Es verging kein Tag, an dem Halan nicht mit Bauchschmerzen
aufwachte. Und über den Tag wurden sie eher schlimmer denn
besser. Halan fragte sich, wie er das früher ertragen hatte -
der König, der ihn ignorierte, Aralee, die ihm aus dem Weg
ging, Anders, den er kaum zu Gesicht bekam… Nun war es nicht
schlimmer, nicht wirklich - und doch wußte Halan, daß
er früher nicht so sehr gelitten hatte. Vielleicht hatte
Anders Recht. Vielleicht waren es wirklich nur die Bücher, die
Halan fehlten. Vielleicht war ihm wirklich alles egal -
Aber an keinem Tag, an dem Halan mit Bauchschmerzen aufwachte,
fehlten ihm seine Bücher. Ihm fehlte Anders’ Nähe.
Halan fragte nicht, was geschehen war. Nicht nur, weil er nicht
angelogen werden wollte, oder Anders in Verlegenheit bringen, oder
alte Wunden aufreißen. Er wollte es nicht wissen. Es war
leichter, ein Bild zu lieben. Wenn lieben überhaupt jemals
leicht war.
Von allen Menschen mochte Halan wohl Ember am wenigsten, und von
allen Ländern Jelenandrea. Er war noch nie dort gewesen - es
war kein Land, in dem man Bücher schrieb. Jelenandrea war ein
Land des Meeres - das Land des Meeres, rauh und wild und
verdorben. Die Seemänner unter dem Banner des Elomaran
Alexander waren üble Burschen - Halan begriff nicht, warum
sein Großvater seinen spätgeborenen Sohn nach ihm
benannt hatte. Vielleicht aus Verachtung - gab es denn keinen Ort
für Halan, an dem nicht jeder jeden haßte und
verachtete? Keinen Ort außerhalb der Bibliothek…
Aber das schlimmste an Jelenandrea waren seine
Küstenstädte, Debian im Norden, Velmarn, die Hauptstadt -
im Landesinneren war es ruhiger. Das Landesinnere bedeutete dem
Engel des Meeres nichts, und nichts seinem König. Loringaril
hatte das ausgenutzt in besseren Zeiten, bevor es bedeutungslosem
Schwachsinn anheimfiel, und Jelenandrea zusammengeschoben bis auf
jenen schmalen Streifen, der sich vom höchsten Norden bis in
den kältesten Süden zog. Es spielte keine Rolle. In
Wahrheit bestand Jelenandrea aus Meer, nur aus Meer, und brauchte
die Küste aus keinem anderen Grund, als einen Namen tragen zu
dürfen, sich Land nennen zu dürfen und nicht
bloß Staat.
Das Landesinnere bedeutete niemandem etwas, nicht einmal seinen
Bewohnern. Nach befestigten Straßen auch nur zu fragen,
wäre zuviel verlangt gewesen. Oder nach guten Gasthöfen.
Der steinige Feldweg schien zu rufen »Reist per Boot! Reist
per Boot!«, und das sagten auch die Bauern, deren Häuser
sie nachts teilten. Ember bezahlte sie dafür - zahlte ihnen
Beträge, die sie nicht ablehnen konnten. Und so verzichteten
die Bauern für eine Nacht auf ihr Bett und schliefen im Stall.
In ihrem kurzen, harten Bett dagegen schliefen Halan und Anders
Seite an Seite, dicht an dicht, weil es keinen Platz gab, und
liebten einander nicht. Niemals waren sie sich ferner als in diesen
Nächten.
Manchmal, wenn er es nicht mehr ertragen konnte, stand Halan in der
Nacht auf. Im Licht des Mondes schreib er an der Chronik, suchte
nach Wahrheit in seinen eigenen Worten und verbrannte sie wieder,
bevor irgend jemand sie lesen konnte, nicht einmal er selbst.
Vielleicht verschwand die Wahrheit eines Tages, wenn man sie auf
Pergament bannte? Vielleicht war dies einst die Macht der
Chronisten - Halans Macht war es nicht. Trotzdem schrieb er, wetzte
seine Gänsekiele ab und vergeudete, was ihm noch blieb an
Tinte und Pergament. Es war kein Unterschied, ob er die Ergebnisse
behielt oder ins Feuer warf. Niemand würde jemals die Chronik
lesen des Alexander von Korisanders Blute, König von Koristan.
Es gab keinen König Alexander. Nicht in Koristan.
Wenn er genug geschrieben hatte, wenn ihm die Augen zufielen und
der Schlaf endlich zu kommen versprach, schlief Halan auf dem
kalten Fußboden. Anders sprach ihn niemals darauf an.
Vielleicht war es nur eine Woche, in denen sie nicht miteinander
redeten - ein paar Worte wechselten, aber reden war etwas
anderes - doch es waren lange Tage, sehr lange, und lange
Nächte. Die Grenzen waren klar gesteckt: Jurik ging, einem
Wachhund gleich, jedesmal auf Ember los, wenn dieser sich Anders
näherte, Ember zog sich zurück, um es später noch
einmal zu versuchen, und um wieder an Jurik zu scheitern. Halan
konnte dem Hauptmann nicht sagen, daß er ihm dankbar war -
sie standen ohnehin schon zu tief in seiner Schuld. Eigentlich war
er ihm auch nicht dankbar. Eigentlich litt er mehr darunter, wieder
und wieder seine Hilflosigkeit zu spüren zu bekommen. Es
machte keinen Unterschied, ob Halan dabei war oder nicht. Es machte
keinen Unterschied, ob es Halan gab oder nicht. Er konnte Anders
nicht mehr ein Chronist sein, und nicht mehr ein Liebhaber. Obwohl
er ihn liebte. Selbst jetzt noch.
In der Nacht saß Halan wieder mit seinem Schreibbrett auf
den Knien unter dem Fenster und schrieb im schwachen Licht Worte,
die er kaum lesen konnte, als er plötzlich ein Murmeln
hörte, leise Worte aus Anders’ Mund, Worte in
Elomond.
»Mache ich Fehler?«
Halan wollte nicht darauf antworten, und er wußte auch
nicht, ob das überhaupt eine Frage war, oder ob Anders im
Schlaf redete.
»Ich mache so viele Fehler! Als du so alt warst wie ich -
hast du da Fehler gemacht?«
Halan sah auf, und da saß Anders im Bett, die Augen weit
offen, und klar, und glänzend, und schön. Anders
lächelte.
»Hast du Fehler gemacht?«
Halan konnte nicht antworten. Er wußte es nicht. Als er so
alt war wie Anders, war er schon so alt wie heute, und so alt wie
immer. In Halans Leben verging keine Zeit. Er machte keine Fehler,
weil es nichts gab, worin er Fehler machen konnte. Er malte die
Worte anderer Männer ab - war das alles? Man mußte nicht
einmal lesen können, um das zu tun. Halan traf keine
Entscheidungen. Halan machte keine Fehler. Halan lebte nicht.
Ihm lag schon auf der Zunge, zu sagen ‘Engelsgeborene machen
keine Fehler’. Aber dann verlor er Anders vielleicht ganz,
vielleicht für immer. Und so sagte Halan nur:
»Ja.« Das war es doch, was Anders hören wollte.
Und es stimmte auch - Halan hatte Fehler gemacht, all die Jahre
über, den Fehler, nicht zu erkennen, was auf der Hand lag.
Vielleicht war das der größte Fehler, den man als Erbe
Korisanders machen konnte.
»Was für Fehler?« fragte Anders. »Schlimme
Fehler?« Hoffnungsvoll.
»Ich habe dich nicht beschützt, als ich es gemußt
hätte.« Fünf Jahre - ob Anders schon damals mit
seinem Bruder geschlafen hatte? Bei der Vorstellung wurde Halan
übel.
»Dann beschütze mich jetzt!« sagte Anders.
»Wie?« Der König war tot. Und gegen Ember war
Halan machtlos.
»Komm zu mir.«
Halan schob sein Schreibzeug zusammen und stand auf.
Plötzlich fröstelte er. Plötzlich merkte er,
daß er nichts als sein Hemd trug. Jelenandrea war ein
kühles Land, ein feuchtes, kühles Land, in dem vom Sommer
nichts mehr zu spüren war. Anders streckte eine Hand nach ihm
aus. Halan setzte sich zu ihm, auf die Bettkante.
»Wie soll ich dich beschützen«, fragte er,
»wenn du mir nicht sagst, vor was?«
»Nicht vor was«, flüsterte Anders.
»Vor wem.« Er sah Halan nicht an dabei, sondern
blickte weiter geradeaus.
»Vor wem?« fragte Halan, und eine Stimme in ihm
flüsterte ‘Töte Ember töte Ember töte
Ember…’
»Vor mir«, sagte Anders.
Halan saß wie versteinert. Er wußte nicht, was er
sagen sollte. »Wie?« fragte er leise. Es stimmte so
sehr - Anders hatte so sehr Recht, daß Halan beinahe weinen
mußte. Wenn er sich wieder die Hände blutig riß,
wenn er wieder versuchte, sich an Juriks Wein zu betrinken -
niemand, kein Ember der Welt, war für Anders so
gefährlich wie er selbst. Und Halan hilflos.
»Wie?«
Anders schlang die Arme um ihn, zog ihn an sich.
»So!«
Es tat gut, ihn wieder berühren zu können, wieder seine
warme Haut zu spüren - es war so kalt in Jelenandrea, so kalt,
so kalt. Halan fühlte den Körper in seinen Armen wie
etwas Lebendiges - das war es, etwas Lebendiges, es gab so wenig
Lebendiges an Halan, wenn Anders nicht da war.
Er konnte nicht klar denken, das verwirrte ihn, das machte ihm
Angst, selbst jetzt noch, wo er nicht mehr gegen seine Liebe
ankämpfte. Liebe ließ er zu. Aber er wollte das andere
nicht, er wollte nicht begehren, er wollte Herr seiner Gedanken
bleiben und Herr seiner Gefühle -
Halan warf den Kopf nach hinten, schüttelte ihn. Er konnte
seine Haare spüren, wie sie über sein Gesicht glitten,
über seinen Nacken. Sonst spürte er seine Haare niemals -
er schloß die Augen.
Er fühlte Anders’ Lippen, die nach seinen suchten, und
er beantwortete ihre stumme Frage. Er fühlte Anders an ihm
reißen. Halan konnte niemandes Gefühle lesen, nicht
einmal seine eigenen, doch er spürte, wenn jemand anderes es
tat. Wenn Anders danach tastete. Und wenn Anders danach schrie.
Während sie sich küßten, ließ er Anders
trinken, und während sie sich küßten, trank Anders
Halans Gefühle, bis nichts mehr übrig war als eine
angenehme Leere und das Wissen, daß er in dieser Nacht
würde schlafen können, ohne vor den Träumen fliehen
zu müssen. Halans Kopf war leer, und ebenso sein Körper,
leer und taub, es war gut. Sie waren so gut füreinander.
Anders brauchte Gefühle für zwei, und Halan keine.
»Ich liebe dich so sehr«, flüsterte Anders.
»Ich liebe dich so sehr.« Seine Lippen waren dicht an
Halans Ohr, sein Atem direkt in Halans Kopf, wie Nebel, warmer
Nebel. »Es tut so gut, dich wiederzuhaben.«
Halan drückte ihn an sich, und schwieg. Es tat so gut. Es tat
so gut.
»Du hast mir so sehr gefehlt«, murmelte Anders’
warme neblige Stimme. »Du hast mir so sehr gefehlt.«
Halan wußte nicht, ob Anders die Sätze wiederholte, oder
ob sie nur nachklangen in seinem leeren Kopf. »Du darfst mich
nie wieder verlassen! Versprich mir, daß du bei mir bleibst,
versprich mir, daß du immer bei mir bleibst!«
Halans Hand brachte nicht die Kraft auf, Anders durch die Haare zu
fahren. »Ich werde bei dir sein«, flüsterte er,
»wann immer du mich brauchst.«
An seiner Schulter seufzte Anders leise, und atmete ruhiger. Seine
Worte klangen nun undeutlicher, wie im Halbschlaf, oder im Schlaf.
»Wenn ich dich brauche… wenn ich dich brauche…
Es tut so gut, daß du nicht mehr tot bist.«
Halan stand auf, wortlos, zog die Decke über den schlafenden
Jungen, wortlos, und setzte sich in eine Ecke. Dann verbarg er das
Gesicht zwischen den Knien. Und weinte, lautlos.
In Jelenandrea regnete es oft, gern und häufig. Der Regen kam
mit dem Wind von Osten, vom Meer her. Er war wie das Land, rauh und
unangenehm. Ein Teil der Wolken zog weiter bis Koristan und regnete
dort friedlich hernieder, doch hier regnete es wild, von vorn und
von der Seite, durchnäßte ihre Kleidung, weichte Halans
Pergamente auf, daß in jenen, die schon beschrieben waren,
die Tinte verlief. Halan versuchte zu retten, was zu retten war -
nur die äußersten Bögen waren betroffen, aber die
mußte er am besten neu schreiben, wenn sie vielleicht doch
eines Tages jemand lesen wollte. Er trocknete sie vorsichtig am
offenen Feuer, borgte sich eine Kerze, um mehr Licht zu haben. Die
anderen sahen ihm dabei zu, aber der einzige, der Anstalten machte,
ihm über die Schulter zu blicken und mitzulesen, war Ember.
Vielleicht interessierte es ihn. Vielleicht wollte er auch nur
beweisen, daß er lesen konnte - aber plötzlich war da
wieder das Gefühl der Vertrautheit, das Gefühl, Ember von
früher zu kennen. Nicht nur sein Gesicht oder seine Stimme -
es waren Kleinigkeiten wie seine Schritte, seinen Schatten im
flackernden Licht, die Halan bekannt vorkamen. Aber es gab keinen
Namen dazu, so sehr Halan auch danach suchen mochte. Der Ember, den
Halan gekannt hatte, war namenlos. Vertraut, und namenlos.
Und Halan, der niemals etwas vergaß, kein Wort und kein
Gesicht, brauchte bis zur Grenze nach Koristan, um zu begreifen,
woher er Ember kannte.
Die Grenze glich jener, an der sie damals das Land verlassen
hatten. Früher. Heute war der einst imposante Torbogen zur
Hälfte eingestürzt - nicht durch Krieg oder Gewalt, hier
hatte nur der Zahn der Zeit gewütet, und ab und an ein
Regensturm. Gesteinsbrocken lagen auf der Straße, halb im
Schlamm des Weges vergraben. Aber es gab niemanden, um sich daran
zu stören. Kaum jemand bereiste jemals diese Straße,
erst recht keine Handelsfuhrwerke. Oben stand nur eine
Engelsstatue, nur Alexander, und auch diese sah aus, als könne
sie mit dem nächsten Wind hinunterstürzen. Einen Moment
lang mußte Halan lächeln - es war also doch
lebensgefährlich, diese Grenze zu überschreiten - doch
dann wich die Belustigung Ärger, Ärger über die
Vernachlässigung eines stolzen Bauwerkes mehr noch als
Ärger über die Vernachlässigung der Beziehungen zu
Jelenandrea. Falls dies noch Jelenandrea war, und nicht schon
Indiradin - die beiden Länder unternahmen nicht viel, um ihre
Grenzen auseinanderzuhalten. Der Engel dort oben mochte ebensogut
Kaliander sein. Die eigentliche Handelsroute nach Indiradin lag in
südlicher Richtung; diese Straße wurde auch gepflegt,
und sicher war dort auch ein anständiger Grenzübergang,
aber hier?
Es würde Jahre dauern, bis die Dinge wieder so waren, wie sie
sein sollten, unter einem fähigen, umsichtigen König. Wie
viele Jahre unter Anders? Halan bemühte sich, an andere Dinge
zu denken.
Halan erwartete nicht, diese Grenze nach all den Jahren des
Zerfalls bemannt zu sehen, doch sie war es. Ein einzelner Soldat,
dick genug für zwei, trat aus einer Holzbehausung, die man
offenbar hastig an einer Seite des Tores gezimmert hatte. Als Halan
sich einen Moment konzentrierte, konnte er von drinnen auch das
Schnarchen des zweiten Mannes hören. Er schluckte, als er in
der sich allzu stramm über den Grenzsoldatenleib spannenden
Uniform die Farben Koristirs erkannte. Aber was erwartete man auch
von einem Land ohne König?
»Halt!« rief der Soldat und zerrte sich, während
er unter den Torbogen trat, die Hosen zurecht. »Ich
könnt nicht passieren!«
Anders’ Haare sträubten sich angesichts dieser offenen
Schande, und seine Augen traten leicht hervor, als er das Kinn
reckte. Was immer zur Zeit auch in ihm vorgehen mochte - in
Momenten wie diesem sah er noch beinahe aus wie früher.
»Guter Mann, wir können. Dies ist Koristan. Unser
Land.« Früher hätte er gesagt ‘Mein
Land’.
Halan sah Jurik auf seinem Pferd nach hinten rutschten, die
Schultern nach vorne nehmen, seine Haare ins Gesicht hängen
lassen, als der Wachmann mit schiefgelegtem Kopf, die Hand am
Schwertknauf, auf sie zukam. Auch Juriks Hand spielte unter dem
Umhang mit dem Schwertgriff. Er konnte doch nicht, nach all den
Jahren, noch Angst haben, wegen den alten Anschuldigungen noch
immer gesucht zu werden! Doch dann bemerkte Halan die schrägen
Blicke, die Jurik zwischen Anders und dem Soldaten hin und her
pendeln ließ. Es ging ihm nicht um sich. In diesem Moment
sorgte er sich um Anders. Und das wiederum sorgte Halan.
Der Wachposten blinzelte. »Ihr seid’s wirklich, nicht
wahr?«
Halan atmete erleichtert auf, als er das frohe Lächeln im
Gesicht des Mannes sah, und mehr noch, als Anders ebenfalls
lächelte.
»Ich bin es wirklich. Und Harold ebenso. Wir sind
zurückgekehrt. Und Ihr«, jetzt fror Anders’ Stimme
ein, »seid eine Schande, für Euch selbst, und für
Koristan.«
Jetzt schnaubte der Mann und schien ferner denn je davor, vor
ihren Pferden auf die Knie zu fallen und den Boden zu küssen.
»Freut Euch lieber, daß überhaupt jemand mal auf
Eure Grenzen aufpaßt, an denen Euch ja viel zu liegen
scheint.« Den Hohn konnte selbst Halan spüren, und er
stockte, als der Mann endlich sein Schwert in der Hand hielt.
»Wie auch immer, ich kann auch für Euch keine Ausnahmen
machen. Ihr dürfte nicht passieren.«
»Was?« schrie Anders. »Wie erdreistet Ihr Euch,
mit mir umzuspringen?« Mehrere Wochen in schäbigen
Gasthäusern und Bauernbetten hatten ihre Wirkung verfehlt -
auf dem Boden des Heimatlandes war Anders wieder ganz der Alte.
Halan mußte beinahe lächeln.
»Das hier ist eine Zollstation«, sagte der Mann,
ungerührt. »Wer hier durch will, zahlt Zoll. Auf alle
Waren, die er mitführt. Und so.« Der Mann grinste, und
eine Reihe scheußlich verfaulte Zähne brach das
Mittagslicht.
Anders stieg nicht ab - vermutlich mußte er die Zügel
festhalten, um dem Mann nicht die Kehle umzudrehen. Geschminkt
hätte sein Gesicht nicht weißer sein können.
»Die königliche Familie«, sagte er, drohend,
»zahlt weder Zölle, noch Steuern.«
»Die königliche Familie, vielleicht.«
Halan konnte nicht einmal mehr blinzeln, so schnell sprang Anders
vom Rücken seines Pferdes und auf den Mann zu. Anders war
nicht besonders stark, aber die Wut mußte ihm Kraft geben -
Halan hatte es schon mehr als einmal erleben müssen, auch am
eigenen Leibe, aber am Schlimmsten war es an jenem Tag, als Anders
die Schwäne tötete. Niedermetzelte. Und mit ebendiesem
barbarischen Zorn fiel er nun über den Zöllner her. Zorn
und Haß, die er in den letzten Wochen unterdrückt hatte,
entluden sich auf den, der vielleicht nicht daran schuld war, es
aber sicher verdient hatte, zumindest zum Teil.
Wie ein Pfeil von der Sehne schnellte Anders aus dem Sattel, auf
den Mann zu, der im ersten Moment zu überrumpelt war, um
auszuweichen Halan hatte schon oft gesehen, wie Anders’
kleine harte Fäuste zuschlugen, schnell und schmerzhaft wie
ein Hagelgewitter. Anders schlug Halan, Diener, Zofen - jeden, der
ihm unterlegen war und zur falschen Zeit am falschen Ort. Nur den
König hatte er nie geschlagen, oder Aralee - oder einen
bewaffneten Mann.
Anders stürzte sich vom Pferd auf den Zöllner, sein
Wutschrei war nicht laut, aber um so schrecklicher - wie der Schrei
eines Tieres, das Schreien eines Schwanes. Halan wollte noch etwas
rufen, ihn zurückhalten, aber es war zu spät, und alles
passierte gleichzeitig. Der Zöllner hatte ein Schwert. In der
Hand. In der Luft. Die Bewegung war ebenso schnell wie
Anders’. Und ebenso tödlich.
»Stehengeblieben!« donnerte Jurik, laut und zornig,
und trieb sein Pferd vorwärts, stieß Anders mit dem
Fuß beiseite im gleichen Moment, in dem sein Schwert die
klinge der Zöllners abfing. Alles gleichzeitig. Noch bevor
Halan blinzeln konnte.
Dann lag Anders am Boden und rührte sich nicht, und Jurik und
der Zöllner standen mit gekreuzten Klingen und rührten
sich nicht - als hole sich die Zeit zurück, was sie den dreien
zuvor geliehen hatte. Halan blinzelte.
Dann ließ der Zöllner sein Schwert sinken, und Jurik
einen Augenblick später seines, und dann rappelte Anders sich
langsam auf. Keiner sagte etwas. Jurik saß auf dem
Rücken seines Kleppers, das rostfleckige Schwert nun auf
Anders gerichtet wie der wutentbrannte Blick aus seinen schmalen
Augen. Halan konnte ein leises Knurren hören.
Es war der Moment, in dem Ember von Valon zum ersten Mal
während des ganzen Zwischenfalls aus dem Hintergrund trat.
Auch er saß nicht ab, sondern ritt mit kleinen, trippelnden
Schritten, die sein Pferd zart und zerbrechlich wirken
ließen, zu dem Zöllner hin, blickte von oben auf ihn
herab, und lächelte.
»Wir haben nichts zu verzollen als unsere
Sterblichkeit«, sagte er leise, während er unter seinen
Umhang griff. Doch er zog nicht seinen Dolch. Er reichte dem
Zöllner einen kleinen Beutel, der prall war von Münzen.
»Dies dürfte Euch für diesen jähen
Schreck… entschädigen«, sagte er.
Jurik lachte kurz, doch er überließ es dem
Zöllner, etwas zu sagen.
»Für welchen Schrecken?« fragte der Zöllner,
und lächelte zurück.
Halan biß vor Wut die Zähne zusammen. Sie waren
Engelsgeborene! Sie hatten es nicht nötig, sich irgend
jemandes Schweigen erkaufen zu müssen! Aber er rührte
sich nicht. Für den Moment war es sicher besser, so wie es
war. Gold war immer unverfänglicher als eine
Entschuldigung.
Der Zöllner steckte das Geld ein, während Anders,
wortlos und ohne einen der anderen anzusehen, wieder aufsaß.
Sie sprachen nicht, als sie weiterritten.
Dann begann Jurik zu lachen, laut und grimmig. »Wenn Ihr
unbedingt Euer Gold loswerden wollt, gebt es besser mir,
Ember.«
Embers Stimme war überheblich, als er erwiderte: »Und?
Hat es seine Wirkung verfehlt?«
»Ihr meint - weil er uns am Leben gelassen hat?«
»Wir sind unbehelligt weitergeritten - denkt Ihr, das war
selbstverständlich nach dieser… Aktion?«
»Ja«, entgegnete Jurik mit Seelenruhe. »Sollen
sie uns in dieser Torruine einsperren? Der Mann wußte, was
passieren würde. Er hat den Jungen provoziert, der ist
erwartungsgemäß auf ihn losgegangen - und ich
möchte wetten, die Taube ist schon unterwegs.«
»Woher wollt Ihr das wissen?« gab Ember zurück.
Er wirkte gekränkt - vielleicht gab er Jurik Recht, und ihn
schmerzte der Verlust seines Geldes - ohnehin schien er zuviel
davon zu besitzen.
Jurik mußte das gleiche wittern, denn er antwortete nicht,
sondern fragte zurück: »Wie wollt Ihr Gewißheit
haben, daß ein Mann, dessen Schweigen Ihr erkauft, auch
wirklich schweigt, wenn Ihr ihn nie wiederseht?«
Nun schwieg Ember tatsächlich, und Jurik konnte seinen Sieg
genießen. Aber Halan sah in diesem Moment in Embers Augen,
und plötzlich erkannte er ihn wieder, auch wenn es Jahre her
war. »Baron Olriks Haushalt!« rief er. »Daher
kenne ich Euch!« Er war nur kurz dagewesen, nur drei Tage, um
das Buch in Empfang zu nehmen - diesmal hatte er es nicht selbst
schreiben müssen, nur warten, bis auch der letzte Bogen fertig
war, und der Buchbinder seine Arbeit tun konnte… Nur wenige
Tage, um sich ein Gesicht zu merken und es niemals wieder zu
vergessen. Kein Name. Nur ein Gesicht. Und ein paar
haßerfüllter Augen.
Ember war blaß geworden, als der Name fiel. Baron Olrik. Im
Süden Doubladirs. Nicht Valon in Loringaril - das war es, was
Halan die ganze Zeit über in die Irre geführt hatte.
»Das mag sein«, sagte er leise.
»Ihr wart sein Sekretär«, sagte Halan. Der Mann,
der das Buch abgeschrieben hatte. Nur ein Sekretär, auch wenn
das Buch von der Staatskunst handelte. Es war kein besonders gutes
Buch.
Ember schüttelte den Kopf, und zum ersten Mal klang der Stolz
in seiner Stimme echt, empfand Halan beinahe Mitleid für ihn.
»Sein Sekretär?« fragte er verächtlich.
»Ich bin sein Sohn.«
Halan nickte Jurik kurz zu, damit niemand sonst sein Lächeln
sehen konnte. Er mochte Jurik noch immer kaum, aber sie hatten
einen gemeinsamen Feind. Eigentlich sogar zwar, aber einer davon
war tot. Seine Lippen formten das Wort, daß er niemals
aussprach: Bastard.
Aber eigentlich war es belanglos. Embers Vergangenheit war so
unbedeutend wie der Mann selbst. Und boshafter Triumph war nichts,
woran sich Halan jemals erfreute. Ember bloßstellen?
Daß er ein Bastard war, lag nicht in seiner Schuld, war nicht
sein größtes Vergehen. Und es schien ihm nicht einmal
viel auszumachen…
Jurik nickte nur kurz zurück, dann suchten seine Augen wieder
den Himmel über den Bäumen ab.
Flog dort eine Taube?
Heimat - das war ein seltsames Wort, fast so seltsam wie
zuhause. Halan kannte die Bedeutung, doch das Gefühl
kannte er nicht. Wenn er früher die schneeweißen Mauern
von Koristir vor sich aufregen sah, wenn er zurückkehrte mit
den Seiten eines neuen Buches im Gepäck, dann empfand er
zumindest so etwas wie Stolz - auf sein Land, auf sein Volk, auf
seinen Engel. Er wollte an keinem anderen Ort auf der Welt leben.
Aber er war nicht glücklich, und er war nicht geborgen.
Doch als er nun in der Ferne die gekalkten Wände schimmern
sah, fühlte er etwas anderes. Beklommenheit. Angst. Drohendes
Unheil.
Jurik hatte Recht. Es war ein Fehler, zurückzukehren.
Spätestens nach dem Zwischenfall an der Grenze hätten sie
umkehren müssen. Korisanders Kinder hatten nicht ihre Krone
verloren - sondern ihr Land.
Noch immer begann Halan zu frieren, wenn er überlegte, was
alles hätte passieren können - und während
des wortlosen Rittes hatte Halan viel Zeit zum Grübeln, und
auch zum Angsthaben. Wenn Jurik nicht dazwischengegangen
wäre… wenn der Zöllner Anders getroffen
hätte… Wenn er ihn getötet hätte…
»Unsinn«, sagte Jurik, als könne er Gedanken
lesen. »Er wollte Anders eine Lektion erteilen - ihm
bestenfalls ein paar Rippen brechen, oder den Arm. Mit der flachen
Seite, nicht mit der Klinge. Das bringt keinen um.«
Was er nicht dabei sagte - nicht dabei sagen mußte -
war, daß dieser Zöllner, so dick und schäbig er
auch aussehen mochte, noch ein ausgezeichneter Kämpfer war.
Niemand setzte so einen Mann an einen völlig
überflüssigen, seit Jahren vernachlässigten
Grenzübergang. Und diese Bretterhütte war neu… Es
machte Halan Angst. Es war ein schlechtes Zeichen.
Und falls er gehofft hatte, sein Verhältnis zu Jurik
würde sich bessern, hatte er sich getäuscht. Wenn der
Zwischenfall den Mann eines gemacht hatte, dann noch arroganter. Er
ließ nun keinerlei Zweifel mehr daran, daß er Recht
hatte und die Engelsgeborenen nur dumme Jungen waren.
»Springt vom Pferd, um einen Mann anzugreifen«, sagte
er mit einem höhnischen Seitenblick auf Anders. »Wo das
Pferd in dem Moment seine einzige Waffe ist.« Und
schüttelte belustigt den Kopf, als Anders wortlos trotzig zu
Boden starrte.
Und Halan tat das, was er schon immer getan hatte: Er zog sich
zurück. Niemand merkte es. Niemand brauchte ihn. Halan war
allein mit seinen Sorgen, über die er nicht sprach.
Koristir lag vor ihm wie eine Drohung. Wenn man sie schon an der
Grenze wie Eindringlinge behandelt hatte - was würde dann erst
am Stadttor geschehen? Halan wollte nicht zurück in seine
Heimat - er wollte nicht wissen, daß er sie verloren
hatte.
Doch sie kehrten nicht um, und als sie auf Koristir zuritten,
ließ sich nicht vermeiden, daß sie es auch erreichten.
Die Schneeweiße Stadt. Koristir hieß sie nicht
willkommen. Aber es ließ sie ein.
Halan hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, doch sie hatten
Glück: Es war Markttag, und zwischen den Scharen von Menschen
schienen sie nicht weiter aufzufallen - der Mann am Stadttor
hieß sie einen Wegzoll zahlen, und dann waren sie auch schon
in der Stadt. Und doch - Halan war auch früher schon an
Markttagen nach Koristir zurückgekehrt und war doch immer
aufgefallen. Sie hatten sich nicht verkleidet, nicht maskiert,
nichts getan, um ihre engelsgeborenen Gesichter zu verbergen - und
doch erkannte man sie nicht mehr? Das konnte nicht sein. Etwas
stimmte nicht. Gerade diese Beiläufigkeit war es, die Halan
Angst einjagte.
»Mir soll es Recht sein«, entgegnete Jurik. »Es
gibt hier genug Leute, denen würde ich mein Gesicht nicht
allzu nah unter die Nase halten.«
»Aber am Hof werden sie dich in jedem Fall erkennen«,
warf Anders ein, ganz leise, um es von Embers Ohren fernzuhalten -
und von denen der Stadtwache.
Jurik schüttelte den Kopf. »Das«, sagte er,
»glaube ich nicht.«
Halan zwinkerte mehrmals, bevor er etwas sagte. Er wollte nicht
das Risiko eingehen, Jurik zu verraten, an Ember, an irgend einen
Umstehenden. Doch Jurik nickte. Nach Anders’ Worten war es,
wenn, ohnehin zu spät. »Ihr meint - weil selbst ich
Wochen dafür gebraucht habe?«
Doch darauf schien Jurik nur gewartet zu haben, denn sein Grinsen
bleckte die Zähne, noch bevor Halan die Hälfte des Satzes
gesprochen hatte. »Nein. Weil ich keinen Fuß dorthinein
setzen werde.«
»Aber -«, entfuhr es Anders, zu laut, und Halan sah,
Ember die Ohren spitzen. »Aber«, sagte er noch einmal,
ganz leise.
»Ihr wolltet nach Koristir«, sagte Jurik. »Ich
war dagegen, aber ich habe gesagt, gut, ich bringe euch hin. Hier
sind wir. Das war’s. Ich mag vom Leben verdrossen sein, aber
ich bin nicht lebensmüde. Wenn ihr es seid, kann ich euch
nicht helfen.«
Anders zischte durch die Zähne, doch dann richtete er sich
auf. Eine Pferdetränke war wahrlich nicht der rechte Ort, um
seine Würde zu verlieren. »Aber ich brauche dich«,
sagte er. Es versetzte Halan einen Stich - das sagte Anders auch zu
ihm, manchmal, und Halan mochte es, wenn er das sagte. Doch Anders
sagte es zu zu vielen anderen, wenn er sie ausnutzen wollte, und
das schmerzte Halan. Ausnutzen wie Halan…
»Ich brauche mich mehr«, entgegnete Jurik. Es war
tröstlich, daß er - wenn keiner, dann er - nicht auf
Anders’ große Augen hereinfiel. »Wenn ihr fertig
seid, ihr findet mich im Springenden Fuchs, falls der noch
steht. Ich warte ein Jahr, nicht länger.« Man konnte
nicht sagen, ob er scherzte.
»Springender Fuchs, so?« Halan sah Ember nie kommen,
weil er stets bemüht war, nicht in seine Richtung zu blicken.
»Ein Gasthaus?«
Jurik schnaubte. »Nicht Eure Klasse.«
Ember machte eine abwehrende Geste. »Ich bin nicht
anspruchsvoll.«
»Aber ich.«
Eilig setzte Ember ein Lächeln hinterher und verneigte sich
schnell vor Anders. »Ihr verzeiht einen kleinen
Scherz…« Sie verziehen nicht, aber es war auch nicht
sein Scherz. »Dennoch denke auch ich, daß es besser
ist, wenn Ihr erst einmal… allein im Palast… nach dem
Rechten seht.«
Halan blickte an ihm hinunter. »Das solltet Ihr wohl - Ihr
wärt uns mehr von Schaden denn Nutzen.« Das hatte er
immer schon sagen wollten - aber nun war der Moment dafür
gekommen. Jurik hatte Recht, und Ember ausnahmsweise auch. Zum
Palast gehörten nur Anders und Halan - sie mußten mit
Aralee reden, allein.
Mit Aralee reden? Beinahe hätte Halan Anders Lebwohl
gewünscht und mit Jurik und Ember gewartet - er wollte nicht
an den Hof, nicht jetzt, nicht, bevor sie wußten, was
loswar…
»Aber wie sollen wir es sonst erfahren?« fragte Anders
leise, als hätte er Gedanken gelesen. »Wir brauchen
einen Plan, sicher, aber dafür müssen wir die Tatsachen
kennen…«
Sie stritten nicht, als sie zum Schloß ritten, obwohl das
vielleicht ihre letzte Gelegenheit dafür war. Ihre letzte
Gelegenheit umzukehren. Sie stritten nicht, weil Halan nichts
sagte.
»Wir wissen nicht, wer Amra ist, aber sie hat kein Recht auf
die Krone. Wir müssen Aralee warnen, bevor Amra mit der Krone
hier erscheint - wir müssen das Volk warnen…«
Halan sagte nicht ‘Vielleicht ist sie schon hier’.
Koristir war nicht anders als früher, zu groß, zu laut,
zu fremd.
Die Straßen leerten sich, je näher sie dem Schloß
kamen. Dies war eine Gegend, in der die Marktgäste nichts zu
suchen hatten. Halan und Anders ritten in der Mitte der
Straße, hintereinander. Das Tor vor ihnen war geöffnet.
Ob man das Fallgitter inzwischen repariert hatte? Halan hoffte es.
Das Schloß dahinter sah aus wie früher. Die silberblaue
Flagge wehte auf jedem der schneeweißen Türme. Aber dort
durften keine Flaggen sein - sie wurden nicht gehißt, sie
durften nicht gehißt werden, solange das Land ohne König
war.
»Laß uns umkehren«, flüsterte Halan. Alles
in ihm schrie Fehler Fehler Fehler. Aber Anders hörte
nicht zu. Oder wollte nicht hören.
Und dann war es zu spät, um noch umzukehren.
Die Wachen am Tor waren fremd, aber nicht feindselig. Vielleicht
lächelte einer von ihnen sogar, doch das war nicht genau zu
sagen, denn unter der Krempe der Helme lagen ihre Gesichter im
Schatten. Doch eines war klar: Keiner der Männer am Tor war
überrascht.
»Alexander. Harold.« Die Wachen verneigten sich.
»So seid Ihr zurückgekehrt.« Eine ruhige
Feststellung.
Anders deutete ein Nicken an. »Wir bedauern es, Koristan so
lange ohne König gelassen zu haben«, sagte er leise.
Die Wachen rührten sich nicht - keine Zustimmung, keine
Ablehnung. Keine verstohlenen Blicke. Aber dies waren Männer,
die vor allem eines gelernt hatten: Stillstehen.
»Wir danken Euch, daß Ihr in unserer Abwesenheit die
Stellung gehalten habt.« Es sah Anders nicht ähnlich,
lange mit Hofangestellten zu reden - er mußte auf etwas
hoffen, einen Hinweis vielleicht, oder eine Eskorte.
»Wir erfüllen nichts als unsere Pflicht«, sagte
der Wachmann.
Dies führte zu nichts. In diesem Moment wäre ihnen Jurik
vielleicht nützlich gewesen; der wußte, wie man mit
Wachsoldaten redete.
Halan blickte auf die Männer hinunter. »Informiert die
Königswitwe über unser Kommen.« Langsam
ließen Halans Bauchschmerzen nach. Die Männer waren
nicht daran gewöhnt, daß Engelsgeborene persönlich
das Wort an sie richteten. Natürlich waren sie reserviert.
Aber ansonsten schien alles in Ordnung zu sein.
Die Soldaten salutierten, als Halan und Anders durch das Tor
ritten, auf das Hoftor zu. Langsam dämmerte der Abend, und der
Platz war voller Schatten. Irgendwo rief ein Vogel.
Und Anders erstarrte.
Farrell blieb im gleichen Augenblick stehen, als Anders nach Luft
schnappte und die Hände in die Zügel krallte und die
Augen aufriß und die Haare sträubte. Der Vogel schrie
noch einmal. Nun erkannte auch Halan den Schwan.
»Reite weiter!« flüsterte er. »Das ist nur
ein Schwan!«
Man sah, wieviel Kraft es Anders kostete, Halan den Kopf
zuzudrehen. »Zurück«, sagte er leise. »Wir
reiten zurück.«
»Aber -«, setzte Halan an.
»Zurück!« wiederholte Anders.
Doch als sie mit einer kleinen Volte ihre Pferde wendeten, sahen
sie nur Gitterstäbe. Das Tor war geschlossen.
»Das war eine Falle!« Die Angst machte Anders’
Stimme ruhig und kalt.
»Es ist Abend«, entgegnete Halan, um ihn zu beruhigen.
»Abends wird immer das Gitter heruntergelassen.« Er
wußte es nicht. Er hoffte es. »Schau - das Hoftor ist
noch offen!«
Anders rührte sich immer noch nicht wieder. »Ich habe
Angst«, formten seine Lippen. Lautlos, aber schlimm genug.
Seine Angst sollte er für sich behalten.
Früher hatten sie niemals Angst. Früher waren sie von
Korisanders Blute…
»Ich habe keine Angst«, erwiderte Halan - nicht, um
anzugeben, sondern, um abzugeben. Es war eine Lüge.
Anders atmete einen Moment durch. Dann herrschte er Halan an:
»Worauf wartest du noch? Reite vorwärts!«
Das Hoftor, nicht einladend, aber offen, verschluckte sie. Das
Wappen über dem Torbogen war das alte. Die Krone, die
Schwäne, Blau und Silber - und in Blau und Silber gekleidet
war auch der Hauptmann der Wachen, der ihnen entgegenkam.
»Alexander von Korisanders Blute«, sagte er ruhig.
»Ich muß euch bitten, vom Pferd zu steigen und mit mir
zu kommen.«
Im ersten Moment glaubte Halan sogar noch an eine formelle
Eskorte. Es war der Moment, bevor hinter ihm das Gitter des
Hoftores herunterrasselte.
»Was soll das?« schrie Anders. »Wie glaubt Ihr,
mit uns umspringen zu dürfen?«
»Alexander«, sagte der Hauptmann. »Macht keine
Schwierigkeiten. In unser aller Interesse.«
»Und wenn ich nicht mitkomme?« fragte Anders
trotzig.
Wortlos deutete der Hauptmann auf die Mauern hinter ihnen, auf den
Wehrgang über dem Torbogen. Bogenschützen. Die Pfeile
angelegt.
Anders glitt langsam vom Pferd, und alles Leben wich aus seiner
Stimme, als er murmelte: »Steig ab, Neffe.«
Halan stieg ab und zeigte dem Hauptmann seine leeren Hände -
sie waren unbewaffnet, sie zu bedrohen wie Verbrecher war
überflüssig. Unwürdig.
»Ihr wollt sagen«, Halan bemühte sich, den
Hauptmann ruhig und fest anzublicken, »wir sind…
festgenommen?«
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Nicht Ihr, Harold,
Euch wird nichts vorgeworfen. Nur Alexander.«
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