.
Natara suchte nach Worten. Kinder fragten oft ‘Warum’.
Aber sie fragten es nicht so. »Weil es lustig
ist«, sagte sie dann.
»Aber das war nicht lustig.«
Natara seufzte. »Es tut mir leid. Verrat es ihr nicht,
ja?«
Amra blickte sie an, ohne zu blinzeln. Im dämmrigen Licht
wirkten ihre Augen riesig, und beinahe schwarz. »Ich will
nichts verraten. Ich will nur nicht lachen, wenn ich nicht
mag.«
Vorsichtig umarmte Natara die Kleine, obwohl sie wußte,
daß sie auch das eigentlich nicht sollte. »Ich werde
dich nicht mehr kitzeln, versprochen. Aber wenn du nicht mehr
spielen willst - was sollen wir dann tun?«
»Nach drinnen gehen«, sagte Amra. »Ich will in
den Büchern lesen.«
»Aber eine Geschichte kann ich dir auch hier draußen
erzählen«, sagte Natara schnell. »Warum sollen wir
reingehen, solange es noch warm ist?« Sie kannte den Grund
schon. Draußen im Park war es zwar schön warm und
sonnig, aber eben auch hell. Selbst unter den Bäumen war es
nicht schattig genug für Amra, noch nicht einmal jetzt, wo die
Sonne langsam unterging.
»Deine Geschichten will ich nicht hören«,
entgegnete Amra und schüttelte Nataras Arme ab. »Deine
Geschichten sind dumm.«
Beleidigt biß Natara die Lippen zusammen. Sie hatte keine
große Erfahrung darin, sich Geschichten auszudenken, aber sie
versuchte doch immer ihr Bestes, um Amra eine Freude zu machen. Ein
so kleines Mädchen sollte nicht in staubigen Bibliotheken
herumsitzen. Es war unheimlich, daß Amra schon lesen konnte,
besser und schneller als Natara. Aber was an diesem Kind war schon
nicht unheimlich?
»Später«, sagte Natara. »Wir gehen nachher
zu den Büchern. Aber jetzt -«
»Später ist jetzt.« Amra lief los, auf das
Haupttor zu. Natara hätte sie leicht einholen können -
zwar konnte Amra, wie eigentlich alle kleinen Kinder, ziemlich
schnell laufen, wenn man bedachte, wie kurz ihre Beine eigentlich
waren, und manchmal war sie so schwer zu fangen wie ein Kaninchen -
aber sie begnügte sich damit, dem Kind mit langen Schritten zu
folgen. Zum einen war es sinnlos, Amra etwas ausreden zu wollen,
das sie sich fest vorgenommen hatte, und natürlich wollte
Natara nicht, daß Amra schrie und tobte und sich auf den
Boden warf. Zum anderen durfte Natara nicht rennen. Es reichte aus,
einmal zu stolpern oder falsch aufzutreten, und ihr Knöchel
würde wieder für den Rest des Tages stechen. Nicht
rennen. Nicht hüpfen. Und vielleicht nie wieder
tanzen…
Gerade so eben gelang es Natara, vor den Wächtern am Tor zu
knicksen - auch das tat weh, und so war es mehr eine angedeutete
Geste. Aber die Männer lachten nur und winkten sie durch,
ebenso wie sie auch Amra durchgelassen hatten. Wenn sie alleine
war, hatte Natara am Hauptportal nichts zu suchen, aber Amra lief
mit solcher Selbstverständlichkeit dorthin, wie sich ihr auch
niemand in den Weg stellte oder sie zur Nebenpforte schickte. Wenn
Amra sich näherte, wichen die Erwachsenen zurück - zum
Glück hatte niemand von ihnen gesehen, wie Natara mit Amra im
Gras herumtollte! Hester hätte Amra gemocht, dachte
Natara, aber diesmal blieb ihr nicht die Zeit, stehenzubleiben und
traurig zu sein. Erst mußte sie versuchen, Amra wieder
einzufangen, ohne für Aufsehen zu sorgen.
»Bleib doch stehen!« rief sie leise. »Warte auf
mich!« Natürlich dachte die Kleine nicht daran.
»Wo willst du denn hin?«
Amra rannte zielstrebig den Gang hinunter, ohne zu antworten.
Zumindest war es nicht der Weg zum Bücherkeller. Amra liebte
den Keller - dort gab es alles, was sie mochte: Bücher und
Dunkelheit. Natara aber haßte es dort. Keinen Fuß
wollte sie mehr auf die Treppe setzen, bevor sie wußte, was
dort unten wartete. Oder wer. Doch Amra lief nicht zur Treppe. Sie
lief, Natara immer einen Schritt hinter ihr, an der großen
Doppelflügeltür des Thronsaals vorbei, an den
geschlossenen Türen der kleinen Besprechungszimmer, bis sie
plötzlich kurz vor der nächsten Ecke stehenblieb.
Sie drehte sich um, lächelte Natara an und machte
»Pssst!«, mit großem Ernst und einem Finger an
den Lippen, so wie Natara es ihr beigebracht hatte, als sie das
Nest der Haselmaus im Park fanden. Natara nickte und legte eine
Hand an ihren Mund, als Zeichen, daß sie verstanden hatte.
Dann bemerkte auch sie die Stimmen.
Die Frau war Aralee, daran gab es keinen Zweifel. Die beiden
Männer dagegen erkannte Natara nicht.
»- werde ich nicht zulassen«, sagte Aralee gerade.
»Es ist nicht an Euch, darüber zu entscheiden.«
Ein älterer Mann, mit dunkler Stimme, die Natara bekannt
vorkam, wenn sie auch nicht sagen konnte, woher.
»Natürlich verstehen wir, daß Ihr Euch zu sperren
versucht.« Ein anderer Mann, jünger, und Natara
völlig fremd.
Vorsichtig schob Natara sich auf die Ecke zu. Sie wollte wissen,
mit wem ihre Herrin da sprach, und warum es auf dem Flur geschah,
wo es jeder hören konnte, und nicht in einem der Zimmer.
»Aber sie ist ein Kind! Sie ist bestenfalls vier Jahre alt.
Sie gehört nicht auf den Thron. Und Koristan nicht unter die
Herrschaft eines Kindes.«
Jetzt sprach wieder der erste Mann. »Es ist ein
Engelsurteil, und Ihr werdet Euch ihm beugen müssen.« Es
gelang Natara, einen Blick auf ihn zu erhaschen: Er war groß
und streng, gekleidet in eine bodenlange hellgraue Robe. Jetzt
erkannte Natara ihn auch wieder: Das war der Oberste Richter, der
Mann, der auch bei der verunglückten Krönung geredet
hatte. Dann mußte der andere einer von den Grafen sein, die
Aralee immer so zu schaffen machten.
»Es mag sein, daß Korisander selbst uns dieses Kind
gesandt hat«, begann Aralee, doch diesmal fiel ihr der Graf
ins Wort.
»Es ist nur allzu verständlich, daß Ihr befangen
seid, Witwe. Schließlich ist es in Eurem Interesse, daß
Euer Sohn herrscht -«
»Das ist es nicht!« Natara erschrak über die
ehrliche Schärfe in Aralees Stimme. »Selbst er war noch
zu jung, und ich war nicht glücklich darüber, daß
er seinem Bruder so früh nachfolgen sollte. Aber Ihr werdet
mir nicht verdenken können, daß ich mich um dieses Land
sorge, und um dieses Kind ebenso!«
»Verzeiht, Aralee, wir wollten Euch nichts
unterstellen«, sagte der Richter eilig. »Ich verstehe
Euch nur allzu gut. Jede andere Lösung wäre mir lieber
gewesen als diese. Oft habe ich darum gebetet, daß der junge
Alexander die Krone wohlbehalten nach Hause bringen möge. Aber
ich bin Richter. Ich mache die Gesetze nicht, ich befolge sie
nur.«
Natara legte ihre Hände auf Amras Schultern, damit die Kleine
nicht ausgerechnet jetzt loslief und sie beide verriet. Es
gehörte sich nicht zu lauschen, soviel stand in jedem Fall
fest. Aber es war so spannend - und es ging sie ja auch irgendwie
an, und Amra auf jeden Fall - und wenn sie nicht belauscht werden
wollten, sollten sie das nächste Mal eben dahin gehen, wo man
sie nicht so leicht hören konnte.
»Ein Engelsurteil«, jetzt klang Aralees Stimme wieder
ganz sachlich, »ist im Zweifelsfall das, was Ihr zu einem
solchen erklärt. Nirgends steht geschrieben, daß ein
Kind, das beim Spielen im Garten die Krone findet, sofort auf den
Thron zu setzen ist.«
Die Miene des Richters verfinsterte sich. »Mäßigt
Eure Worte, Aralee! Ihr habt mein Verständnis - aber verspielt
es nicht!«
Aralee schwieg. Natara drückte Amra an sich. Die Kleine
zitterte.
»Verzeiht«, sagte Aralee schließlich. »Ich
weiß ebensogut wie Ihr, daß Amra nicht irgendein Kind
ist. Und ich weiß, was die Gesetze verlangen. Aber dort ist
nur die Rede von der Krone. Niemals vom Palast.«
»Was meint Ihr damit?« fragte der Graf ungehalten,
doch der Richter nickte erleichtert.
»Ihr seid die Hausherrin, das steht außer Frage. Euer
Sohn hat Euch eingesetzt, und ich habe Euch
bestätigt.«
»Wer die Krone hat, ist König«, sagte der Graf
unnachgiebig.
»Ja«, erwiderte Aralee. »Aber nirgends, in
keinem Buch, in keiner Chronik, steht, daß ein König
auch herrschen muß.«
Die beiden Männer lachten. Amra riß sich los und lief
zu Aralee, schlang ihre Arme um die Beine der Königswitwe.
Aralee klopfte ihr sanft auf den schwarzhaarigen Kopf.
»Ist ja gut, mein Schatz«, sagte Aralee. »Dir
passiert nichts, darauf gebe ich schon acht.«
Natara machte einen Schritt zurück, doch es war bereits zu
spät. Aralee blickte direkt in ihre Richtung, und ihr Gesicht
war deutlich unfreundlicher als zuvor im Umgang mit dem Kind.
»Und du, Natara.« Natara wäre am liebsten im
Boden versunken; es war schlimm genug, ertappt zu werden, aber vor
dem Grafen und dem Richter, ausgerechnet… Sie trat vor, mit
brennendem Gesicht, die Augen fest auf den Fußboden gerichtet
»Du sollst mir bei Gelegenheit erklären, was genau du
unter ‘draußen’ verstehst, denn als ich dich mit
Amra dorthin schickte, hatte ich eigentlich etwas anderes im Sinn
als den Flur.«
Wieder lachten die beiden Männer, der Graf lauter als der
Richter, und sie blickten an Natara hinunter… Es war ein
Moment, in dem es besser war zu sterben als zu überleben.
»Aber wie auch immer«, fuhr Aralee fort, »ihr
seid beide schmutzig und voller Grasflecken, und so will ich das
noch einmal gelten lassen.«
»Es tut mir leid«, flüsterte Natara.
Aralee schüttelte den Kopf. »Das ändert nichts.
Aber wenn du jetzt sofort zu Mira läufst und ihr sagst, sie
soll das Bad für Amra herrichten - werde ich die
Entschuldigung akzeptieren.«
Natara nickte. Dann lief sie los. Oder besser: Lief sie weg.
Egal, wie tief Natara auch Luft holen mochte, sie wurde das
Gefühl nicht los, jeden Moment in Ohnmacht fallen zu
müssen. Sie konnte nicht richtig atmen. Ihr Hals war wie
zugeschnürt. Natara versuchte zu schlucken, aber ihre Zunge
war ihr im Weg. Und ihr Herz klopfte so laut…
»Aufgeregt?« fragte die Zofe. »Wie
kommt’s, wirst du gekrönt oder die Kleine?«
Natara schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht aufgeregt.
Ich habe Angst.«
»Warum?« fragte die Zofe weiter. »Glaub mir, du
hast keinen Grund. Zumindest keinen, der es wert wäre, derart
herumzuzappeln.«
Im Spiegel konnte Natara sehen, daß die Frau lächelte.
Ihr Gesicht kam Natara bekannt vor, aber sie wußte nicht
genau, woher. Zwar kannte sie inzwischen die meisten Zofen,
Zimmermädchen und Köchinnen, doch diese gehörte
nicht zu ihnen. Vor allem war etwas in ihrer Art, das Natara ein
wenig von ihrer Angst nahm. Aralee hatte nur gesagt ‘Hier,
nimm Natara und mach etwas aus ihr, aber nicht zuviel’. Und
als sei keine weitere Erklärung nötig, saß Natara
nun vor dem Spiegel, und das Lockeneisen fraß sich durch ihr
Haar und ließ einen stechenden, verbrannten Geruch
zurück, während die rothaarige Zofe sie auslachte.
»Wenn ich du wäre, würde ich mir ganz andere
Sorgen machen!«
Natara blickte sie verzweifelt durch den Spiegel an. Sie traute
sich nicht mehr, den Kopf zu wenden, aus Angst, das heiße
Eisen ans Ohr zu bekommen. »Warum denn?« flüsterte
sie.
Die Zofe grinste. »Die Krönung, die Feierlichkeiten,
alles das hast du morgen hinter dir. Aber dann hast du immer noch
viel zu dünnes, viel zu kurzes Haar, mit dem sich nichts
anfangen läßt, und du bist immer noch flach wie ein
Brett.«
Natara erstarrte. Sie riß die Augen auf, um nicht auch noch
zu heulen. »Redet nicht so mit mir!« stieß sie
hervor. »Ich bin -« Um ein Haar hätte sie gesagt
‘Ich bin die zukünftige königliche
Chronistin’, doch im letzten Moment biß sie sich auf
die Zunge. Das war nichts, was sie sein wollte, und nichts, worauf
sie stolz war - stolz sein wollte. »Ich bin doch erst
zwölf«, sagte sie statt dessen.
»Ach, wirklich? Du siehst aus wie zehn.«
Das war genug. Natara stand auf, schob den Schemel zurück und
blickte die Frau an mit dem, was sie für ihren härtesten
und entschlossensten Blick hielt. »Ihr habt nicht das Recht,
Euch über mich lustig zu machen!« fauchte sie, ihre
Stimme bereit, jederzeit in ein weinerliches Schluchzen
umzuschlagen. Natara haßte sie dafür.
Sie haßte sich selbst, nicht die Frau, als sie diese
wütend anfunkelte, und doch erkannte sie die Zofe in diesem
Augenblick. Es war nicht ihr Aussehen - sie sah sie zum ersten Mal
von vorne - aber ihre Stimme. Ihre verächtliche Art.
»Ihr seid… die Frau aus dem Zimmer«, stammelte
sie.
»Alle Frauen kommen aus irgendwelchen Zimmern, hoffe
ich«, erwiderte die Zofe. »Und ja, du hast Recht.
Gelobt seien die Engel, ich darf mich wieder frei
bewegen.«
Natara biß die Lippen zusammen und spürte wieder die
Kraft der Bosheit in sich. Es gefiel ihr nicht, und gleichzeitig
gefiel es ihr. »Aralee wird es nicht mögen, wie Ihr mit
mir umgeht«, sagte sie leise und fühlte sich wie eine
gemeine kleine Petze.
»Oh, das weiß sie. Wenn es nur darum ginge, dich zu
schminken oder dir Locken in die Haare zu drehen - da gibt es
Dutzende von Frauen, die das besser können als ich. Aber dann
wärst du immer noch ein dünnes kleines Mädchen in
einem komischen Kleid. Ich habe andere Sachen gelernt. Ich kann dir
helfen, dich ein wenig älter zu fühlen.«
»Was für Sachen?« fragte Natara zaghaft. Sie
verstand nicht…
»Sachen, die du noch nicht lernen solltest. Und, wie man
keine Angst vor den Dingen hat. Oder vor den Leuten.«
»Wie?« piepste Natara. Sie fürchtete beides.
Zumindest fürchtete sie den Abend, der vor ihr lag. Die
Krönung.
»Indem du dich über sie lustig machst. Indem du sie
siehst, wie sie wirklich sind.« Die Zofe klopfte Natara auf
den Rücken und drückte sie sachte auf den Schemel
zurück. »Nimm das kleine Mädchen. Wird
Königin, und ist doch nur ein kleines Mädchen. Glaubst
du, mit Erwachsenen ist das irgendwie anders? Der Richter, die
Grafen - niemand von ihnen ist stärker als du oder ich. Also
reg dich nicht auf. Es wird eine lustige Nacht.« Natara
hätte gern mitgelacht.
»Nicht für mich«, sagte sie und seufzte.
»Ich muß sie aufschreiben.«
»Um so besser«, entgegnete die Zofe vergnügt, und
doch wußte Natara aus ihrem Gesicht, daß die Frau mit
Worten wie lesen oder schreiben nicht viel anfangen
konnte. Wie viele der Menschen, die nachher im Thronsaal sein
würden, konnten das, was Natara konnte? Die Grafen? Der
Richter? Das Volk? Aralee konnte es, und Amra auch. Natara
würde so schnell nicht aufhören, die beiden zu
fürchten. Aber was die anderen anging, so halfen die Worte der
Zofe. »Wenn du es richtig aufschreibst, werden alle wissen,
wie lächerlich es in Wirklichkeit war.«
So einfach ging das nicht, aber Natara wollte nicht widersprechen.
»Es gibt Regeln.«
»Es gibt immer Regeln, Regeln für das ganze Leben. Man
kann sie befolgen und doch durch sie hindurchsehen.«
Natara wollte das nicht hören. Die Worte begannen
gefährlich zu klingen, und wenn sie auch sicher besser waren
als die Angst, wollte Natara doch nicht mit ihnen im Kopf über
die Krönung schreiben müssen. »Ihr redet wie eine
Ketzerin«, sagte sie streng. »Und ich weiß,
daß es Aralee nicht gefallen wird, daß Ihr so mit mir
sprecht.«
Amüsiert schüttelte die Zofe den Kopf. »Sprich
nicht von Ketzern, bevor du weißt, was sie sind. Nun gut -
was Aralee will, daß du denkst, soll sie dir selbst sagen.
Worüber willst du dann reden?«
»Lieber über gar nichts«, erwiderte Natara.
»Ich muß mich konzentrieren.«
Die Zofe blies noch einmal auf das Lockeneisen, berührte es
vorsichtig mit dem Handrücken, nickte zufrieden und legte es
in die Schachtel zurück. »Dann hätten wir das also.
Oder möchtest du noch ein Paar Socken?«
»Socken?« Natara blickte auf ihre Füße.
Weiße Socken, weiße Schuhe, die gerade eben unter dem
Saum des weißen Kleides herausschauten. Die Schuhe waren ein
wenig zu groß, aber noch ein Paar Socken? Natara
schüttelte den Kopf. »Ich kann sonst nicht mehr
laufen.« Hoffentlich stolperte sie nicht während der
Zeremonie! Wenn sie noch einmal umknickte, war das schlimm genug -
aber bei allen Engeln, nicht in dieser Nacht!
»Nicht für die Füße.« Die Zofe legte
eine Hand auf Nataras Schulter und schob sie dann langsam unter den
Kragen, auf Nataras Brust. Natara erschrak, doch sie rührte
sich nicht. Es war schlimm, wenn ein Mann das versuchen sollte -
aber vor Frauen mußte sie keine Angst haben. »Schau
her«, sagte die Zofe und krümmte ihre Hand, so daß
sie sich wie ein kleiner Berg unter dem Stoff abzeichnete. Es sah
seltsam aus - nicht wie eine Brust, mehr wie eine Beule. »Ein
paar aufgerollte Socken ergibt nette kleine
Mädchenbrüste. Sie tun nicht weh, und sollte einer der
noblen Grafen in der Hitze der Nacht auf die Idee kommen, dich zu
begrapschen, bekommt er auch nur Wolle zwischen die Finger. Was
sagst du dazu?« Die Zofe zog ihre Hand wieder zurück.
Erleichtert atmete Natara auf. Aber sie wußte nicht, was sie
sagen sollte, außer »Warum?«
»Du wirst dann ernster genommen. Niemand wird dich
auslachen. Das ist es doch, worum es dir geht?«
Natara biß die Lippen zusammen, unsicher, ob sie lachen oder
heulen sollte. »Ich dachte, man nimmt Äpfel«,
sagte sie dann.
»Äpfel? Nur dumme Hühner stecken sich Äpfel
ins Mieder. Das sieht man. Und es tut weh. Und es wird sich immer
wie ein Apfel anfühlen. Das einzige, was peinlicher ist, sind
Männer mit Walnüssen.«
»Walnüssen?« wiederholte Natara und bemühte
sich, sehr verwirrt zu klingen, denn sie hatte eine Idee, was die
Frau meinte.
»Walnüsse. In der Hose. Glaub mir - ich kann mir
angenehmere Verwendungen für Walnüsse
vorstellen.«
Ihr Gesicht war so ernst und geheimnisvoll, daß Natara
losprustete. Die Zofe klopfte ihr auf den Rücken. »Geht
es?«
Natara huste. »Das war«, fing sie an.
‘Ungehörig von Euch’ wollte sie sagen, aber wie
kam sie dazu, einer erwachsenen Frau Vorwürfe oder
Vorschriften machen zu wollen? »Gemein«, sagte sie.
»So bin ich«, erwiderte die Frau. »Und jetzt
sitz ruhig! Augen zu! Kopf in den Nacken!«
Während sie gehorchte, sah Natara die Frauen des Hofes vor
sich. Welche von ihnen trug wohl Socken unter dem Hemd? Oder
Äpfel? Natara mußte grinsen und biß sich auf die
Zunge. Etwas kitzelte ihr Gesicht. Und in ihren Nase.
»Ruhig! Du wirst abgepudert. Das ist nur
Kreidestaub.«
Natara versuchte ruhig durchzuatmen. Wenn sie jetzt gepudert
wurde, bedeutete es, daß sie es bald hinter sich hatte.
Zumindest das Herausputzen. Hinter ihr ging die Tür auf.
Natara wandte sich nicht um, als sie versuchte, durch den Spiegel
zu schielen.
Amras kleiner Kopf tauchte im Türrahmen auf. In ihr glattes
schwarzes Haar hatte man keine Locken gezwungen, doch sie trug
einen Kranz aus Perlen darin. Nein, es war kein doch Kranz: Es war
eine Perlenkette, die Amra, doppelt gelegt, auf dem Kopf trug.
Natara mußte lächeln. So etwas hatte sie früher
auch einmal gemacht, als sie den Schmuck ihrer Mutter stahl, um
sich damit zu verkleiden. Nur, daß niemand Amra dafür
verprügeln würde.
Dann war Amra im Zimmer, huschte zu Natara hin und zupfte sie am
Kleid. »Schön?« fragte sie.
Natara nickte. »Wunderschön«, sagte sie ernst,
und es stimmte auch. Amra war ein schönes Kind, aber jetzt sah
sie aus wie eine Puppe. Ihr Gesicht war weiß geschminkt und
glänzte silbrig. Wie lackierter Stein, nicht mehr wie Haut.
Und dieses Kleid - das schwere Brokatgewand reichte Amra bis auf
die Füße. Und Aralee hatte die Ärmel gesäumt:
Auf dem Krönungsgewand waren zwei Schwäne abgebildet,
ihre Hälse reckten sich die Arme entlang. Nun fehlten ihnen
die Köpfe. Aber es fiel nur auf, wenn man es wußte. Amra
sah sehr würdevoll aus. »Wie eine richtige
Königin.«
Das war offenbar genau das, was Amra zu hören erhofft hatte.
Sie lief um Nataras Hocker herum und zupfte an der Zofe.
»Schön?«
Natara biß die Lippen zusammen, um nicht lachen zu
müssen. So viele Gäste würden heute Nacht versammelt
sein - wenn Amra das bei jedem von ihnen machte… würde
die Krönung sicher noch bis zum nächsten Mittag
dauern.
Und als nun die Stunde gekommen war, da Amra, das Schwanenkind,
zum König von Koristan gekrönt werden sollte, da
versammelte sich alles in der Halle der Könige zu Koristir.
Und unter den Anwesenden weilte im Geiste der Elomaran Korisander,
um seinem Kind den Segen zu erteilen, auf daß es gerecht und
weise über sein Land herrschen möge. Und hervor aus der
Mitte der Versammelten trat der Oberste Richter und sprach wie die
Traditionen ihn hießen: »Wer ist es, der Einlaß
beg -
Das Tintenfaß fiel um, als Aralees Handfläche in
Nataras Gesicht klatschte. Natara schnappte nach Luft, zu
erschrocken und entsetzt, um auch nur zu heulen. »Die
Tinte«, stammelte sie. »Der
Fußboden…« Aralee hatte sie schon oft
angeschrieen, aber noch nie geschlagen. Noch nie.
»So nicht, kleine Dame«, sagte Aralee eisig.
Natara konnte sie nicht ansehen, mußte immer noch nur auf
die Tinte starren, die langsam in die Dielenleisten lief und in
ihnen floß wie in einem Bachbett. Und sie hatte keinen
Lappen, nicht einmal ihre Schürze, um sie fortzuwischen.
»Wie oft schon habe ich dich gewarnt, mich nicht zu
verhöhnen?«
»Aber«, versuchte Natara, »ich -«
»Kein Aber ich diesmal. Ich habe ein Aber ich
zuviel gehört von dir. Inzwischen glaube ich, daß du es
mit Absicht tust. Und so gut bist du darin, sofort
loszuheulen.«
»Aber was ist den… falsch?« schrie Natara. Sie
wollte nicht heulen. Also schrie sie zurück. Sie schrie sonst
niemals. Und sie fühlte sich auch nicht besser davon. Aber sie
wollte Aralee nicht Recht geben.
Zumindest wurde Aralees Stimme wieder leise. »Was falsch
ist? Was falsch ist? Du hast alles abgeschrieben!« Sie
schlug das Buch zu, das oben auf dem Tisch lag, und ihre Hände
waren noch immer zornig. »Die Chronik von Korisander, erstem
König der siebzehnten Generation - bist du nun die Chronistin
von Korisander, oder von Amra?«
Natara biß sich auf die Zunge. Sie sagte nicht ‘Ich
wollte alles genau richtig machen, also habe ich nur die Namen
ausgetauscht’. Beinahe gewöhnte sie sich schon daran,
niemals eine Arbeit zu Aralees Zufriedenheit erledigen zu
können. Das einzige Rätsel blieb, warum die
Königswitwe sie immer wieder mit neuen Aufgaben betraute, wenn
sie doch so wenig von ihr hielt… Und aus diesem Rätsel
heraus schöpfte Natara nun den Mut, Aralee fest ins Gesicht zu
blicken und zu sagen: »Amras. Aber das weiß ich erst
seit wenigen Tagen. Ihr habt mich bei der Zeremonie offiziell
eingeführt, aber ich konnte mich nicht darauf vorbereiten. Ich
kann erst seit drei Monaten überhaupt schreiben. Wie soll ich
denn jetzt plötzlich Chronistin sein?«
Aralee schüttelte den Kopf, aber sie blickte nun zufriedener
drein. »Von Amra wird erwartet, daß sie den Titel einer
Königin führt, und sie hatte weniger Zeit, sich darauf
vorzubereiten.«
»Aber Amra ist -« begann Natara und brach ab. Das
durfte sie so nicht sagen: ‘Aber Amra ist doch keine
Königin. Sie heißt nur so. Sie muß nichts von dem
tun, was ein König tut.«
Aralee musterte sie ruhig, schien in Nataras Augen all die
ungesagten Wörter zu lesen, denn ihre Mundwinkel hoben sich zu
einem Lächeln, und sie sagte: »Sprich es nur aus: Amra
ist ein kleines Mädchen, das auf einen Thron gehievt wurde,
für den es viel zu klein ist. Sprich es aus - es ist die
Wahrheit, und der Elomaran Korisander hat immer für die
Wahrheit gestritten. Amra wird nicht zu einer erwachsenen Frau,
wenn du die Chronik nimmst und die Namen änderst. Schreib es
auf, wie du es gesehen hast. Nicht die Rituale - die kann man in
jeder anderen Chronik nachlesen. Die kleinen Dinge. Ein Kind wird
König, und darum wird ein Kind Chronist. Wenn es nach mir
ginge… Aber genau dafür bist du da. Damit Menschen, die
in der Zukunft deine Chroniken Amras lesen, begreifen, was es
bedeutet, ein Land in die Hände von Kindern zu legen.«
Sie bückte sich und hob endlich das Tintenfaß auf. Es
war leer, der Fleck auf dem Boden getrocknet und schwarz.
»Ich werde dir neue Tinte bringen und neues Pergament. Dann
vergißt du alles, was du bis lang über Chroniken
weißt. Schreib, als hättest du eine Schwester, die nicht
dabei war, aber alles wissen will. Schreib ihr einen
Brief.«
»Ich hatte einen Bruder«, entgegnete Natara. Sie hatte
sich nie eine Schwester gewünscht - da konnte sie ihr auch
keine Briefe schreiben.
»Dann stell dir vor, du schreibst ihm.« Nun schlich
sich wieder Ungeduld in Aralees Stimme, und Natara nickte schnell.
Sie würde auch nicht an ihren Bruder schreiben - der war zu
klein gewesen, noch kleiner als Amra. Er würde nichts von
alldem verstehen.
Natara wartete, bis Aralee aus dem Zimmer war, mit dem leeren
Tintenfaß, dem verdorbenen Pergament, und mit der alten
Chronik. Dann griff sie, vorsichtig, nach einem sauberen Blatt.
Jetzt, wo sie nicht mehr aufpassen mußte, daß dem alten
Buch nichts geschah, konnte sie sich getrost zum Schreiben an den
Tisch setzen, statt es auf dem Boden zu tun. Natara nahm die Feder,
wischte den Kiel an ihrer Hand sauber, bis keine Tinte mehr daran
war, und schrieb dann, langsam und vorsichtig, mit unsichtbaren
Buchstaben: Für Hester.
Amra wurde mitten in der Nacht gekrönt. Aber alle Leute waren
wach. Es waren sehr viele Leute da, die ganze Halle war voll. Nur
in der Mitte war noch Platz, und niemand durfte dort stehen. Weil
es schon dunkel war, brannten viele große Kerzen. Darum war
es in der Halle auch nicht so kalt. Zu den Leuten die gekommen
waren gehörten: Die acht Grafen und der Bürgermeister und
der Richter und fast alle Leute die im Schloß wohnen, nur die
nicht die zur Küche gehören, denn die mußten
für das große Festmahl kochen. Es gab als erstes
heiße Suppe mit Fenchel und Graupen. Danach gab es
verschiedene gebratene Vögel, aber keinen Schwan, sondern
kleine Vögel wie Wachteln und Tauben, die mit Beeren und
Kastanien gefüllt waren. Es gab auch einen riesigen Pfau, der
in der Mitte des Tisches saß, aber ich kann nicht sagen
wonach der geschmeckt hat denn ich habe nicht davon gegessen.
Danach gab es anderes Fleisch das in kleine Stücke geschnitten
war mit viel Soße dazu, es war Schweinefleisch und
Rindfleisch. Es gab auch Gemüse dazu, das waren kandierte
Erbsen und Bällchen aus püriertem Kohl, die haben seltsam
geschmeckt. Und Buchweizen dazu, aber wer will schon einfachen
Buchweizen essen wenn es soviel anderes gibt? Zum Nachtisch gab es
dann noch einen riesengroßen Griespudding mit Soße.
Bei der Krönung war auch Aralee die Königswitwe. Sie
hatte die Geschäfte des Landes geführt seit der
König tot war, und der Richter hat gesagt sie darf sie auch
weiter führen solange Amra so klein ist. Trotzdem ist Amra
gekrönt worden und nicht Aralee, weil Amra die Krone
wiedergefunden hat und ein Schwanenkind ist.
Es gab nämlich keine Schwäne mehr seit die Krone
verschwunden war, und weil Amra beides wiedergefunden hat muß
sie eine Engelsgeborene sein. Niemand weiß wer ihre Eltern
sind, auch sie selbst nicht. Aber sie ist auch noch so klein. Die
zwei Schwäne mit denen Amra im Park war sind auch auf der
Krönung gewesen, aber Aralee hat gesagt es kommen nie wieder
lebendige Schwäne auf die Krönung weil sie
häßliche Dinge getan haben. Aber Amra hat darüber
gelacht und das war das einzige Mal auf der ganzen
Krönung.
Amra war die ganze Zeit über sehr brav und sie war auch gar
nicht mehr so sehr aufgeregt, aber vielleicht war sie auch schon
müde. Denn es war schon so spät und sonst hat sie dann
immer schon geschlafen. Aber sie hat alles gesagt was ein
König sagen muß wenn er gekrönt wird, auch die
langen Teile auf Elomond. Leider hat niemand erklärt was es
bedeutet, aber es bedeutet daß sie ein Kind des Elomaran
Korisander ist und ein guter König sein will. Die anderen
Sachen die sie gesagt hat stehen schon in den anderen Chroniken und
darum schreibe ich sie nicht alle noch einmal ab. Es war
nämlich sehr viel und ich konnte mir nicht alles merken, aber
Amra hat alles auswendig gelernt. Daran sieht man daß sie
eine Engelsgeborene ist. Manche Leute sagen auch sie ist wirklich
das Kind von Korisander selbst, aber sie hat keine Flügel und
sieht darum nicht wirklich aus wie ein Engel.
In der Halle steht eine Statue von Korisander. Sie ist
riesengroß mit ausgebreiteten Flügeln, aber wer sie
gebaut hat hat noch nie einen richtigen Engel gesehen denn die
Flügel sind zu lang. Wenn man sie herunterklappen würde
wären sie länger als die Füße des Engels. Aber
das ist auch nicht so wichtig weil die Statue nur ein Bild ist
dafür daß der Engel über Koristan wacht. Er breitet
schützend seine Flügel aus, darum müssen es
große Flügel sein, aber die Statue kann ja nicht
höher sein als die Halle.
Der Richter befragte Amra sehr lange bis Amra die Lust verlor und
anfing herumzuwandern. Sie wollte sich hinsetzen, aber der einzige
Stuhl auf dem noch niemand saß war der Thron und auf dem darf
niemand sitzen als der König. Aber dafür mußte Amra
erst einmal richtig gekrönt sein. Aralee bat den Richter um
eine Pause. Dann nahm sie Amra auf den Schoß, und Amra machte
die Augen zu und schlief. Der Richter lachte und lobte Amra weil
sie ihre Sache so gut machte und so lange durchgehalten hatte. Aber
sonst getraute sich niemand zu lachen weil es doch die Krönung
war und eine ernste Sache, und weil man nicht über den
König lachen darf selbst wenn das nur ein Kind ist.
Der Richter sagte jetzt ist Zeit für die Pause, und dann
kamen Musiker und spielten aber niemand hat dazu getanzt. Von der
Musik wurde dann auch Amra wieder wach und dann konnte die
Krönung weitergehen. Aber Amra durfte auf dem Schoß von
Aralee sitzen bleiben. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah
immer weg wenn der Richter sie etwas fragte, aber sie beantwortete
wieder brav alle Fragen und sagte sie will ein guter König
sein. Dann waren die Fragen endlich vorbei und der Richter sagte
jetzt ist es an der Zeit die Krone zu holen.
Wir gingen alle mit ihm zu dem Raum in dem die Krone lag: Denn es
ist Gesetz daß der neue König mit dem Engel allein sein
muß bevor er die Krone bekommt, damit der Engel ihn noch
bestrafen kann wenn er das noch nicht getan hat. Oder vielleicht
soll der Engel dem König noch Ratschläge geben, die sonst
niemand hören darf. Was in der Zeit passiert steht in keiner
Chronik und auch ich durfte nicht bei Amra bleiben. Dabei wollte
sie gar nicht allein in der Halle zurückbleiben. Sie lief
hinter Aralee her und hielt sich an den Beinen fest, damit Aralee
bei ihr blieb. Doch das ging nicht. Amra mußte sich in der
Halle hinknien und ganz alleine sein. Es war ein trauriger Moment
aber niemand weinte. Auch Amra weinte nicht, aber sie hat auch noch
nie jemand weinen sehen weil sie ein Engelskind ist und weil
Engelskinder niemals weinen.
Dann gingen der Richter und Aralee und alle Gäste hin zu der
Krone. Das ist ein kleines Zimmer ohne Fenster, wie ein Wandschrank
mit einer richtigen Tür. Der Raum ist immer leer, nur wenn es
gerade keinen König gibt liegt hier die Krone. Sonst ist das
Zimmer immer abgeschlossen, egal ob dort die Krone ist oder nicht.
Nur der Richter hat den Schlüssel zu der T
Die Feder entglitt Nataras Fingern. Mit fahrig zitternden
Händen hob sie sie wieder auf, aber mehr als sie festhalten
konnte Natara nicht. Plötzlich war alles ganz still.
Natürlich war es still in Aralees Zimmer; Natara sollte Ruhe
zum Schreiben haben - aber jetzt hatte sie Angst, und die Stille
machte es schlimmer.
Wenn Aralee zurückkam - wenn sie fragte, was los war…
Natara schloß die Augen, atmete durch den Mund, weil das am
wenigsten Geräusche machte, und lauschte nach Schritten.
Stille.
Vorsichtig legte Natara die Pergamente zusammen, korkte das
Tintenfaß zu und zog ihre tintenfleckige Arbeitsschürze
aus. Was konnte passieren? Nichts, niemand konnte wissen, was
Natara dachte. Aber obwohl sie das wußte, klopfte ihr das
Herz bis zum Hals, als sie aus dem Zimmer schlich.
Das Schloß war so groß, leer und kalt wie lange nicht
mehr. Jede Tür, an der Natara vorüberkam, drohte
aufzuspringen und sie mit Fragen zu überhäufen. Ihre
eigenen Schritte verfolgten sie, selbst wenn sie nur mit den
Zehenspitzen auftrat. Kalter Wind, wo keiner sein sollte, wehte um
Nataras Ohren. Ein Rauschen und Flüstern - Natara rannte
nicht, bis sie zum Gang mit den Königsbildern kam.
Ihre Gesichter waren strenger als sonst, ihre Augen lebendiger.
Das Bild von Amra, das einzige, auf das Natara sich zu sehen
freute, fehlte noch, nur eine Tafel mit ihrem Namen hatte man schon
angebracht, dort wo es einmal hinsollte. Eine Bildbreite Abstand
klaffte zwischen ihr und dem Bild des toten Königs. Kleine
Löcher in der Wand, dort wo einst Alexanders Name gestanden
hatte. Seitdem Amra aufgetaucht war, verschwanden nach und nach
alle Dinge, die noch an Aralees Sohn erinnerten. Würde Natara
auch so verloren gehen? Im Moment fühlte sie sich so. Sie nahm
die Beine in die Hand und rannte, bis sie zumindest die Galerie
hinter sich hatte. Danach schlich sie wieder durch die Schatten.
Sie wollte nicht nach dem Weg fragen; niemand sollte wissen, wo sie
hinging - aber der Palast war so groß, so fremd, daß
Natara sich mehrmals verlief, bis sie endlich, bleich, zitternd und
frierend, an die Kammertür der Totenmagd klopfte. Zum ersten
Mal mußte sie sich fragen, was sie tun würde, wenn Lyda
nicht da war.
Doch die Tür wurde ihr geöffnet.
»Komm herein, Kind«, sagte die ruhige, warme Stimme,
voller Trost für ungeweinte Tränen, wie so oft.
»Natara - du bist es? Du siehst bleich aus. Brauchst du einen
Heiler?«
Natara schüttelte den Kopf, schlüpfte ins Zimmer und
drückte die Tür zu, bevor sie sprach. Es freute sie,
daß sich die Totenmagd, die sicher mit so vielen Menschen zu
tun hatte, sich an ihren Namen erinnern konnte. Dabei hatten sie
lange nicht mehr miteinander geredet. Nur ein paar freundliche
Blicke ausgetauscht bei der Krönung, nichts weiter.
»Ich will Euch nicht stören, Lyda«, blubberte es
aus Natara heraus, und ihre Zähne klapperten. Erst, als Lyda
ihr eine Hand auf die Schulter legte, wurde sie ruhiger.
»Langsam, Mädchen«, sagte Lyda. »Keine
Angst. Du bist in Sicherheit. An diesem Ort ist noch nie ein Leid
geschehen.« Aber Natara sah die Tür, sah, daß sie
repariert worden war - an den Angeln war der Kalk von der Wand
geplatzt, als sei jemand gewaltsam in dieses Zimmer eingebrochen.
Es konnte nicht allzu lange hersein.
»Der Schlüssel«, flüsterte sie. »Habt
Ihr den Schlüssel noch?«
Die Totenmagd fragte nicht ‘Welcher Schlüssel?’,
und sie nannte auch nicht Hesters Namen, wofür Natara ihr
dankbar war. Sie zog nur den Schlüssel hervor, aus der Tasche
ihres Kittelkleides, und nickte.
»Tragt Ihr ihn immer bei Euch?« fragte Natara und
kannte die Antwort bereits: Ja, immer. Sie machte eine Pause
und trank die Ruhe des Ortes, bevor sie sagte: »Ich glaube,
ich weiß, zu welchem Raum er gehört.«
»Willst du es mir sagen?« Das bedeutete ‘und
keinem anderen’. Natara wünschte sich, mit so wenig
Worten auskommen zu können wie Lyda. Dann wäre die
Chronik auch kein Problem mehr.
»Zum Kronenzimmer«, antwortete Natara. »Ich
meine, zu dem Zimmer, in dem vor der Krönung die Krone
aufbewahrt wird.«
Die großen grauen Augen weiteten sich. »Wenn das
stimmt… wollen wir beten, daß niemand außer uns
beiden von dem Schlüssel weiß.«
»Niemand weiß es«, erwiderte Natara. »Ganz
sicher.«
»Und warum wurde Hester ermordet?«
Natara schüttelte sich. Das Wort klang so
selbstverständlich aus Lydas Mund, wie alles, was sie sagte.
»Vielleicht war es auch ein Unfall.«
»Vielleicht. Wir können sie nicht mehr fragen.«
Die Totenmagd fügte hinzu, als Natara nichts zu sagen wagte:
»Für Hester macht es keinen Unterschied. Sie hat ihren
Frieden gefunden.« Ihre Augen sagten ‘Nur du und ich,
wir kommen nicht zur Ruhe’. Für einen Moment
drückte sie Natara an sich. Es tröstete sie beide.
»Können wir den Schlüssel ausprobieren?«
fragte Natara.
»Ja«, antwortete Lyda. »Sofort, wenn du willst.
Aber wenn er paßt - dann wirst du mit einem Wissen leben, das
dir sehr gefährlich werden kann. Und wenn er nicht paßt
- dann haben wir immer noch nicht die Antwort, welches von tausend
Schlössern das richtige ist. Nur, daß es eine
mögliche Antwort weniger gibt.«
»Aber wenn wir es nicht ausprobieren…« Natara
brach ab. Würden sie niemals eine Antwort finden. »Was
würdet Ihr tun?«
Die Totenmagd zögerte. »Manchmal wünschte ich mir,
ich könnte Hester den Schlüssel einfach
zurückgeben.«
»Ihr meint - in den Nilomar?«
Lyda nickte. »Dem Schweigen, was des Schweigens
ist.«
Natara runzelte die Stirn. Das klang verlockend - und doch
unbefriedigend. »Laßt ihn uns ausprobieren«,
sagte sie und staunte über ihren Mut. »Und wenn er nicht
paßt - dann soll ihn Hester bekommen.«
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