Fünfzehntes Kapitel

Es verging kein Tag, an dem Halan nicht mit Bauchschmerzen aufwachte. Und über den Tag wurden sie eher schlimmer denn besser. Halan fragte sich, wie er das früher ertragen hatte - der König, der ihn ignorierte, Aralee, die ihm aus dem Weg ging, Anders, den er kaum zu Gesicht bekam… Nun war es nicht schlimmer, nicht wirklich - und doch wußte Halan, daß er früher nicht so sehr gelitten hatte. Vielleicht hatte Anders Recht. Vielleicht waren es wirklich nur die Bücher, die Halan fehlten. Vielleicht war ihm wirklich alles egal -
Aber an keinem Tag, an dem Halan mit Bauchschmerzen aufwachte, fehlten ihm seine Bücher. Ihm fehlte Anders’ Nähe. Halan fragte nicht, was geschehen war. Nicht nur, weil er nicht angelogen werden wollte, oder Anders in Verlegenheit bringen, oder alte Wunden aufreißen. Er wollte es nicht wissen. Es war leichter, ein Bild zu lieben. Wenn lieben überhaupt jemals leicht war.
Von allen Menschen mochte Halan wohl Ember am wenigsten, und von allen Ländern Jelenandrea. Er war noch nie dort gewesen - es war kein Land, in dem man Bücher schrieb. Jelenandrea war ein Land des Meeres - das Land des Meeres, rauh und wild und verdorben. Die Seemänner unter dem Banner des Elomaran Alexander waren üble Burschen - Halan begriff nicht, warum sein Großvater seinen spätgeborenen Sohn nach ihm benannt hatte. Vielleicht aus Verachtung - gab es denn keinen Ort für Halan, an dem nicht jeder jeden haßte und verachtete? Keinen Ort außerhalb der Bibliothek…
Aber das schlimmste an Jelenandrea waren seine Küstenstädte, Debian im Norden, Velmarn, die Hauptstadt - im Landesinneren war es ruhiger. Das Landesinnere bedeutete dem Engel des Meeres nichts, und nichts seinem König. Loringaril hatte das ausgenutzt in besseren Zeiten, bevor es bedeutungslosem Schwachsinn anheimfiel, und Jelenandrea zusammengeschoben bis auf jenen schmalen Streifen, der sich vom höchsten Norden bis in den kältesten Süden zog. Es spielte keine Rolle. In Wahrheit bestand Jelenandrea aus Meer, nur aus Meer, und brauchte die Küste aus keinem anderen Grund, als einen Namen tragen zu dürfen, sich Land nennen zu dürfen und nicht bloß Staat.
Das Landesinnere bedeutete niemandem etwas, nicht einmal seinen Bewohnern. Nach befestigten Straßen auch nur zu fragen, wäre zuviel verlangt gewesen. Oder nach guten Gasthöfen. Der steinige Feldweg schien zu rufen »Reist per Boot! Reist per Boot!«, und das sagten auch die Bauern, deren Häuser sie nachts teilten. Ember bezahlte sie dafür - zahlte ihnen Beträge, die sie nicht ablehnen konnten. Und so verzichteten die Bauern für eine Nacht auf ihr Bett und schliefen im Stall. In ihrem kurzen, harten Bett dagegen schliefen Halan und Anders Seite an Seite, dicht an dicht, weil es keinen Platz gab, und liebten einander nicht. Niemals waren sie sich ferner als in diesen Nächten.
Manchmal, wenn er es nicht mehr ertragen konnte, stand Halan in der Nacht auf. Im Licht des Mondes schreib er an der Chronik, suchte nach Wahrheit in seinen eigenen Worten und verbrannte sie wieder, bevor irgend jemand sie lesen konnte, nicht einmal er selbst. Vielleicht verschwand die Wahrheit eines Tages, wenn man sie auf Pergament bannte? Vielleicht war dies einst die Macht der Chronisten - Halans Macht war es nicht. Trotzdem schrieb er, wetzte seine Gänsekiele ab und vergeudete, was ihm noch blieb an Tinte und Pergament. Es war kein Unterschied, ob er die Ergebnisse behielt oder ins Feuer warf. Niemand würde jemals die Chronik lesen des Alexander von Korisanders Blute, König von Koristan. Es gab keinen König Alexander. Nicht in Koristan.
Wenn er genug geschrieben hatte, wenn ihm die Augen zufielen und der Schlaf endlich zu kommen versprach, schlief Halan auf dem kalten Fußboden. Anders sprach ihn niemals darauf an.
Vielleicht war es nur eine Woche, in denen sie nicht miteinander redeten - ein paar Worte wechselten, aber reden war etwas anderes - doch es waren lange Tage, sehr lange, und lange Nächte. Die Grenzen waren klar gesteckt: Jurik ging, einem Wachhund gleich, jedesmal auf Ember los, wenn dieser sich Anders näherte, Ember zog sich zurück, um es später noch einmal zu versuchen, und um wieder an Jurik zu scheitern. Halan konnte dem Hauptmann nicht sagen, daß er ihm dankbar war - sie standen ohnehin schon zu tief in seiner Schuld. Eigentlich war er ihm auch nicht dankbar. Eigentlich litt er mehr darunter, wieder und wieder seine Hilflosigkeit zu spüren zu bekommen. Es machte keinen Unterschied, ob Halan dabei war oder nicht. Es machte keinen Unterschied, ob es Halan gab oder nicht. Er konnte Anders nicht mehr ein Chronist sein, und nicht mehr ein Liebhaber. Obwohl er ihn liebte. Selbst jetzt noch.
In der Nacht saß Halan wieder mit seinem Schreibbrett auf den Knien unter dem Fenster und schrieb im schwachen Licht Worte, die er kaum lesen konnte, als er plötzlich ein Murmeln hörte, leise Worte aus Anders’ Mund, Worte in Elomond.
»Mache ich Fehler?«
Halan wollte nicht darauf antworten, und er wußte auch nicht, ob das überhaupt eine Frage war, oder ob Anders im Schlaf redete.
»Ich mache so viele Fehler! Als du so alt warst wie ich - hast du da Fehler gemacht?«
Halan sah auf, und da saß Anders im Bett, die Augen weit offen, und klar, und glänzend, und schön. Anders lächelte.
»Hast du Fehler gemacht?«
Halan konnte nicht antworten. Er wußte es nicht. Als er so alt war wie Anders, war er schon so alt wie heute, und so alt wie immer. In Halans Leben verging keine Zeit. Er machte keine Fehler, weil es nichts gab, worin er Fehler machen konnte. Er malte die Worte anderer Männer ab - war das alles? Man mußte nicht einmal lesen können, um das zu tun. Halan traf keine Entscheidungen. Halan machte keine Fehler. Halan lebte nicht.
Ihm lag schon auf der Zunge, zu sagen ‘Engelsgeborene machen keine Fehler’. Aber dann verlor er Anders vielleicht ganz, vielleicht für immer. Und so sagte Halan nur: »Ja.« Das war es doch, was Anders hören wollte. Und es stimmte auch - Halan hatte Fehler gemacht, all die Jahre über, den Fehler, nicht zu erkennen, was auf der Hand lag. Vielleicht war das der größte Fehler, den man als Erbe Korisanders machen konnte.
»Was für Fehler?« fragte Anders. »Schlimme Fehler?« Hoffnungsvoll.
»Ich habe dich nicht beschützt, als ich es gemußt hätte.« Fünf Jahre - ob Anders schon damals mit seinem Bruder geschlafen hatte? Bei der Vorstellung wurde Halan übel.
»Dann beschütze mich jetzt!« sagte Anders.
»Wie?« Der König war tot. Und gegen Ember war Halan machtlos.
»Komm zu mir.«
Halan schob sein Schreibzeug zusammen und stand auf. Plötzlich fröstelte er. Plötzlich merkte er, daß er nichts als sein Hemd trug. Jelenandrea war ein kühles Land, ein feuchtes, kühles Land, in dem vom Sommer nichts mehr zu spüren war. Anders streckte eine Hand nach ihm aus. Halan setzte sich zu ihm, auf die Bettkante.
»Wie soll ich dich beschützen«, fragte er, »wenn du mir nicht sagst, vor was?«
»Nicht vor was«, flüsterte Anders. »Vor wem.« Er sah Halan nicht an dabei, sondern blickte weiter geradeaus.
»Vor wem?« fragte Halan, und eine Stimme in ihm flüsterte ‘Töte Ember töte Ember töte Ember…’
»Vor mir«, sagte Anders.
Halan saß wie versteinert. Er wußte nicht, was er sagen sollte. »Wie?« fragte er leise. Es stimmte so sehr - Anders hatte so sehr Recht, daß Halan beinahe weinen mußte. Wenn er sich wieder die Hände blutig riß, wenn er wieder versuchte, sich an Juriks Wein zu betrinken - niemand, kein Ember der Welt, war für Anders so gefährlich wie er selbst. Und Halan hilflos. »Wie?«
Anders schlang die Arme um ihn, zog ihn an sich. »So!«
Es tat gut, ihn wieder berühren zu können, wieder seine warme Haut zu spüren - es war so kalt in Jelenandrea, so kalt, so kalt. Halan fühlte den Körper in seinen Armen wie etwas Lebendiges - das war es, etwas Lebendiges, es gab so wenig Lebendiges an Halan, wenn Anders nicht da war.
Er konnte nicht klar denken, das verwirrte ihn, das machte ihm Angst, selbst jetzt noch, wo er nicht mehr gegen seine Liebe ankämpfte. Liebe ließ er zu. Aber er wollte das andere nicht, er wollte nicht begehren, er wollte Herr seiner Gedanken bleiben und Herr seiner Gefühle -
Halan warf den Kopf nach hinten, schüttelte ihn. Er konnte seine Haare spüren, wie sie über sein Gesicht glitten, über seinen Nacken. Sonst spürte er seine Haare niemals - er schloß die Augen.
Er fühlte Anders’ Lippen, die nach seinen suchten, und er beantwortete ihre stumme Frage. Er fühlte Anders an ihm reißen. Halan konnte niemandes Gefühle lesen, nicht einmal seine eigenen, doch er spürte, wenn jemand anderes es tat. Wenn Anders danach tastete. Und wenn Anders danach schrie. Während sie sich küßten, ließ er Anders trinken, und während sie sich küßten, trank Anders Halans Gefühle, bis nichts mehr übrig war als eine angenehme Leere und das Wissen, daß er in dieser Nacht würde schlafen können, ohne vor den Träumen fliehen zu müssen. Halans Kopf war leer, und ebenso sein Körper, leer und taub, es war gut. Sie waren so gut füreinander. Anders brauchte Gefühle für zwei, und Halan keine.
»Ich liebe dich so sehr«, flüsterte Anders. »Ich liebe dich so sehr.« Seine Lippen waren dicht an Halans Ohr, sein Atem direkt in Halans Kopf, wie Nebel, warmer Nebel. »Es tut so gut, dich wiederzuhaben.«
Halan drückte ihn an sich, und schwieg. Es tat so gut. Es tat so gut.
»Du hast mir so sehr gefehlt«, murmelte Anders’ warme neblige Stimme. »Du hast mir so sehr gefehlt.« Halan wußte nicht, ob Anders die Sätze wiederholte, oder ob sie nur nachklangen in seinem leeren Kopf. »Du darfst mich nie wieder verlassen! Versprich mir, daß du bei mir bleibst, versprich mir, daß du immer bei mir bleibst!«
Halans Hand brachte nicht die Kraft auf, Anders durch die Haare zu fahren. »Ich werde bei dir sein«, flüsterte er, »wann immer du mich brauchst.«
An seiner Schulter seufzte Anders leise, und atmete ruhiger. Seine Worte klangen nun undeutlicher, wie im Halbschlaf, oder im Schlaf. »Wenn ich dich brauche… wenn ich dich brauche… Es tut so gut, daß du nicht mehr tot bist.«
Halan stand auf, wortlos, zog die Decke über den schlafenden Jungen, wortlos, und setzte sich in eine Ecke. Dann verbarg er das Gesicht zwischen den Knien. Und weinte, lautlos.

In Jelenandrea regnete es oft, gern und häufig. Der Regen kam mit dem Wind von Osten, vom Meer her. Er war wie das Land, rauh und unangenehm. Ein Teil der Wolken zog weiter bis Koristan und regnete dort friedlich hernieder, doch hier regnete es wild, von vorn und von der Seite, durchnäßte ihre Kleidung, weichte Halans Pergamente auf, daß in jenen, die schon beschrieben waren, die Tinte verlief. Halan versuchte zu retten, was zu retten war - nur die äußersten Bögen waren betroffen, aber die mußte er am besten neu schreiben, wenn sie vielleicht doch eines Tages jemand lesen wollte. Er trocknete sie vorsichtig am offenen Feuer, borgte sich eine Kerze, um mehr Licht zu haben. Die anderen sahen ihm dabei zu, aber der einzige, der Anstalten machte, ihm über die Schulter zu blicken und mitzulesen, war Ember. Vielleicht interessierte es ihn. Vielleicht wollte er auch nur beweisen, daß er lesen konnte - aber plötzlich war da wieder das Gefühl der Vertrautheit, das Gefühl, Ember von früher zu kennen. Nicht nur sein Gesicht oder seine Stimme - es waren Kleinigkeiten wie seine Schritte, seinen Schatten im flackernden Licht, die Halan bekannt vorkamen. Aber es gab keinen Namen dazu, so sehr Halan auch danach suchen mochte. Der Ember, den Halan gekannt hatte, war namenlos. Vertraut, und namenlos.
Und Halan, der niemals etwas vergaß, kein Wort und kein Gesicht, brauchte bis zur Grenze nach Koristan, um zu begreifen, woher er Ember kannte.
Die Grenze glich jener, an der sie damals das Land verlassen hatten. Früher. Heute war der einst imposante Torbogen zur Hälfte eingestürzt - nicht durch Krieg oder Gewalt, hier hatte nur der Zahn der Zeit gewütet, und ab und an ein Regensturm. Gesteinsbrocken lagen auf der Straße, halb im Schlamm des Weges vergraben. Aber es gab niemanden, um sich daran zu stören. Kaum jemand bereiste jemals diese Straße, erst recht keine Handelsfuhrwerke. Oben stand nur eine Engelsstatue, nur Alexander, und auch diese sah aus, als könne sie mit dem nächsten Wind hinunterstürzen. Einen Moment lang mußte Halan lächeln - es war also doch lebensgefährlich, diese Grenze zu überschreiten - doch dann wich die Belustigung Ärger, Ärger über die Vernachlässigung eines stolzen Bauwerkes mehr noch als Ärger über die Vernachlässigung der Beziehungen zu Jelenandrea. Falls dies noch Jelenandrea war, und nicht schon Indiradin - die beiden Länder unternahmen nicht viel, um ihre Grenzen auseinanderzuhalten. Der Engel dort oben mochte ebensogut Kaliander sein. Die eigentliche Handelsroute nach Indiradin lag in südlicher Richtung; diese Straße wurde auch gepflegt, und sicher war dort auch ein anständiger Grenzübergang, aber hier?
Es würde Jahre dauern, bis die Dinge wieder so waren, wie sie sein sollten, unter einem fähigen, umsichtigen König. Wie viele Jahre unter Anders? Halan bemühte sich, an andere Dinge zu denken.
Halan erwartete nicht, diese Grenze nach all den Jahren des Zerfalls bemannt zu sehen, doch sie war es. Ein einzelner Soldat, dick genug für zwei, trat aus einer Holzbehausung, die man offenbar hastig an einer Seite des Tores gezimmert hatte. Als Halan sich einen Moment konzentrierte, konnte er von drinnen auch das Schnarchen des zweiten Mannes hören. Er schluckte, als er in der sich allzu stramm über den Grenzsoldatenleib spannenden Uniform die Farben Koristirs erkannte. Aber was erwartete man auch von einem Land ohne König?
»Halt!« rief der Soldat und zerrte sich, während er unter den Torbogen trat, die Hosen zurecht. »Ich könnt nicht passieren!«
Anders’ Haare sträubten sich angesichts dieser offenen Schande, und seine Augen traten leicht hervor, als er das Kinn reckte. Was immer zur Zeit auch in ihm vorgehen mochte - in Momenten wie diesem sah er noch beinahe aus wie früher. »Guter Mann, wir können. Dies ist Koristan. Unser Land.« Früher hätte er gesagt ‘Mein Land’.
Halan sah Jurik auf seinem Pferd nach hinten rutschten, die Schultern nach vorne nehmen, seine Haare ins Gesicht hängen lassen, als der Wachmann mit schiefgelegtem Kopf, die Hand am Schwertknauf, auf sie zukam. Auch Juriks Hand spielte unter dem Umhang mit dem Schwertgriff. Er konnte doch nicht, nach all den Jahren, noch Angst haben, wegen den alten Anschuldigungen noch immer gesucht zu werden! Doch dann bemerkte Halan die schrägen Blicke, die Jurik zwischen Anders und dem Soldaten hin und her pendeln ließ. Es ging ihm nicht um sich. In diesem Moment sorgte er sich um Anders. Und das wiederum sorgte Halan.
Der Wachposten blinzelte. »Ihr seid’s wirklich, nicht wahr?«
Halan atmete erleichtert auf, als er das frohe Lächeln im Gesicht des Mannes sah, und mehr noch, als Anders ebenfalls lächelte.
»Ich bin es wirklich. Und Harold ebenso. Wir sind zurückgekehrt. Und Ihr«, jetzt fror Anders’ Stimme ein, »seid eine Schande, für Euch selbst, und für Koristan.«
Jetzt schnaubte der Mann und schien ferner denn je davor, vor ihren Pferden auf die Knie zu fallen und den Boden zu küssen. »Freut Euch lieber, daß überhaupt jemand mal auf Eure Grenzen aufpaßt, an denen Euch ja viel zu liegen scheint.« Den Hohn konnte selbst Halan spüren, und er stockte, als der Mann endlich sein Schwert in der Hand hielt. »Wie auch immer, ich kann auch für Euch keine Ausnahmen machen. Ihr dürfte nicht passieren.«
»Was?« schrie Anders. »Wie erdreistet Ihr Euch, mit mir umzuspringen?« Mehrere Wochen in schäbigen Gasthäusern und Bauernbetten hatten ihre Wirkung verfehlt - auf dem Boden des Heimatlandes war Anders wieder ganz der Alte. Halan mußte beinahe lächeln.
»Das hier ist eine Zollstation«, sagte der Mann, ungerührt. »Wer hier durch will, zahlt Zoll. Auf alle Waren, die er mitführt. Und so.« Der Mann grinste, und eine Reihe scheußlich verfaulte Zähne brach das Mittagslicht.
Anders stieg nicht ab - vermutlich mußte er die Zügel festhalten, um dem Mann nicht die Kehle umzudrehen. Geschminkt hätte sein Gesicht nicht weißer sein können. »Die königliche Familie«, sagte er, drohend, »zahlt weder Zölle, noch Steuern.«
»Die königliche Familie, vielleicht.«
Halan konnte nicht einmal mehr blinzeln, so schnell sprang Anders vom Rücken seines Pferdes und auf den Mann zu. Anders war nicht besonders stark, aber die Wut mußte ihm Kraft geben - Halan hatte es schon mehr als einmal erleben müssen, auch am eigenen Leibe, aber am Schlimmsten war es an jenem Tag, als Anders die Schwäne tötete. Niedermetzelte. Und mit ebendiesem barbarischen Zorn fiel er nun über den Zöllner her. Zorn und Haß, die er in den letzten Wochen unterdrückt hatte, entluden sich auf den, der vielleicht nicht daran schuld war, es aber sicher verdient hatte, zumindest zum Teil.
Wie ein Pfeil von der Sehne schnellte Anders aus dem Sattel, auf den Mann zu, der im ersten Moment zu überrumpelt war, um auszuweichen Halan hatte schon oft gesehen, wie Anders’ kleine harte Fäuste zuschlugen, schnell und schmerzhaft wie ein Hagelgewitter. Anders schlug Halan, Diener, Zofen - jeden, der ihm unterlegen war und zur falschen Zeit am falschen Ort. Nur den König hatte er nie geschlagen, oder Aralee - oder einen bewaffneten Mann.
Anders stürzte sich vom Pferd auf den Zöllner, sein Wutschrei war nicht laut, aber um so schrecklicher - wie der Schrei eines Tieres, das Schreien eines Schwanes. Halan wollte noch etwas rufen, ihn zurückhalten, aber es war zu spät, und alles passierte gleichzeitig. Der Zöllner hatte ein Schwert. In der Hand. In der Luft. Die Bewegung war ebenso schnell wie Anders’. Und ebenso tödlich.
»Stehengeblieben!« donnerte Jurik, laut und zornig, und trieb sein Pferd vorwärts, stieß Anders mit dem Fuß beiseite im gleichen Moment, in dem sein Schwert die klinge der Zöllners abfing. Alles gleichzeitig. Noch bevor Halan blinzeln konnte.
Dann lag Anders am Boden und rührte sich nicht, und Jurik und der Zöllner standen mit gekreuzten Klingen und rührten sich nicht - als hole sich die Zeit zurück, was sie den dreien zuvor geliehen hatte. Halan blinzelte.
Dann ließ der Zöllner sein Schwert sinken, und Jurik einen Augenblick später seines, und dann rappelte Anders sich langsam auf. Keiner sagte etwas. Jurik saß auf dem Rücken seines Kleppers, das rostfleckige Schwert nun auf Anders gerichtet wie der wutentbrannte Blick aus seinen schmalen Augen. Halan konnte ein leises Knurren hören.
Es war der Moment, in dem Ember von Valon zum ersten Mal während des ganzen Zwischenfalls aus dem Hintergrund trat. Auch er saß nicht ab, sondern ritt mit kleinen, trippelnden Schritten, die sein Pferd zart und zerbrechlich wirken ließen, zu dem Zöllner hin, blickte von oben auf ihn herab, und lächelte.
»Wir haben nichts zu verzollen als unsere Sterblichkeit«, sagte er leise, während er unter seinen Umhang griff. Doch er zog nicht seinen Dolch. Er reichte dem Zöllner einen kleinen Beutel, der prall war von Münzen. »Dies dürfte Euch für diesen jähen Schreck… entschädigen«, sagte er.
Jurik lachte kurz, doch er überließ es dem Zöllner, etwas zu sagen.
»Für welchen Schrecken?« fragte der Zöllner, und lächelte zurück.
Halan biß vor Wut die Zähne zusammen. Sie waren Engelsgeborene! Sie hatten es nicht nötig, sich irgend jemandes Schweigen erkaufen zu müssen! Aber er rührte sich nicht. Für den Moment war es sicher besser, so wie es war. Gold war immer unverfänglicher als eine Entschuldigung.
Der Zöllner steckte das Geld ein, während Anders, wortlos und ohne einen der anderen anzusehen, wieder aufsaß. Sie sprachen nicht, als sie weiterritten.
Dann begann Jurik zu lachen, laut und grimmig. »Wenn Ihr unbedingt Euer Gold loswerden wollt, gebt es besser mir, Ember.«
Embers Stimme war überheblich, als er erwiderte: »Und? Hat es seine Wirkung verfehlt?«
»Ihr meint - weil er uns am Leben gelassen hat?«
»Wir sind unbehelligt weitergeritten - denkt Ihr, das war selbstverständlich nach dieser… Aktion?«
»Ja«, entgegnete Jurik mit Seelenruhe. »Sollen sie uns in dieser Torruine einsperren? Der Mann wußte, was passieren würde. Er hat den Jungen provoziert, der ist erwartungsgemäß auf ihn losgegangen - und ich möchte wetten, die Taube ist schon unterwegs.«
»Woher wollt Ihr das wissen?« gab Ember zurück. Er wirkte gekränkt - vielleicht gab er Jurik Recht, und ihn schmerzte der Verlust seines Geldes - ohnehin schien er zuviel davon zu besitzen.
Jurik mußte das gleiche wittern, denn er antwortete nicht, sondern fragte zurück: »Wie wollt Ihr Gewißheit haben, daß ein Mann, dessen Schweigen Ihr erkauft, auch wirklich schweigt, wenn Ihr ihn nie wiederseht?«
Nun schwieg Ember tatsächlich, und Jurik konnte seinen Sieg genießen. Aber Halan sah in diesem Moment in Embers Augen, und plötzlich erkannte er ihn wieder, auch wenn es Jahre her war. »Baron Olriks Haushalt!« rief er. »Daher kenne ich Euch!« Er war nur kurz dagewesen, nur drei Tage, um das Buch in Empfang zu nehmen - diesmal hatte er es nicht selbst schreiben müssen, nur warten, bis auch der letzte Bogen fertig war, und der Buchbinder seine Arbeit tun konnte… Nur wenige Tage, um sich ein Gesicht zu merken und es niemals wieder zu vergessen. Kein Name. Nur ein Gesicht. Und ein paar haßerfüllter Augen.
Ember war blaß geworden, als der Name fiel. Baron Olrik. Im Süden Doubladirs. Nicht Valon in Loringaril - das war es, was Halan die ganze Zeit über in die Irre geführt hatte. »Das mag sein«, sagte er leise.
»Ihr wart sein Sekretär«, sagte Halan. Der Mann, der das Buch abgeschrieben hatte. Nur ein Sekretär, auch wenn das Buch von der Staatskunst handelte. Es war kein besonders gutes Buch.
Ember schüttelte den Kopf, und zum ersten Mal klang der Stolz in seiner Stimme echt, empfand Halan beinahe Mitleid für ihn. »Sein Sekretär?« fragte er verächtlich. »Ich bin sein Sohn.«
Halan nickte Jurik kurz zu, damit niemand sonst sein Lächeln sehen konnte. Er mochte Jurik noch immer kaum, aber sie hatten einen gemeinsamen Feind. Eigentlich sogar zwar, aber einer davon war tot. Seine Lippen formten das Wort, daß er niemals aussprach: Bastard.
Aber eigentlich war es belanglos. Embers Vergangenheit war so unbedeutend wie der Mann selbst. Und boshafter Triumph war nichts, woran sich Halan jemals erfreute. Ember bloßstellen? Daß er ein Bastard war, lag nicht in seiner Schuld, war nicht sein größtes Vergehen. Und es schien ihm nicht einmal viel auszumachen…
Jurik nickte nur kurz zurück, dann suchten seine Augen wieder den Himmel über den Bäumen ab.
Flog dort eine Taube?

Heimat - das war ein seltsames Wort, fast so seltsam wie zuhause. Halan kannte die Bedeutung, doch das Gefühl kannte er nicht. Wenn er früher die schneeweißen Mauern von Koristir vor sich aufregen sah, wenn er zurückkehrte mit den Seiten eines neuen Buches im Gepäck, dann empfand er zumindest so etwas wie Stolz - auf sein Land, auf sein Volk, auf seinen Engel. Er wollte an keinem anderen Ort auf der Welt leben. Aber er war nicht glücklich, und er war nicht geborgen.
Doch als er nun in der Ferne die gekalkten Wände schimmern sah, fühlte er etwas anderes. Beklommenheit. Angst. Drohendes Unheil.
Jurik hatte Recht. Es war ein Fehler, zurückzukehren. Spätestens nach dem Zwischenfall an der Grenze hätten sie umkehren müssen. Korisanders Kinder hatten nicht ihre Krone verloren - sondern ihr Land.
Noch immer begann Halan zu frieren, wenn er überlegte, was alles hätte passieren können - und während des wortlosen Rittes hatte Halan viel Zeit zum Grübeln, und auch zum Angsthaben. Wenn Jurik nicht dazwischengegangen wäre… wenn der Zöllner Anders getroffen hätte… Wenn er ihn getötet hätte…
»Unsinn«, sagte Jurik, als könne er Gedanken lesen. »Er wollte Anders eine Lektion erteilen - ihm bestenfalls ein paar Rippen brechen, oder den Arm. Mit der flachen Seite, nicht mit der Klinge. Das bringt keinen um.«
Was er nicht dabei sagte - nicht dabei sagen mußte - war, daß dieser Zöllner, so dick und schäbig er auch aussehen mochte, noch ein ausgezeichneter Kämpfer war. Niemand setzte so einen Mann an einen völlig überflüssigen, seit Jahren vernachlässigten Grenzübergang. Und diese Bretterhütte war neu… Es machte Halan Angst. Es war ein schlechtes Zeichen.
Und falls er gehofft hatte, sein Verhältnis zu Jurik würde sich bessern, hatte er sich getäuscht. Wenn der Zwischenfall den Mann eines gemacht hatte, dann noch arroganter. Er ließ nun keinerlei Zweifel mehr daran, daß er Recht hatte und die Engelsgeborenen nur dumme Jungen waren.
»Springt vom Pferd, um einen Mann anzugreifen«, sagte er mit einem höhnischen Seitenblick auf Anders. »Wo das Pferd in dem Moment seine einzige Waffe ist.« Und schüttelte belustigt den Kopf, als Anders wortlos trotzig zu Boden starrte.
Und Halan tat das, was er schon immer getan hatte: Er zog sich zurück. Niemand merkte es. Niemand brauchte ihn. Halan war allein mit seinen Sorgen, über die er nicht sprach.
Koristir lag vor ihm wie eine Drohung. Wenn man sie schon an der Grenze wie Eindringlinge behandelt hatte - was würde dann erst am Stadttor geschehen? Halan wollte nicht zurück in seine Heimat - er wollte nicht wissen, daß er sie verloren hatte.
Doch sie kehrten nicht um, und als sie auf Koristir zuritten, ließ sich nicht vermeiden, daß sie es auch erreichten. Die Schneeweiße Stadt. Koristir hieß sie nicht willkommen. Aber es ließ sie ein.
Halan hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, doch sie hatten Glück: Es war Markttag, und zwischen den Scharen von Menschen schienen sie nicht weiter aufzufallen - der Mann am Stadttor hieß sie einen Wegzoll zahlen, und dann waren sie auch schon in der Stadt. Und doch - Halan war auch früher schon an Markttagen nach Koristir zurückgekehrt und war doch immer aufgefallen. Sie hatten sich nicht verkleidet, nicht maskiert, nichts getan, um ihre engelsgeborenen Gesichter zu verbergen - und doch erkannte man sie nicht mehr? Das konnte nicht sein. Etwas stimmte nicht. Gerade diese Beiläufigkeit war es, die Halan Angst einjagte.
»Mir soll es Recht sein«, entgegnete Jurik. »Es gibt hier genug Leute, denen würde ich mein Gesicht nicht allzu nah unter die Nase halten.«
»Aber am Hof werden sie dich in jedem Fall erkennen«, warf Anders ein, ganz leise, um es von Embers Ohren fernzuhalten - und von denen der Stadtwache.
Jurik schüttelte den Kopf. »Das«, sagte er, »glaube ich nicht.«
Halan zwinkerte mehrmals, bevor er etwas sagte. Er wollte nicht das Risiko eingehen, Jurik zu verraten, an Ember, an irgend einen Umstehenden. Doch Jurik nickte. Nach Anders’ Worten war es, wenn, ohnehin zu spät. »Ihr meint - weil selbst ich Wochen dafür gebraucht habe?«
Doch darauf schien Jurik nur gewartet zu haben, denn sein Grinsen bleckte die Zähne, noch bevor Halan die Hälfte des Satzes gesprochen hatte. »Nein. Weil ich keinen Fuß dorthinein setzen werde.«
»Aber -«, entfuhr es Anders, zu laut, und Halan sah, Ember die Ohren spitzen. »Aber«, sagte er noch einmal, ganz leise.
»Ihr wolltet nach Koristir«, sagte Jurik. »Ich war dagegen, aber ich habe gesagt, gut, ich bringe euch hin. Hier sind wir. Das war’s. Ich mag vom Leben verdrossen sein, aber ich bin nicht lebensmüde. Wenn ihr es seid, kann ich euch nicht helfen.«
Anders zischte durch die Zähne, doch dann richtete er sich auf. Eine Pferdetränke war wahrlich nicht der rechte Ort, um seine Würde zu verlieren. »Aber ich brauche dich«, sagte er. Es versetzte Halan einen Stich - das sagte Anders auch zu ihm, manchmal, und Halan mochte es, wenn er das sagte. Doch Anders sagte es zu zu vielen anderen, wenn er sie ausnutzen wollte, und das schmerzte Halan. Ausnutzen wie Halan…
»Ich brauche mich mehr«, entgegnete Jurik. Es war tröstlich, daß er - wenn keiner, dann er - nicht auf Anders’ große Augen hereinfiel. »Wenn ihr fertig seid, ihr findet mich im Springenden Fuchs, falls der noch steht. Ich warte ein Jahr, nicht länger.« Man konnte nicht sagen, ob er scherzte.
»Springender Fuchs, so?« Halan sah Ember nie kommen, weil er stets bemüht war, nicht in seine Richtung zu blicken. »Ein Gasthaus?«
Jurik schnaubte. »Nicht Eure Klasse.«
Ember machte eine abwehrende Geste. »Ich bin nicht anspruchsvoll.«
»Aber ich.«
Eilig setzte Ember ein Lächeln hinterher und verneigte sich schnell vor Anders. »Ihr verzeiht einen kleinen Scherz…« Sie verziehen nicht, aber es war auch nicht sein Scherz. »Dennoch denke auch ich, daß es besser ist, wenn Ihr erst einmal… allein im Palast… nach dem Rechten seht.«
Halan blickte an ihm hinunter. »Das solltet Ihr wohl - Ihr wärt uns mehr von Schaden denn Nutzen.« Das hatte er immer schon sagen wollten - aber nun war der Moment dafür gekommen. Jurik hatte Recht, und Ember ausnahmsweise auch. Zum Palast gehörten nur Anders und Halan - sie mußten mit Aralee reden, allein.
Mit Aralee reden? Beinahe hätte Halan Anders Lebwohl gewünscht und mit Jurik und Ember gewartet - er wollte nicht an den Hof, nicht jetzt, nicht, bevor sie wußten, was loswar…
»Aber wie sollen wir es sonst erfahren?« fragte Anders leise, als hätte er Gedanken gelesen. »Wir brauchen einen Plan, sicher, aber dafür müssen wir die Tatsachen kennen…«
Sie stritten nicht, als sie zum Schloß ritten, obwohl das vielleicht ihre letzte Gelegenheit dafür war. Ihre letzte Gelegenheit umzukehren. Sie stritten nicht, weil Halan nichts sagte.
»Wir wissen nicht, wer Amra ist, aber sie hat kein Recht auf die Krone. Wir müssen Aralee warnen, bevor Amra mit der Krone hier erscheint - wir müssen das Volk warnen…«
Halan sagte nicht ‘Vielleicht ist sie schon hier’. Koristir war nicht anders als früher, zu groß, zu laut, zu fremd.
Die Straßen leerten sich, je näher sie dem Schloß kamen. Dies war eine Gegend, in der die Marktgäste nichts zu suchen hatten. Halan und Anders ritten in der Mitte der Straße, hintereinander. Das Tor vor ihnen war geöffnet. Ob man das Fallgitter inzwischen repariert hatte? Halan hoffte es. Das Schloß dahinter sah aus wie früher. Die silberblaue Flagge wehte auf jedem der schneeweißen Türme. Aber dort durften keine Flaggen sein - sie wurden nicht gehißt, sie durften nicht gehißt werden, solange das Land ohne König war.
»Laß uns umkehren«, flüsterte Halan. Alles in ihm schrie Fehler Fehler Fehler. Aber Anders hörte nicht zu. Oder wollte nicht hören.
Und dann war es zu spät, um noch umzukehren.
Die Wachen am Tor waren fremd, aber nicht feindselig. Vielleicht lächelte einer von ihnen sogar, doch das war nicht genau zu sagen, denn unter der Krempe der Helme lagen ihre Gesichter im Schatten. Doch eines war klar: Keiner der Männer am Tor war überrascht.
»Alexander. Harold.« Die Wachen verneigten sich. »So seid Ihr zurückgekehrt.« Eine ruhige Feststellung.
Anders deutete ein Nicken an. »Wir bedauern es, Koristan so lange ohne König gelassen zu haben«, sagte er leise.
Die Wachen rührten sich nicht - keine Zustimmung, keine Ablehnung. Keine verstohlenen Blicke. Aber dies waren Männer, die vor allem eines gelernt hatten: Stillstehen.
»Wir danken Euch, daß Ihr in unserer Abwesenheit die Stellung gehalten habt.« Es sah Anders nicht ähnlich, lange mit Hofangestellten zu reden - er mußte auf etwas hoffen, einen Hinweis vielleicht, oder eine Eskorte.
»Wir erfüllen nichts als unsere Pflicht«, sagte der Wachmann.
Dies führte zu nichts. In diesem Moment wäre ihnen Jurik vielleicht nützlich gewesen; der wußte, wie man mit Wachsoldaten redete.
Halan blickte auf die Männer hinunter. »Informiert die Königswitwe über unser Kommen.« Langsam ließen Halans Bauchschmerzen nach. Die Männer waren nicht daran gewöhnt, daß Engelsgeborene persönlich das Wort an sie richteten. Natürlich waren sie reserviert. Aber ansonsten schien alles in Ordnung zu sein.
Die Soldaten salutierten, als Halan und Anders durch das Tor ritten, auf das Hoftor zu. Langsam dämmerte der Abend, und der Platz war voller Schatten. Irgendwo rief ein Vogel.
Und Anders erstarrte.
Farrell blieb im gleichen Augenblick stehen, als Anders nach Luft schnappte und die Hände in die Zügel krallte und die Augen aufriß und die Haare sträubte. Der Vogel schrie noch einmal. Nun erkannte auch Halan den Schwan.
»Reite weiter!« flüsterte er. »Das ist nur ein Schwan!«
Man sah, wieviel Kraft es Anders kostete, Halan den Kopf zuzudrehen. »Zurück«, sagte er leise. »Wir reiten zurück.«
»Aber -«, setzte Halan an.
»Zurück!« wiederholte Anders.
Doch als sie mit einer kleinen Volte ihre Pferde wendeten, sahen sie nur Gitterstäbe. Das Tor war geschlossen.
»Das war eine Falle!« Die Angst machte Anders’ Stimme ruhig und kalt.
»Es ist Abend«, entgegnete Halan, um ihn zu beruhigen. »Abends wird immer das Gitter heruntergelassen.« Er wußte es nicht. Er hoffte es. »Schau - das Hoftor ist noch offen!«
Anders rührte sich immer noch nicht wieder. »Ich habe Angst«, formten seine Lippen. Lautlos, aber schlimm genug. Seine Angst sollte er für sich behalten.
Früher hatten sie niemals Angst. Früher waren sie von Korisanders Blute…
»Ich habe keine Angst«, erwiderte Halan - nicht, um anzugeben, sondern, um abzugeben. Es war eine Lüge.
Anders atmete einen Moment durch. Dann herrschte er Halan an: »Worauf wartest du noch? Reite vorwärts!«
Das Hoftor, nicht einladend, aber offen, verschluckte sie. Das Wappen über dem Torbogen war das alte. Die Krone, die Schwäne, Blau und Silber - und in Blau und Silber gekleidet war auch der Hauptmann der Wachen, der ihnen entgegenkam.
»Alexander von Korisanders Blute«, sagte er ruhig. »Ich muß euch bitten, vom Pferd zu steigen und mit mir zu kommen.«
Im ersten Moment glaubte Halan sogar noch an eine formelle Eskorte. Es war der Moment, bevor hinter ihm das Gitter des Hoftores herunterrasselte.
»Was soll das?« schrie Anders. »Wie glaubt Ihr, mit uns umspringen zu dürfen?«
»Alexander«, sagte der Hauptmann. »Macht keine Schwierigkeiten. In unser aller Interesse.«
»Und wenn ich nicht mitkomme?« fragte Anders trotzig.
Wortlos deutete der Hauptmann auf die Mauern hinter ihnen, auf den Wehrgang über dem Torbogen. Bogenschützen. Die Pfeile angelegt.
Anders glitt langsam vom Pferd, und alles Leben wich aus seiner Stimme, als er murmelte: »Steig ab, Neffe.«
Halan stieg ab und zeigte dem Hauptmann seine leeren Hände - sie waren unbewaffnet, sie zu bedrohen wie Verbrecher war überflüssig. Unwürdig.
»Ihr wollt sagen«, Halan bemühte sich, den Hauptmann ruhig und fest anzublicken, »wir sind… festgenommen?«
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Nicht Ihr, Harold, Euch wird nichts vorgeworfen. Nur Alexander.«

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