Siebzehntes Kapitel

Schwer zu sagen, was schlimmer war: Verkatert sein oder Embers Gesicht sehen. Oder überhaupt wieder aufwachen zu müssen.
»Ah… Ihr seid wieder da…« Weiter kam der Iltis nicht. Jurik stieß ihn beiseite und schleppte sich zur Tür. Er kotzte in ein Gebüsch, pißte in den Rinnstein und tauchte mit dem Kopf in die Pferdetränke, mehrmals, bevor er in den Schankraum zurückhumpelte. Stock. Irgendwo hatte er auch einen Stock. Verdammter Stock! Jurik ließ sich auf seinen Sitz zurücksinken. Nach dem Stock konnte er später immer noch suchen. Wenn überhaupt.
»Noch Wein?« Ember war so schnell wieder an seiner Seite, Jurik hatte ihn gar nicht kommen hören.
»Nein!« grollte Jurik. Natürlich wollte er Wein. Aber nicht von einem Iltis.
Ember lächelte. »Ihr seht aus, als ob Ihr noch etwas vertragen könntet.«
»Mag sein«, murmelte Jurik. Eigentlich konnte es ihm egal sein. Er ließ sich nicht vom Trinken abhalten, nicht einmal von so einem. Es gab Menschen, die waren schlimmer als Ember. Viel schlimmer. »Wie spät ist es?« fragte er statt dessen. Eine Antwort von Ember war so gut wie jede andere.
Oder auch nicht. »Meint Ihr nicht eher - welcher Tag
Knurrend griff Jurik nach seinem Schwertknauf. So nicht! Er trank jetzt den zweiten oder dritten Tag - da hatte er es nicht nötig, sich von einem Iltis verhöhnen zu lassen. Griff nach seinem Schwertknauf… seinem Schwertknauf… Schwertknauf…
»Wo ist mein Schwert?«
Ember lachte leise. »Ich habe es in Sicherheit gebracht… oder, wie man es nimmt, Euch… Wollte einen Mord verhindern, nehmt es mir nicht übel…«
»Ich will mein Schwert!«
»Ja, Ihr bekommt es doch schon noch wieder, Euer Schwert…«
»Sofort!« Diese Stimme wirkte eigentlich immer. Oder hätte gewirkt, wenn Jurik nicht gleichzeitig so gezittert hätte. Nicht vor Wut - das kam vom Saufen, das ging vorüber. Er kannte das von früher. Wie lang früher? Er wollte nicht an früher denken. Jurik stützte sich auf der Tischkante ab. »Schwert! Sofort!«
Ember schüttelte den Kopf. Sein belustigtes Lächeln schrie nach eingeschlagenen Vorderzähnen. »Alexanders Hinrichtung reicht mir im Moment. Da müßt Ihr es nicht noch schlimmer machen, indem Ihr -«
»Es ist mein Schwert!« fiel ihm Jurik ins Wort. »Mein Schwert, nicht Eures! Ich lege es niemals ab! Ich schlafe mit meinem Schwert.«
»Ich«, sagte Ember leise, »bevorzuge in dem Fall eine Frau -«
Im nächsten Moment hatte er Juriks Hand an der Kehle. Jurik schnaubte kurz. Für mehr reicht es auch nicht - schon hatte sich Ember Jurik unsicherem Griff entwunden. War wohl auch gut so.
»Was ist?« fragte Ember, aber in seinem Spott schwang auch Schrecken mit. »Fehlt Euch die Kraft?«
»Ich bin zu nüchtern, um Euch anzufassen.« Nüchtern. Das war das Problem. Er war zu nüchtern für alles.
Ember lachte und warf der Schankmaid eine Münze zu, Gold, Kupfer, egal. »Alexander stirbt erst in einer Woche. Ihr habt genug Zeit zum Trinken.« Er würde heute noch ein blaues Auge bekommen, soviel stand fest, wenn Jurik erst wieder richtig bei Bewußtsein war.
»Holt mir trotzdem mein Schwert, ja?« Jurik klang beinahe freundlich, auch wenn ihm nicht danach war.
»Nur wenn Ihr versprecht, heute niemanden damit zu töten.«
Jurik grinste. Das fühlte sich schon besser an. »Kann ich nicht versprechen.« Aber seine Zunge pappte beim Sprechen am Gaumen, und sein Kopf dröhnte. Einen Moment lang, als Ember tatsächlich zur Treppe hin verschwand, fragte sich Jurik, ob es wirklich das war, was er wollte. Nur, um sich gleichen Atemzug die Antwort zu geben: Natürlich nicht. Aber es war nicht seine Entscheidung. Man hatte ihm keine Wahl gelassen. Sie hatte ihm keine Wahl gelassen…
Sein Kopf dröhnte. Die Luft in der Schankstube war rauchig und verbraucht, aber Jurik wußte, daß er es ohne Hilfe nicht mal mehr bis zur Tür geschafft hätte. Im Fuchsen war es auch nicht anders als überall. Was hatte Jurik erwartet - daß die Zeit stillstand? So oft war er hiergewesen, damals - nicht jeden Tag, das war vor der Zeit, aber oft. Der Wirt war ein guter Freund von ihm, damals. Und heute?
Der Wirt kannte ihn nicht mehr, oder nicht wieder. Erinnerte er sich nicht mehr des Hauptmanns mit dem gewinnenden Lächeln und dem düsteren Schicksal? Oder sah er ihn nur nicht in dem abgerissenen Fremden, dessen zu langes Haar bereits schütter wurde?
Aber es war schlimmer als das. Nicht nur der Wirt sah in Jurik nicht mehr als einen Krüppel. Jurik sah in dem Wirt nicht mehr als einen Wirt. Die Zeit war vorbei. Und der Springende Fuchs nur noch ein Wirtshaus. Jurik nannte den Wirt Wirt, als er einzog. Und sich selbst Janek.
Ember legte das Schwert vor ihm auf die Tischplatte. »Hier… ich bezweifle, daß Ihr im Moment damit… viel Schaden anrichten könnt.«
Jurik starrte ihn an, brauchte einen Moment, um wieder in die Gegenwart einzutauchen. Hatte er dem Iltis dieses selbstgefällige Grinsen nicht längst ausgetrieben? Nun war es zurück. Langsam dämmerte Jurik, was das bedeutete. Und es wurde zur Gewißheit, als Ember hinzufügte: »Ihr kämt nicht einmal bis ins Schloß, geschweige denn an sie heran.«
Juriks Finger schlossen sich wie von selbst um den Schwertknauf. Altes Leder, abgewetzt und neuumwickelt, speckig vom Schweiß, harzig von Blut. Zum ersten Mal an diesem Tag hielten seine Finger etwas fest.
Jurik sah das Schwert an, dann blickte er auf. Blickte Ember in die Augen. »Wieviel hab ich gestern erzählt?«
Ember gab ein zufriedenes Glucksen von sich. »Oh… eine Menge, was das betrifft… und, daß alles Übel der Welt von den Frauen ausgeht.«
Jurik Griff spannte sich fester. »Ihr habt -«
Ember schüttelte den Kopf. »Gebt nicht mir die Schuld, Janek.« Immerhin sagte er noch Janek. »Ihr wolltet reden. Freut Euch, daß Euch überhaupt jemand zugehört hat.«
»Ich wollte nicht reden! Vor allem nicht mit Euch!« Die Sorgen machten Juriks Kopf wieder klarer, doch sie nahmen nicht den Schmerz.
»Doch, das wolltet Ihr. Sonst hättet Ihr keinen Wein bestellt.«
»Was geht es Euch an, ob ich Wein bestelle?« schnappte Jurik.
»Oh… eine Menge«, sagte Ember. »Eine Menge. Wenn es Euch nur ums Trinken ginge, hättet Ihr Schnaps bestellt. Als Ihr nach Wein verlangtet, wußte ich, daß Ihr reden wollt.«
Jurik biß die Lippen zusammen. Jetzt war es zu spät. Alles, was er noch tun konnte war, wieder mit dem Saufen aufzuhören, um weiteren Schaden zu vermeiden. Warum hatte er überhaupt wieder damit angefangen? Er sollte doch inzwischen wissen, daß es nichts brachte als Kopfschmerzen. Und was für welche!
»Wenn Ihr Euch einmal nützlich machen wollt, holt mir Wasser«, sagte er schließlich. Er hätte auch versuchen können aufzustehen, doch seine Hand wollte das Schwert nicht loslassen.
»Wasser«, sagte Ember, und: »Wie Ihr wünscht«, und kam bald tatsächlich mit einem Becher Wasser zurück. Nur ein kleiner Becher, nichts, was Juriks Durst gelöscht hätte, aber besser als nichts. Zumindest war das pappige Gefühl weg, fürs Erste.
»Hab ich von meinem Schwert erzählt?« fragte er dann.
»Falls Ihr das auf dem Tisch meint - nein, davon nicht.«
Wieder knurrte Jurik nur, statt zuzuschlagen. Das Saufen machte ihn aggressiv, aber Schlägereien war nicht mehr sein Ding. »Wenn ich den Rest schon erzählt habe, kann ich ebensogut das mit dem Schwert noch hintendran setzen. Euer Wissen nützt Euch ohnehin nichts.«
»Nein?« fragte Ember, und wahrscheinlich hatte er damit mehr Recht als Jurik. Wer Alexander erpreßte, würde auch ohne Zögern versuchen, Jurik zu melken. Egal um was.
»Nutzt Euch nichts«, erwiderte Jurik mit einem schulternzuckenden Grinsen. »Interessiert sich niemand für mich. Keiner bietet etwas für Euer Wissen.«
Beschwichtigend hob Ember die Hände. »Versteht mich nicht falsch, bitte, versteht mich nicht wieder falsch! Gut, Ihr wolltet gestern noch die Regentin töten… wollt es heute vielleicht noch immer… aber was habe ich davon, wenn man Euch den Kopf abschlägt?«
»Hängen«, sagte Jurik. »Leute wie mich hängt man. Köpfen ist für den Adel.« Es stimmte nicht. Sie wollten ihn köpfen, damals, Aralee wollte… Unwillkürlich führte Juriks Hand den Becher zum Mund, aber es war nur Wasser darin, und selbst davon nur ein Rest. Schnell legte er die Hand zu der anderen, an den Schwertknauf, und hoffte, daß Ember es nicht bemerkt hatte, oder zumindest nicht verstanden.
Ember sagte nichts davon, nur: »Was ist nun mit dem Schwert?«
»Mein Schwert…« Plötzlich war Jurik nicht mehr sicher, ob er es wirklich erzählen sollte - eigentlich war er sogar sicher, daß es besser war, es nicht zu erzählen. Dann sagte er: »Ich habe es Vigilander geweiht.«
»Ihr habt was?« entfuhr es Ember.
»Ich habe Rache geschworen«, sagte Jurik. »Für das, was man… was sie mir angetan hat. Ich habe dieses Schwert Vigilander geweiht. Wenn ich meine Rache habe, wird er mein Schwert führen.« Bitterkeit füllte seinen Mund, doch er lächelte sie fort. »Darum lege ich das Schwert niemals ab, egal wie alt und schäbig es inzwischen sein mag.« Erstaunlich, wie glatt ihm das von den Lippen ging. Er hatte das eigentlich noch niemandem erzählt. Aber es wußte ja sonst auch niemand von der Geschichte mit… dieser Frau.
»Man sollte meinen, Ihr führt auch ohne Vigilanders Hilfe eine ganz ordentliche Klinge«, meinte Ember.
Jurik zuckte die Schultern. »Ich weiß, aber ich kann es nicht zurücknehmen. Ein Racheschwur bindet… ich weiß, es war ein Fehler, aber ich war jung, ich war zornig -«
»Ihr wart betrunken.«
»Natürlich war ich betrunken!« brauste Jurik auf. »Was hättet Ihr denn in meiner Situation gemacht?«
»Nicht getrunken«, schlug Ember vor. »Nicht geflucht, nicht gejammert - vor allem wäre ich nicht zu dieser Gerichtsverhandlung gegangen.«
»Ja, reibt nur Salz in meine Wunden!« Natürlich hatte Ember Recht. Natürlich hätte Jurik nicht zur Verhandlung gehen dürfen… Aber eigentlich war es besser so. Es war besser, die Wahrheit zu kennen. Besser wissen, daß man die falsche Frau geliebt hat, als die falsche Frau zu lieben.
»Eines Tages werde ich sie töten«, sagte Jurik. Aber das hatte er auch vom König gesagt, und der war ohne sein Zutun gestorben. Eines Tages - und dann frei sein. Und von vorne anfangen.
Als ein alter Mann mit einem kaputten Fuß.
»Warum?« fragte Ember. »Ich kenne bessere Arten, sich zu rächen. Ihr hättet ins Ausland gehen können - Euch der Armee anschließen - und dann das Heer in einen Krieg gegen Koristan führen.«
Jurik lächelte. Was dachte Ember wohl, warum Jurik Söldner geworden war? »Niemand führt Krieg gegen Koristan«, sagte er leise. »Es braucht Männer wie Euch, um damit anzufangen.«
Auge in Auge mit Ember, nur einen Moment lang. War das schon ein Pakt? Jurik wollte kein Bündnis mit diesem Iltis. Aber er wollte sich auch nie mit Halan und Anders verbünden und hatte es doch getan…
»Wo ist Halan… Harold?« fragte er schnell, bevor er sein letztes Bißchen Stolz auch noch fortwarf wie einen alten Lumpen. Kein Bündnis mit Ember. Es mußte Grenzen geben, sogar für ihn. Sogar jetzt noch.
»Prinz Harold ist im Schloß«, antwortete Ember und lächelte. »Er sagte jedoch, er wolle im Laufe des Tages noch einmal vorbeischauen. Gesetzt den Fall, daß Ihr dann wieder zur… Vernunft gekommen seid.« Zur Besinnung, sagte sein Blick.
Jurik stand auf, vorsichtig. »Ich leg mich jetzt schlafen«, sagte er. Richtig schlafen. Im Bett, nicht auf dem Tisch. »Wenn Harold auftaucht - sagt Ihm, er soll auf mich warten. Ich möchte mich noch persönlich von ihm verabschieden.«
Und das war’s. Er hatte die Wahl zwischen Saufen und Weiterziehen.
Weiterziehen war besser.

Halan sah verändert aus seit Anders’ Verhaftung. Lebendiger. Vielleicht tat es ihm ganz gut, mal von dem Jungen getrennt zu sein. Vielleicht war es aber auch nur, weil er gelernt hatte zu kämpfen.
Auf jeden Fall war es ein würdiger Ausgleich dafür, wie tot Jurik aussah und sich fühlte, und das, obwohl er noch den halben Tag geschlafen hatte. Er zitterte nicht mehr, aber das war auch alles.
»Ich wünsch dir Glück«, sagte Jurik. »Du wirst es brauchen.«
Halan starrte ihn an. »Glück wofür?« Als wisse er nicht genau, was Jurik meinte.
Jurik zuckte die Schultern. »Zukunft. Du hast wenigstens eine.«
Er meinte sich selbst als Gegensatz, aber Halan sagte: »Anders nicht.«
»Was?«
»Anders wird sterben, Jurik.«
Der zuckte wieder die Schultern. »Seine Chancen stehen ganz gut, daß er überlebt. Du hast das Engelsurteil für ihn rausgeschunden, das ist besser als der Nilomar. Die Schwäne sind keine Wölfe, sie fressen kein Fleisch -«
»Nicht fressen«, sagte Halan. »Aber töten.«
Jurik war den Schwänen begegnet, damals, als er noch im Schloß lebte. Sie konnten fauchen und beißen wie eine Gans - »Wenn man sie reizt. Nicht, wenn Anders sich ruhig verhält.« Er stockte.
»Anders haßt Schwäne«, sagte Halan. »Er ist außer sich von Angst, schon jetzt. Die Schwäne werden nervös, sie wollen fort, aber ihre Flügel sind gestutzt, sie sind eingepfercht, tausend Menschen schauen zu - da muß ein Engel eingreifen, um ihn zu retten.«
»Welcher Engel?« fragte Jurik. Halan ging nicht darauf ein. Korisander hatte genug Gelegenheiten, Alexander zu retten, ungenutzt verstreichen lassen. »Hast du den Jungen gesehen?«
Halan schüttelte den Kopf. »Niemand darf zu ihm. Aber ich habe mit Aralee gesprochen.«
Jurik zuckte zusammen vor Schmerz, als habe ein Pfeil ihn getroffen. Es tat weh. Es tat nicht so weh, als er sie noch liebte. Aber er fing sich wieder und fragte nur: »Und? Was sagt sie?« Er wollte es nicht wissen, nicht wirklich. Er wollte nie wieder von ihr hören. Dreizehn Jahre lang hatte er sie nicht vermißt. Sie würde ihm auch jetzt nicht fehlen.
»Sie hat gefragt«, sagte Halan, »ob ich versuchen werde, ihn zu retten.«
Jurik hob müde eine Augenbraue. »Das sieht ihr ähnlich.«
»Wenn wir ihn nicht retten«, sagte Halan, »stirbt er.«
»Wenn du ihn zu retten versuchst«, entgegnete Jurik, »stirbst du.«
Beide schwiegen für einen Moment. Jurik zog seinen Mantel fester um sich - es war schwer, Halan ausgerechnet in dieser Situation sagen zu müssen, daß er fortging. Vielleicht reichten die Gesten.
»Ich weiß, worauf Aralee aus ist«, sagte Halan schließlich leise. »Sie will, daß ich ihn befreie. Weil sie einen Grund braucht, um auch mich hinrichten zu lassen. Sie will uns beide tot sehen. Ich weiß zuviel. Ich weiß Dinge, die niemand wissen darf. Jeder Tag, den ich frei herumlaufe, bringt Aralee in Gefahr.«
»Hat sie das gesagt?« Natürlich nicht. Aralee sagte nie etwas in der Art. Es war nicht hinterrücks genug.
Halan schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich weiß es.«
Etwas in seinem Tonfall machte Jurik Sorgen. Er ahnte. Er kannte Halan inzwischen gut genug. Und sie beide kannten Ember. Jurik legte eine Hand auf Halans. Sie war schmal und feingliedrig wie die eines Mädchens, aber hart, so hart. »Halan«, sagte Jurik. Ein letzter guter Rat konnte nicht schaden. »Sag mir die Wahrheit - du versucht nicht, sie zu erpressen, damit sie Anders freiläßt.«
Halan biß die Lippen zusammen und zog die Hand weg. »Das«, sagte er, »kann ich nicht versprechen.«
Jurik stand auf. Er hatte das Bedürfnis, gegen eine Wand zu rennen, und das Gefühl, gerade genau das zu tun. »Halan, sie bringt dich um.«
»Sie bringt Anders um«, flüsterte Halan. »Aber das ist Euch ja egal.«
Es waren fünf Schritte bis zur Tür, fünf Schritte, und nie wieder ein Wort davon. Jurik hatte keine Lust, sich zu streiten, und keine Lust mehr, auch nur Lebwohl zu sagen. Aber erwidern mußte er dennoch etwas.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Für ihn und um ihn. Aber ich habe schon bessere Freunde sterben gesehen. Und ich habe ihn davor gewarnt, nach Koristan zurückzugehen. Was also erwartest du?«
»Daß Ihr ihn befreit«, sagte Halan leise. Er sagte es sogar ernst. »Daß Ihr mir helft, ihn aus dem Kerker zu holen.«
Die nächsten Worte sprach Jurik nicht aus. Halan Augen sollten scharf genug sein, um ihm von den Lippen ablesen zu können. »Ich habe bei deiner Mutter schon nicht daran gedacht, sie zu befreien. Und ich denke auch jetzt nicht daran.«
Halan schrie nicht und schlug nicht zu. Die Wut machte andere Dinge mit ihm als mit anderen Männern. »Dann laßt Ihr mir keine Wahl«, sagte er leise.
»Ich lasse dir jede Wahl der Welt. Nur treffen mußt du sie selbst.«
»Ich weiß mehr, als manchen Leuten lieb ist«, sagte Halan. »Auch Aralee. Auch Euch. Mein Wissen ist das einzige, was ich jetzt noch habe. Und wenn ich damit Anders’ Freiheit erkaufen kann -«
»Ember!« bellte Jurik. »Kommt her! Sofort«
Ember, der in einer anderen Ecke saß und völlig unbeteiligt tat, schrak zusammen und war im nächste Moment bei ihnen. »Ja?«
Jurik deutete auf Halan. »Schaut ihn Euch an! Schaut ihn genau an, so wie er Euch angeschaut hat, um Eure Machenschaften nachzuäffen.«
»Ja?« sagte Ember. Kein Engel konnte unschuldiger dreinblicken.
Halan schüttelte den Kopf. »Ich will Euch nicht erpressen.« Er lächelte. »Erpressen kann man ein Wrack wie Euch nicht. Ihr taugt nur noch zum Verkaufen. Aralee wird es sicher interessieren, daß Ihr noch lebt.«
Jurik faßte sich an den Kopf. Wäre es um jemand anderen gegangen als Aralee, hätte er der Ganze sogar noch lustig finden können. »Damit bekommst du mich nicht, Halan. Es ist Aralee egal, ob ich lebe. Für sie bin ich tot. Vielleicht nimmt sie meinen Kopf, wenn sie ihn geschenkt kriegen kann - aber wert ist ihr das nichts, erst recht nicht einen so dicken Fisch wie Alexander. Und selbst wenn du mich verkaufst - deinen Kopf bekommt sie auch noch, so oder so.«
Das waren gute letzte Worte. Fünf Schritte bis zur Tür -
Jurik schaffte drei, langsamer als sonst, stärker auf seinen Stock gestützt, wackliger in den Beinen. Dann stand Ember in der Tür.
»Wohin so eilig, Jurik?« Den Namen kannte er jetzt also auch. Natürlich. Wenn man im Suff erst einmal zu reden anfing…
»Aus dem Weg!« sagte Jurik ungehalten. Gegenüber Halan brachte er zumindest noch so etwas wie Loyalität auf. Hier nicht.
»Soll das schon Eure Rache gewesen sein?«
Jurik bleckte die Lefzen. »Rache kommt später. Ich habe Zeit.« Er wußte, er hatte keine. Er war bald siebenunddreißig. Und jetzt schon alt.
»Ihr könntet sie jetzt schon haben, wenn Ihr nicht so feige wärt.«
»Feige?« Jurik knurrte. Das sagte der Richtige!
»Wie wollt Ihr sie töten, wenn Ihr Euch nicht einmal ihrem Haus nähert?«
Jurik antwortete nicht. Wenn er Ember mit dem Stock vor die Brust stieß, war die Tür wieder frei. Besser so, als mit dem Schwert.
»Dabei müßt Ihr sie nicht einmal töten, um Euch zu rächen. Bringt sie in Mißkredit… Laßt schlechtes Licht auf sie fallen… Wenn sie es nicht einmal schafft, ihren eigenen Sohn bei seinem Engelsurteil abzuliefern…«
Ember lächelte nur noch, als Jurik umkehrte. Und zu seinem Tisch zurückhumpelte, und dabei knurrte und brummelte wie einer, der es besser wissen sollte. Und das tat Jurik ja auch.
»Machen wir einen Plan«, sagte er. »Machen wir einen Plan, ja? Machen wir ausnahmsweise einen Plan.«
Sie hatten keine Zeit zum Planen.

Geduld war das Wichtigste, Geduld und Selbstsicherheit. Jurik saß an der gleichen Stelle wie damals, dem Tor gegenüber, und beobachtete. Damals wie heute beachtete ihn niemand. Damals ein schlaksiger Junge vom Land, fünfzehn Jahre alt, in seinen Bewegungen noch zuviel von einem Bauern, in seinen Taschen fünf Silbermark und ein Brief, den er nicht lesen konnte, ein Empfehlungsschreiben von Graf Oskat. Fünf Mark waren ein Haufen Geld, genug, um einige müßiggängerische Tage in der Hauptstadt zu verbringen, um das Schloß zu beobachten, zu sehen, wer hineinging und wer herauskam, wie sie hineingingen und wie sie herauskamen. Als er sich dann endlich auf das Tor zu bewegte, war der Zauber der großen Stadt ebenso verflogen wie seine Unsicherheit oder seine Aufregung. Er wußte, was er wollte - kein Stallknecht sein, sondern eine Schloßwache. Hauptmann der Schloßwache. Jurik bekam, was er wollte - nicht sofort, aber er bekam es.
Eigentlich war es sein Schloß mehr als Aralees. Er war vor ihr da, er hatte es vor ihr erobert. Er kam in dem Jahr, als Halan geboren wurde, aber von dem hörte oder sah man nur wenig. Ein unsichtbares Kind, unbedeutend, unsichtbar.
Jetzt war Jurik unsichtbar, weil er saß wie ein Bettler, wie etwas, das niemand sehen wollte. Sitzen, beobachten, die Menschen zählen, zusehen, wie sie kamen, und wie sie gingen. Nichts verriet einen Menschen mehr als sein Gang. Die Stimme konnte man noch verstellen, aber den Gang nicht. Jurik sowieso nicht mehr.
Jurik bettelte nicht, sprach niemanden an. Er wollte nicht vertrieben werden, nicht auf sich aufmerksam machen. Seine einzige Verkleidung war ein Strohhalm zwischen seinen Zähnen, und doch erkannte ihn niemand. Zeit zum Beobachten, Zeit zum Planen. Den beiden anderen sagte er, es ginge um Anders’ Befreiung. Doch sie wußten alle, es ging um Aralees Tod.
Jurik plante lieber, solange er nüchtern war. An einem guten Plan konnte man sich besser festhalten als an einem Weinkrug. Auf sie zugehen, lächeln und sagen: »Guten Abend, Aralee. Erinnerst du dich an mich? Du hast mein Leben zerstört. Ich nehme dir deines.«
So ein schöner Satz. Zu pathetisch, um ihn jemals wirklich auszusprechen, aber schön. Mit Gewalt mußte sich Jurik daran erinnern, daß er nicht deswegen war, daß es um Anders ging.
Am Tor wechselten die Wachen. Das war der Moment, auf den Jurik wartete, der Grund, warum er zurückgeblieben war, obwohl er besser reiten konnte als Halan. Jeder ritt besser als Halan. Aber sollte der ruhig mit Ember die Pferde zum Treffpunkt bringen. Die Wachen waren Juriks Angelegenheit. Das Warten sollte sich gelohnt haben.
Die beiden Wachen ließen Helm und Brustplatte zurück, als sie ihren Posten verließen. Jurik erinnerte sich, wie sehr er diese Helme immer gehaßt hatte. Vielleicht wollte er darum auch sofort Hauptmann werden? Es war egal. Die beiden Männer kamen auf ihn zu. Einer von ihnen hatte ein vertrautes Gesicht. Der andere war zu jung, um damals schon dabeigewesen zu sein. Kehrten die Wachleute immer noch im Lustigen Humpen ein, wenn ihre Schicht vorbei war? Der Humpen lag dem Schloß am nächsten - er war nicht so gemütlich wie der Fuchs, aber niemand wollte für ein Bier und einen Eintopf quer durch die Stadt müssen.
Die Männer gingen zum Humpen, und Jurik folgte ihnen. Er ließ sich Zeit, sie anzusprechen, Zeit, die er brauchte, um sich an den Namen des einen zu erinnern. Jurik hatte so viele Namen gekannt in den letzten Jahren, gekannt und wieder vergessen… Akim? Nein, Akim nicht, das war ein Schütze, kein Helebardier. Fernik war es auch nicht, der mußte schon zu alt sein, und Dermot nicht, der war damals Juriks Leutnant - ob er wohl nach ihm Hauptmann geworden war? Und dieser Mann hier - irgendwas mit Ma - Jurik grübelte, ging langsamer als nötig. Da dachte er eben noch, die Vergangenheit hätte sich ihm eingebleut, und dann scheiterte er an einem einfachen Namen! Ma… Maril? Marek? Dann, endlich, wußte er es wieder. Mardol. Sohn eines Schuhmachers. Kam zu den Wachen, als Jurik ein Jahr oder so da war. Ein guter Mann - das, was ein Soldat einen Guten Mann nannte: Einer, der wußte, wo er hingehörte, und der zufrieden war mit dem, was er hatte und konnte.
Jurik machte sich nicht die Mühe, den Staub von seinen Kleidern zu klopfen, als er den Männern folgte. Sollten sie ihn ruhig für einen Bettler halten - er mochte kein Mitleid, aber manchmal war es nützlich. Er wartete, bis sie sich gesetzt hatten - an einen Tisch mitten im Raum, mit dem Rücken zur Tür, wie Leute, die nichts zu befürchten hatten. Dann trat er an sie heran.
»Sagt - Mardol?« Ohne eine Antwort abzuwarten, griff er nach einem Schemel.
»Ja?« Es dauerte eine Weile. Im Kamin barst ein Holzscheit.
»Du erkennst mich nicht?« Er hatte mehr erwartet.
Mardol musterte ihn kurz, zuckte die Schultern, dann schob er dem anderen Mann ein paar Pfennige zu. »Hier - hol uns schon mal das Bier, ja?« Er wartete, bis der Junge beim Wirt war, dann fragte er leise: »Jurik?« Als Jurik nickte, rutschte er eilig vom Tisch ab und drehte sich dabei so, daß er die Tür zumindest sehen konnte. »Laß dich hier nicht blicken, das kann uns alle den Kopf kosten - du wurdest für tot erklärt.« Er war bleich geworden.
»Lebe aber noch«, antwortete Jurik leise. »Was ich dir verdanke, unter anderem.«
»Schschsch!« machte Mardol. »Leise!«
Jurik zuckte die Schultern. »Niemand erkennt mich, wenn nicht einmal du es tust. Wer mich noch kennt, erinnert sich an einen Toten.«
Mardol spähte vom Tresen zur Tür und zurück. Sein Blick war ängstlicher als erwartet. Als sehe er nur, daß das Ende seine Lauf­bahn gerade neben ihm Platz genommen hatte und die Beine über­einanderschlug.
»Es ist an der Zeit, mich zu bedanken«, sagte Jurik und fühlte sich plötzlich wie ein Verräter. Mardol und die anderen hatten sich damals seinetwegen in Gefahr gebracht, und nun war sein Dank, das gleiche noch mal von ihnen zu verlangen? Sein Mund war plötzlich trocken, und er schluckte, als der junge Mann mit den Bierkrügen zurückkam. Ungefragt stellte er einen vor Jurik hin.
Jurik nahm ihn an, und lächelte. Es gab also immer noch anständige Männer bei der Wache. »Danke«, sagte er, »aber ich muß mich noch vorstellen.«
Mardol begann sich zu winden, sagte aber nichts.
»Ich bin Janek«, sagte Jurik. Ging ihm glatter über die Lippen als sein richtiger Name. »Mardol und ich stammen aus dem gleichen Dorf. Sein Vater hat mir die Schuhe besohlt - bevor ich unter den Pflug gekommen bin, heißt das.« Er deutete auf seinen Fuß.
Der junge Mann bedauerte, und Mardol entspannte sich. Manchmal konnte es von Nutzen sein, am Stock gehen zu müssen. Einen Krüppel ausfragen war rüde. Von einem Krüppel ging keine Gefahr aus. Ein Krüppel befreite nicht Alexander aus dem Kerker…
Jurik nahm einen Schluck Bier und versuchte selbst zu entspannen. Dünnbier. Er haßte Dünnbier. Aber es machte nicht betrunken, und darum tranken es die Wachleute zwischen den Schichten. Das war das Beste, was man darüber sagen konnte.
»Das tut mir leid«, sagte Mardol, und meinte es auch so. »Und was… machst du jetzt… so?«
Jurik zog es vor, ihm nichts von seiner Söldnerlaufbahn zu erzählen. Er machte ein paar vage Andeutungen, die alle soviel sagten wie Landstreicher und fragte sich, wie er wohl am besten zur Sache kommen konnte, ohne gleich gehenkt zu werden. »Immer noch besser als das, was ihr hier zur Zeit mitmacht«, sagte er dann rundheraus.
Die beiden tauschten Blicke aus, dann nickten sie. »Wir haben zwei Männer verloren«, sagte Mardol bitter. »Als die Krone gestohlen wurde - hast du davon gehört? Nicht tot, aber frag nicht - die hat es schwerer erwischt als dich. Seitdem weiß hier keiner mehr, was eigentlich los ist.«
»Und Dermot?« fragte Jurik weiter. »Ist der jetzt euer neuer Hauptmann?«
Wieder nickte Mardol. »Ja, er ist Hauptmann geworden, nachdem -«
Jurik brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Er unterdrückte ein Lächeln. Dermot als Hauptmann - das war gut. Dermot verdankte er sein Leben. Und Dermot - anders als Mardol, der nichts weiter war als ein Guter Mann - war auch in der Position, ihm zu helfen. »Ob ich Dermot wohl sehen kann? Er hat noch einen Gefallen gut bei mir.«
»Ich werde ihn fragen«, sagte Mardol mit einem Schulternzucken. »Kann nicht sagen, ob er Zeit hat. Wir müssen auch schon wieder los.«
Der Aufbruch der Wachmänner kam zu hastig - Jurik wußte, daß ihre Pausen eigentlich länger dauerten, und daß Mardol Ausflüchte suchte. Verdenken konnte er es ihm nicht. Angst zu haben war in Ordnung, in diesen Zeiten, in diesem Schloß. Jurik nahm Mardol nicht einmal die Enttäuschung übel. Die Wachen hatten damals nicht ihre Leben aufs Spiel gesetzt, damit ihr Hauptmann als abgerissener Trunkenbold endete…
Jurik straffte sich, beobachtete die Tür, durch die Tür die Straße, und wartete, auf Dermot, auf Halan, auf einen wirklich guten Plan.
Dermot kam als erstes, und er sah noch genauso aus wie damals. Sein Haar war nun graumeliert, doch es wurde noch nicht schütter - er und Jurik mußten gleich alt sein, doch Dermot war jünger. Stolz und aufrecht - die Jahre als Hauptmann schienen ihm gutgetan zu haben.
»Dich gibt es also auch noch?« fragte er. Sein Blick verriet keine Enttäuschung - Mardol mußte ihn vorgewarnt haben.
»So ist es«, sagte Jurik. »Und ich habe eine Bitte.«
»Eine… Bitte«, wiederholte Dermot. Argwöhnisch.
Jurik nickte. Besser gleich zur Sache kommen. »Hilfst du mir in den Kerker?«
Dermot erstarrte, rang einen Augenblick lang sichtlich mit der Fassung. »Was?« fragte er, und setzte sich endlich auf einen freien Schemel. »In den Kerker?«
Jurik sagte nichts, wartete einen Moment, bis Dermot begriff.
»O nein«, sagte der neue Hauptmann. »Das kann ich nicht machen.«
Jurik lächelte. »Was, glaubst du denn, will ich dort?«
Dermot verzog das Gesicht. »Du willst Alexander sehen, vermute ich.«
Früher waren sie einmal befreundet. Sie tranken in der gleichen Kneipe und schliefen mit den gleichen Frauen, und es schien nicht viel auszumachen, daß einer von ihnen Hauptmann war und der andere nur sein Leutnant. Erst, als Jurik die schönste Frau am Hof begehrte - und bekam - fiel ein Schatten auf diese Freundschaft. Diese eine Frau teilten sie nicht. Und Dermot, der damals den Kürzeren gezogen hatte, sollte jetzt besser zugeben, daß er in Wirklichkeit als Sieger hervorgegangen war. Hätte Aralee sich für ihn entschieden statt für Jurik - säßen sie nun auf vertauschten Plätzen. Vertauschte Leben.
Aber Dermot wirkte alles andere als dankbar.
»Kannst du’s mir verdenken?« fragte Jurik.
»Kommt drauf an, was du willst«, sagte Dermot. Seine Stimme war fremd.
Zu fremd, um ihm noch die Wahrheit zu sagen. »Ich kann nicht zu seiner Hinrichtung gehen«, sagte Jurik leise. »Da sind zu viele Leute, die mich erkennen würden, von denen ich das nicht will. Aber ich -«
»Er wird nicht hingerichtet«, unterbrach Dermot ihn schroff. »Er bekommt ein Engelsurteil. Er wird nicht hingerichtet!« Dermot hatte Anders festgenommen. Und bedauerte es, so wie damals, als er Jurik festnahm?
»Ich hoffe, er stirbt«, erwiderte Jurik kalt. »Ich hoffe, seine ganze Familie verschwindet vom Erdboden. Ich hätte seinen Bruder getötet, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte. Und Alexander -«
Dermot stützte sich auf die Tischplatte. »Du bekommst deine Rache nicht! Jedenfalls nicht mit meiner Hilfe.«
Insgeheim atmete Jurik auf, doch er schüttelte den Kopf. »Ich werde ihn nicht anrühren. Ich will ihn nur sehen, in der Zelle, ich will sehen, daß es ihm schlechter geht als mir. Seine Familie hat mein Leben zerstört. Ich will ihm ins Gesicht spucken.«
Dermot leerte seinen Bierkrug, ehe er antwortete. »Ich hab mich ab und an gefragt, was aus dir geworden ist. Du verdienst Mitleid, aber mehr auch nicht. Wenn ich dich in den Kerker bringe - dann wirst du danach verschwinden, und nie wieder auch nur einen Fuß in die Nähe von Koristir setzen!«
Jurik bemühte sich um ein Lächeln. »Für mehr als einen reicht’s bei mir ohnehin nicht.« Dann sagte er noch »Danke«, und »Wann?«
»Ich warte am Tor, wenn es dunkel wird. Aber ich warte nicht lange.«
»Danke«, sagte Jurik noch einmal. Draußen war es nachmittag, und an der Zeit, daß Halan zurückkam, Halan, der sich selbst einen Weg zu Anders’ Zelle suchen mochte.
Sie würden teuer dafür bezahlen, Halan und Anders. Sie wußten es noch nicht, aber sie würden zahlen. Sie zwangen Jurik, seine Freunde zu verraten. Dermot an den Galgen zu bringen. Oder schlimmeres.
Sie würden zahlen. Aralee würde zahlen - Jurik verließ das Wirtshaus, bevor er wieder Wein bestellte. Es war zu spät. Er hatte sich entschieden. Er konnte immer noch weglaufen. Aber er würde es nicht.

»Ich traue meinen Augen nicht - Ihr seid immer noch nüchtern?«
Jurik schoß hoch, nicht ganz so schnell wie die Funken aus seinen Augen. »Ember! Was habt Ihr hier zu suchen?«
Ember lächelte. »Das gleiche wie ihr, möchte ich meinen - den Prinzen Alexander, natürlich.«
Jurik fluchte. »Ihr habt eine Aufgabe, und die ist, auf die Pferde aufzupassen und den Treffpunkt -«
»Prinz Harold paßt auf die Pferde auf«, sagte Ember, und lächelte.
Jurik kämpfte gegen seine Begeisterung an. Niemals überrumpeln lassen. »Aber Harold sollte doch -«
»Prinz Harold hat es… sich anders überlegt. Er wird auf die Pferde aufpassen, während ich mit Euch -«
»Das könnte ihm so passen!« schnaubte Jurik. »Was glaubt er wohl, warum ich einen Plan mache? Weil mir langweilig ist? O nein. Wenn Harold und Ihr glaubt, im letzten Moment alles über den Haufen werfen zu müssen - bitte, aber ohne mich. Seht zu, wie Ihr klarkommt. Pläne braucht Ihr ja offenbar keine!«
»Würdet Ihr bitte aufhören zu brüllen?« fragte Ember und lächelte etwas weniger. »Und Euch anhören, was Prinz Harold gesagt hat?«
»Nein! Es interessiert mich nicht! Wir hatten einen Plan -«
»- den Harold abgeändert hat. Und er ist ein Erbe Korisanders.«
»Und ich«, bellte Jurik, »bin Hauptmann! Meine Pläne werden ausgeführt, dafür sind sie da.« Bald ging die Sonne unter, und nichts so, wie es sollte. »Was hat er denn gesagt, unser weiser Harold?«
Ember ging in die Hocke und bedeutete Jurik, es ihm nachzutun. »Er sagt«, flüsterte er in verschwörerischem Tonfall, »daß es zu verdächtig ist, wenn er sich dem Kerker nähert. Und daß die Königswitwe nur darauf wartet und ihm eine Falle stellen will.«
Unwirsch schüttelte Jurik den Kopf. Zum Hocken war er nicht geschaffen, und Knien tat seinem Rücken weh. »Das sagte er schon. Mag sein, daß er Recht hat. Wenn er Alexander nicht befreit, kann man ihn dafür auch nicht hinrichten. Aber wir hatten besprochen -«
»Dann macht eben einen neuen Plan«, sagte Ember leichthin. »Das könnt Ihr doch so gut… Hauptmann.«
Wo er Recht hatte - der alte Plan war dahin, so oder so. Kein Halan, der die Bibliothek aufsuchte und von dort zum Kerker schlich. Es war ohnehin riskant. Vielleicht hatte Halan Recht… »Also gut«, murmelte Jurik. »Also gut. Und Ihr werdet ihn befolgen. Wortwörtlich. Ohne Meckern, ohne Mucken.«
»Selbstverständlich«, lächelte Ember. Es war ein wenig zuviel Furcht darin. Hunde lächelten, wenn man sie bedrohte. Ember war ein Feigling. Darum sollte er auch auf die Pferde -
»Gut«, sagte Jurik. Eine Idee blitzte durch seinen Kopf und machte ihn knisternd wach und beinahe fröhlich. »Dann werdet Ihr folgendes tun.«
»Ich höre«, sagte Ember, und lächelte noch immer, als könne er nicht damit aufhören.
»Ihr werdet Euer Geld nehmen«, sagte Jurik, »und damit in ein Wirtshaus Eurer Wahl gehen und die drei gröbsten, dicksten und brutalsten Schläger anheuern, die Ihr bekommen könnt. Ihr erkennt sie daran, daß sie Euch die Nase brechen und ein paar Zähne ausschlagen, also fragt erst mit Geld und dann mit Worten. Ich werde unterdessen zum Kerker gehen. Ihr wartet hier mit den Schlägern und zählt bis tausend, oder sehr oft bis drei, und dann folgt Ihr mir und mischt dabei jeden auf, der sich Euch in den Weg stellt, bis Ihr sicher seid, daß Ihr jede einzelne Wache im Hof versammelt habt. Sorgt dafür, daß es eine Prügelei gibt, dann macht Euch aus dem Staube. Der einfachste Weg ist - geht in den Park, immer an der Mauer lang, bis Ihr an einen Baum kommt, auf den Ihr bequem klettern könnte und von da aus über die Mauer -«
»Einen Moment«, sagte Ember.
Jurik lächelte. »Ja?« Hatte er die Falle entdeckt? Hatte er erkannt, daß dieses Ablenkungsmanöver, und wenn nicht das, dann die Flucht, ihn umbringen konnte? Und sollte?
»Ihr wollt allein in den Kerker?« fragte Ember.
Jurik grinste. »Lieber allein, als mit Euch.«
»Aber, mit Verlaub, nichts gegen Euren Plan, oder den anderen, aber… meint Ihr nicht, Ihr überschätzt Euch da?«
Jurik fletschte die Zähne. »Weder überschätze ich mich, noch unterschätze ich Euch. Die Wahrheit ist - ich will Euch nicht dabeihaben.«
»Aber Euer Fuß -«, versuchte es Ember noch einmal.
»Mein Fuß und ich arbeiten schon sehr lange zusammen, und ich weiß, daß ich ihm vertrauen kann. Von Euch weiß ich das Gegenteil. Prinz Harold« - um ihn einmal bei diesem Namen zu nennen, denn Jurik war immer noch wütend - »vertraut lieber darauf, daß ich seinen kostbaren Onkel rette, als es selbst zu versuchen. Ich weiß, das ist ein Risiko, er weiß es, Ihr wißt es auch - aber dann versuche ich es auf meine Art. Wenn ich scheitere, weiß ich zumindest, an wem es liegt. Und Ihr« - jetzt mußte Jurik das Vergnügen in seiner Stimme mühsam unterdrücken - »trödelt hier nicht so rum, sondern kümmert Euch um Eure Aufgaben. Sofort
Mit ein wenig Glück würde der Iltis es nicht einmal heile bis zum äußeren Tor schaffen. Jurik brauchte kein Ablenkungsmanöver, nur eine Möglichkeit, Ember loszuwerden. Vielleicht war es sogar das Beste. Ohne Ember kam Jurik besser zurecht als mit Halan…
Jurik schloß die Augen und atmete durch. Seine Hand drückte ein letztes Mal den Schwertgriff an seiner Seite. Er hatte es nicht versteckt - niemand versteckte ein Schwert. Aber er hatte die Scheide mit alten Lederstreifen umwickelt, daß sie nach nicht viel aussah, und darüber trug er seinen Umhang - niemand achtete jemals auf das Schwert. Jurik sah wie ein Bettler aus. Bettler trugen keine Schwerter. Und die Leute sahen nicht, womit sie nicht rechneten.
Dann ließ er die Schultern sinken, zog seine Umhang wieder glatt. Und packte seinen Gehstock wie eine Waffe. Er war so weit. Es konnte losgehen.

Sie sprachen nur wenig, als sie den gekiesten Weg entlanggingen. Jurik war nicht nach Plappern zumute, und Dermot stellte keine Fragen. Es ärgerte ihn sichtlich, daß Jurik das Tempo vorgab - da war Sache eines Hauptmanns, und sie waren es beide, aber Dermot mehr als Jurik, denn er trug die Uniform.
»Jetzt komm schon!« herrschte er ihn einmal an, aber Jurik konnte nicht schneller, sie wußten es beide.
Dieses Stück Weg war das Schwierigste, und auch das Gefährlichste, weil jeder sie sehen konnte. Zwar dämmerte es, aber Der Hauptmann Führte Einen Fremden Mann Ins Schloß - das fiel auf, es gab immer Augen, die sich so etwas merkten, Augen, die nach Macht strebten oder nach Geld.
Sie gingen über den Seitenweg, nicht die Auffahrt - das war unauffälliger, aber auch mühsamer. Jurik haßte Kies; das Ende seines Stockes sank darin ein, und er konnte sich nicht richtig aufstützen. Mehrmals stolperte er, und auch wenn er nicht hinfiel, ärgerte es ihn, und es ärgerte Dermot.
»Es tut mir leid«, sagte der andere Hauptmann abrupt.
Jurik zuckte die Schultern. »Mir auch. Warum?«
»Ich nehme dich jetzt in Gewahrsam«, sagte Dermot. »Dann gibt es hinterher keine dummen Fragen.«
»Ich verstehe schon«, sagte Jurik, und rempelte ihn. Einen kurzen Schlagabtausch später war sein Arm auf dem Rücken in Dermots festem Griff, und er wurde vorwärtsgezerrt. Der Hauptmann der Wachen führte einen Landstreicher ab. Jurik fluchte, das war nicht gespielt, es tat weh, der verdrehte Arm zwang ihn, sich weit nach vorne zu beugen und beide Füße gleichzeitig zu belasten.
»Maul halten!« sagte Dermot und fügte leise hinzu: »Das sollte es dir schon wert sein, oder?«
Jurik haßte ihn in diesem Moment. Erinnerungen kochten wieder hoch, an seine Verhaftung vor dreizehn Jahren - Dermot, der sagte ‘Du weißt, ich mach das nicht gerne, also zwing mich nicht, dich zu verletzen, ja?’ Dermot, der sagte ‘Wir regeln das schon irgendwie anders’. Dermot, der sagte ‘Irgendwie hast du dir das auch selbst zuzuschreiben’. Und der jetzt Juriks Leben lebte, als habe er nie ein anderes gehabt…
Es dauerte lange, bis sie an der Seitenpforte waren, bis sie durch die Seitenpforte waren, bis Dermot seinen Griff lockerte und Jurik, bleich und wortlos und voller Schmerzen, seine Finger wieder vom Stockgriff löste.
Von hier aus hätte er auch allein zum Kerker gehen können - den Weg vergaß man nie, und er hatte lange genug im Palast gelebt, um sich auch nach Jahren noch zurechtzufinden. Trotzdem war es besser, Dermot dabeizuhaben, um im Zweifelsfall wieder schnell ein Gefangener zu werden.
Dämmrige Gänge führten sie zur Kellertreppe. Auf jeden marmorgefliesten Flur kamen zwei, auf denen die Bediensteten wandelten. Es gab auch mehrere Kellertreppen, doch nur eine wurde benutzt - die anderen waren zu gefährlich, die hölzernen Stiegen alt und morsch. Die Haupttreppe war aus Stein. Jurik schluckte, als er sie betrat. Der Weg in den Kerker war allzu oft nur in einer Richtung begehbar.
»Sag - hast du eigentlich Familie?« fragte er beiläufig.
Dermot nickte nicht ohne Stolz. »Hab eine von den Zofen geheiratet, vor acht Jahren schon - erinnerst du dich an Helen? Mein Sohn wird bald sieben.«
Jurik erinnerte sich an Helen - nicht die schönste aller Frauen, aber solide, sicher eine gute Ehefrau und Mutter. Er beneidete Dermot ein wenig. Mehr als nur ein wenig. Aber es war, wie es war -
Ein kleiner Wachraum lag dort, wo die Treppe auf die Kerkerebene mündete. Sie ging doch noch weiter hinunter, aber Jurik war froh, daß für ihn das Stufensteigen erst einmal vorbei war. Der Rückweg sollte noch schwer genug werden. Aber den kannte er ja schon.
Ein kleiner Wachraum, offen zur Treppe hin, getrennt von dem Gang dahinter durch eine schwere eichene Tür mit Riegeln und Schlössern. Ein kleiner Tisch, zwei Schemel, ein Ofen, in einer Nische das Plumpsklo. Spielkarten auf dem Tisch, zwei Bierkrüge, aber nur ein Wachmann. Im Sommer waren die Wachschichten hier unten begehrt, im Winter gefürchtet. Der Ofen zog nur durch das Treppenhaus ab, dann war die ganze Stube mit Qualm gefüllt, nur feucht und kalt war es immer noch…
»Hauptmann -«, sagte der Wachmann, und stand stramm.
Einen Moment lang fühlte Jurik sich angesprochen.
Dermot nickte nur und sagte: »Schlüssel.« Ohne Zögern, ohne Rückfragen reichte ihm die Wache den Bund mit den Kerkerschlüsseln. Dermot war immer ein guter Leutnant gewesen. Nun war er ein guter Hauptmann. »Wo ist Vadem?«
Der Wachmann deutete auf die Tür, und Jurik bemerkte, daß die Riegel gelöst waren. »Paßt auf die Frau auf.«
Einen Moment lang raste Juriks Herz. Frau. Aralee. Hier unter. Seine Hand wollte das Schwert hervorreißen, doch er ließ es sein. Ruhig. Wenn sie es war - wenn sie jetzt in der Zelle war - konnte er sie immer noch umbringen-
»Komm jetzt«, sagte Dermot. »Wir haben nicht die ganze Nacht.«
Jurik nickte. Wenn Dermot wußte, wie Recht er hatte…
Im dem Moment, als Dermot die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, drehte sich auf der anderen Seite ein Schlüssel, und die Tür ging auf. Der andere Wachmann war zurück, und mit ihm die Frau. Nicht Aralee. Eine Totenmagd. Jurik schauderte und schluckte den bitteren Geschmack schnell hinunter. Dann fragte er grimmig: »Kommen wir zu spät?«
Dermot antwortete nicht. Es war eine dumme Frage. Die Totenmägde kümmerten sich auch um die Todgeweihten im Kerker, redeten mit ihnen. Vielleicht wollten sie ihnen die Angst nehmen - Jurik glaubte nicht, daß ihnen das jemals glückte. Ein Verurteilter wollte niemanden, der mit ihm über den Tod sprach - er wollte leben.
Dieser Gang mit den Fackeln - auch an den erinnerte sich Jurik noch zu gut. Aber heute roch es anders. Es roch nach Alter und Schimmel, nicht mehr nach Tod und Pisse. Wurde wohl nicht mehr soviel gebraucht, der Kerker. Sie richteten die Leute lieber gleich hin…
Dermot ging zielstrebig an den dicken vergitterten Türen vorbei, hinter denen es kein Licht gab - um zu sehen, wer in einer Zelle saß, mußte man schon mit einer Fackel hineinleuchten. Jurik folgte ihm langsam und mit kalter Ruhe. Die Tür zum Wachraum war wieder geschlossen. Gut.
Dann blieb Dermot stehen, vor einer Zelle, die nicht anders aussah als alle anderen. Den Schlüsselbund hielt er in der Hand, doch er schloß nicht auf. »Gut, Jurik«, sagte er. »Jetzt gib mir dein Schwert.«
»Was?« entfuhr es Jurik.
»Mit dem Griff voran.«
Langsam zog Jurik das Schwert.
Dermot sagte: »Glaubst du vielleicht, ich lasse dich mit Schwert zu ihm in die Zelle?«
Jurik schüttelte den Kopf. »Ich hatte nie vor, dem Jungen etwas zu tun.« Das Schwert wog schwer in seiner Hand. Er hob es. »Verteidige dich.«
Worte, die er nie gesprochen hatte. Worte, die ihn das Leben kosten konnten. Nur, weil Dermot sein Freund war.
Dermot stutzte nur einen Moment lang, doch er zögerte nicht, und er stellte keine Fragen. Jurik gab ihm den Moment, den er brauchte, um sein Schwert zu ziehen. Aber mehr nicht.
In der Schlacht hatte man selten mehr als einen Schlag. Hier brauchte Jurik zwei: Den ersten täuschte er an, wollte nicht treffen, wollte nur, daß Dermot mit einer Drehung auswich. Für den zweiten Schlag verlagerte er sein ganzes Gewicht auf den kaputten Fuß und traf Dermots Seite, dort, wo ihn die Riemen schützen, nicht aber der Brustpanzer, den sie hielten. Einen dritten Schlag brauchte Jurik nicht.
Und er hätte ihn auch nicht mehr geschafft. Der Schmerz raubte ihm den Atem, als das Bein unter ihm nachgab und er neben Dermot zu Boden stürzte.
Jurik wischte sein Schwert am Umhang ab. Im Aufstehen nahm er den Schlüsselbund an sich. Er sah nicht nach, ob Dermot noch lebte. Er hatte schon oft einen Freund verloren. Aber er hatte noch nie einen getötet.
Schmerzen rasten noch immer durch seinen Fuß, als er, schwer auf seinen Stock gestützt, mit zitternden Händen Schlüssel ausprobierte. Er wußte nicht, wieviel Zeit ihm blieb, bis einer der Wachleute nachschauen kam, was aus ihnen geworden war. Zumindest hatten sie keinen Lärm gemacht. Dermot traute ihm zu sehr, um Alarm zu schlagen… Was hatte er erwartet?
Mit einem grimmigen Klicken drehte sich der Schlüssel im Schloß, einmal, zweimal, dreimal. Jurik löste einen Riegel, löste noch einen Riegel, und dann stieß er die Tür auf. »Anders?«
Er erhielte keine Antwort.
Fast konnte man meinen, die Zelle war leer. Die Pritsche war unberührt, die Eisenfesseln in der Wand verwaist. Aber in einer Ecke, eine, in die kaum ein Stück Licht fiel, kauerte teilnahmslos ein Bündel Mensch. Anders.
»Steh auf!« Jurik wagte es nicht zu rufen, also trat er durch die niedrige Tür und stieß den Jungen mit seinem Stock. »Komm mit!«
Anders regte sich nicht. Jurik bückte sich, griff ihm ins Haar und zog seinen Kopf hoch. Schmerzen hatten den Jungen eigentlich immer wieder auf die Beine gebracht -
Im schwachen Licht hätte Anders ebensogut tot sein können.
Seine Augen waren offen, aber ohne jede Regung. Jurik fühlte ihm den Atem, um sicherzugehen, daß Anders noch lebte. Dann fluchte er. Jetzt, zum ersten Mal im Leben, hätte er Ember brauchen können. Er selbst konnte Anders nicht tragen. Und Ember war sonstwo…
Jurik fluchte, dann schlug er Anders ins Gesicht. »Steh schon auf!«
Der Junge stand komplett neben sich. Wie bei Damiander - Jurik schnüffelte, doch er roch keinen Wein. Wenigstens. Woher auch? Aber was auch immer, er mußte Anders zu Bewußtsein bringen. Schnell.
Jurik zog sein Schwert und drückte die kalte Klinge gegen Anders Gesicht. Manchmal half das. Jurik hatte schon Kinder wie Anders auf dem Schlachtfeld umkippen sehen, zwischen all den Toten.
»Janek«, sagte Anders leise.
Jurik lachte böse. »Schön wär’s. Ich bin jetzt wieder Jurik.«
»Janek«, sagte Anders noch einmal, und lächelte. Dann rappelte er sich, langsam, auf.
Jurik atmete durch. »Gut. Stehen kannst du. Laufen auch.« Man sollte meinen, er hatte Übung darin, Anders wieder auf die Beine bringen. »Oder willst du lieber hierbleiben und dich tothacken lassen?«
Anders sagte erst nichts, und dann: »Blut.« Er schwankte. Jurik packte ihn bei der Schulter und schob ihn in Richtung Tür - und war versucht, sich dabei selbst auf ihn zu stützen. Sie brachen beide beinahe zusammen. Juriks Kopf dröhnte, und sein Herz flatterte - so sollte das nicht gehen, ihnen lief die Zeit davon, aus dem Kerker mußte man rennen, und das konnten sie beide nicht.
»Blut«, sagte Anders noch einmal, und dieses Mal klang seine Stimme wacher, lebendig. Beinahe freudig. Er schnupperte. Zu seinen Füßen lag Dermot.
Jurik stand kurz davor, sich zu übergeben. »Ja, da ist Blut«, preßte er hervor und stieß den Jungen weiter.
Anders stolperte gegen die Wand, und wieder klappten die Beine unter ihm weg. Vielleicht hatte er noch ein wenig Lebenswillen, aber es war keine Kraft in ihm.
Jurik lauschte ins Dunkel. Wieviel Zeit blieb noch? Wieviel Zeit? Mit einer Hand stützte er sich ab, mit der anderen kramte er in seiner Tasche. Dörrfleisch. Salz war gut. Salz machte wach - Anders sah nicht aus, als habe er in den letzten Tagen überhaupt etwas gegessen. Jurik hatte immer Dörrfleisch in der Tasche, es hielt sich ewig, und das war auch gut so, denn es war auch schon ewig da drin. Der Geschmack war erbärmlich, aber um den ging es nicht.
Jurik nahm sich nicht die Zeit, ein Stück abzureißen, er schob Anders den ganzen Streifen in den Mund. Der Junge würde schon von selbst anfangen zu kauen, und dann -
Jurik erstarrte, als er etwas Warmes an seiner Hand fühlte. Es war Anders’ Zunge. Vor und zurück, vor und zurück. Anders leckte das Blut von Juriks Hand.
Angewidert stieß Jurik Anders von sich, so heftig, daß dieser mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Vielleicht half das ja. Aber Jurik verschwendete keine Zeit mehr darauf, den Jungen zur Besinnung zu bringen. Anders war krank - wenn sie Glück hatten, war es nur das Fieber. Schlimmstenfalls hatte er endgültig den Verstand verloren. War ja nicht der erste in seiner Familie, von dem man das behaupten konnte…
Jurik lauschte und vermeinte für einen Moment, Stimmen aus der Wachstube zu hören, aber das konnte nicht sein, die Tür war zu dick und aus Eiche, man hätte brüllen müssen, um hindurch zu schallen - aber Jurik ließ es nicht darauf ankommen, und auch nicht darauf, auch noch gegen die Wachposten kämpfen zu müssen. Er packte Anders, schulterte ihn wie einen Sack und trug ihn, mehr schlecht als recht, wie ein alter Mann, der ein Klafter Holz schleppte. Sein Stock bog sich, so fest mußte er sich darauf stützen, doch er brach nicht. Die Schmerzen reichten aus, um eine weitere Woche zu saufen. Mindestens. Aber nicht jetzt.
Jurik nahm kein Licht mit - konnte keines mitnehmen, weil er beide Hände brauchte, um Anders und sich selbst zu schleppen. Wollte keines mitnehmen, weil Licht sie verraten konnte. Der Gang vor ihm war dunkel, aber an seinem Ende, das wußte Jurik, war eine Tür. Vielleicht verriegelt. Vielleicht vernagelt. Das Treppenhaus dahinter hatte man schon zu Juriks Zeiten stillgelegt.
Vielleicht war der Durchgang auch vermauert. Vielleicht gab es keine Treppe mehr - Halan hatte es ihm nicht sagen können. Es war ein Risiko. Wenn Tür und Treppe noch da waren, lag die Freiheit in greifbarer Nähe. Sonst war sie noch einen Kampf entfernt, und noch zwei tote oder verwundete Wachen - Jurik betete um die Tür. Er drehte nicht um, sah nicht zurück zu der Stelle vor der offenen Zellentür, wo die Fackel an der Wand Dermots Körper beschien.
Vor ihm lag die Tür, die Tür, und sie war versperrt mit ein paar Brettern, die man überkreuz davorgenagelt hatte. Das mochte reichen als Erinnerung, hier besser nicht durchzugehen, aber Jurik schreckte so etwas nicht. Er ließ Anders zu Boden rutschen, länger tragen konnte er ihn ohnehin nicht, und hebelte die Bretter mit seinem Schwert los. Sie polterten zu Boden; sie würden ihren Fluchtweg verraten, aber das war egal. Die Tür war abgeschlossen. Jurik betete, daß sie nicht von der anderen Seite verriegelt war, und versuchte Dermots Schlüsselbund. Er war weniger Aufwand, alle Türen zu vernageln, als an einem Schlüsselbund die alten Schlüssel herauszusuchen.
Der Bund war schwer, das waren Schlüssel aus fünfhundert Jahren. Paßte nicht. Paßte nicht. Paßte nicht. Jurik fluchte leise, und versuchte es weiter. Paßte. Endlich. Jurik zögerte noch einen Moment, lauschte, niemand kam. Dann drehte er den Schlüssel und rammte die verzogene Tür mit seiner Schulter auf.
Vor ihm gähnte der Nilomar.

Dunkelheit füllte das alte Treppenhaus, und kalte Luft schlug Jurik entgegen, alte, kalte Luft. Wie ein Blinder tastete er mit dem Stock nach der Dunkelheit, doch er stieß sofort auf ein Hindernis - da war noch ein Treppenabsatz, und wo noch ein Absatz war, da war auch eine Treppe, oder zumindest genug davon für einen Versuch.
Zu Juriks Füßen rappelte Anders sich langsam auf, auch das war gut - Jurik konnte ihn nicht mehr tragen, kein Stück mehr, aber er konnte Anders mit sich ziehen, als er die Tür ins Dunkel durchquerte. Und hinter sich schloß. Er schloß hinter ihnen ab. Mit Glück würde das die Verfolger einen Moment lang aufhalten. Er bezweifelte, daß viele Leute außer Dermot Schlüssel für alle Türen hatten. Und eine Axt war nicht schnell genug zur Hand…
Jurik drückte, auf dem Treppenabsatz kauernd, das Ohr gegen die Tür und lauschte ein letztes Mal. Er hörte nichts, nicht viel jedenfalls, außer dem Wind, der durch das Treppenhaus zog. Er schien aus der Tiefe zu kommen. Jurik wußte nicht, wie weit die Treppe noch nach unten führte.
»Anders«, flüsterte er. »Rühr dich nicht, ja?« Nicht, bevor er wußte, wieviel diese Treppe noch aushielt. Alles um ihn herum schien leicht zu beben und zu schwanken. Aber das konnten auch die Schmerzen sein.
»Janek«, flüsterte Anders, und eine Hand berührte im Dunkel Juriks Fuß, hielt sich an seinem gesunden Knöchel fest. »Wo sind wir, Janek?« Seine Stimme klang klarer, weniger krank.
»Zwischen Leben und Tod«, zischte Jurik zurück. »Leben ist oben. Du machst jetzt, was ich dir sage, klar?«
»Hm«, sagte Anders. Und dann sagte er: »Ich will nicht sterben.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Jurik und wünschte sich, Anders möge den Fuß wieder loslassen; es war nicht angenehm. »Wenn ich es heute doch tue, ist es nur deinetwegen, also sei mir gefälligst dankbar.« Er versuchte zu lachen, doch er konnte es nicht mehr.
»Danke«, sagte Anders. Schon nach nur einer Aufforderung - er mußte doch krank sein. Aber immerhin. Das war mehr, als Jurik erwartet hatte.
»Wo sind wir?« fragte der Junge noch einmal. Zu ängstlich.
Jurik schob die Hand von seinem Fuß. »Altes Treppenhaus«, sagte er. »Kerkerebene. Rest überlasse ich dir. Halan sagt, ihr habt einen Geheimgang. Wo?«
»Wo ist Halan?« fragte Alexander mit kindlicher Kläglichkeit.
»Nicht hier.«
»Warum ist er nicht hier? Warum kommt er mich nicht retten? Warum läßt er mich allein?« Leise, weinerlich - bei Licht, an einem sicheren Ort, hätte Jurik ihn dafür geschlagen. So verschob er es auf später.
»Weil er ein Feigling ist«, knurrte er. »Darum. Und jetzt halt das Maul.«
Er hörte Anders schlucken - mehr Schluchzen als Schlucken, eigentlich - aber dann war Ruhe.
Jurik gab ihm einen Moment, aber keinen allzu langen. »Der Fluchttunnel«, sagte er dann noch einmal. »Wo ist der?«
»Im… Keller«, flüsterte Anders.
»Welcher Keller?« fragte Jurik durch zusammengebissene Zähne. Er konnte ihn immer noch schlagen, er konnte ihn immer noch schlagen -
»Eine Ebene über uns«, antwortete Anders. Endlich.
Jurik ließ seine Knöchel knacken. Lenkte für einen Moment von den Schmerzen im Fuß ab. »Gut«, sagte er. »Folg mir. Steh nicht auf. Die Treppe ist morsch - tritt auf die falsche Stufe, und du krachst in den Nilomar. Bleib auf dem Boden. Ich sag dir, wo du lang mußt.«
Anders leistete keinen Widerstand und keinen Widerspruch. Sein Schock ließ langsam nach. Vielleicht half es, daß es hier nicht mehr so nach Kerker stank. Nur das Blut konnte Jurik immer noch riechen.
Langsam, vorsichtig krabbelten sie die Treppe hinauf. Für Jurik war es nichts Neues - er war daran gewöhnt, auf Händen und Knien herumkriechen zu müssen. Säufer lernten vom Leben, und Krüppel auch. Eine Treppe hinaufzurobben war die erste Lektion.
Er betastete jede Stufe, bevor er sie belastete, fühlte, ob sie überhaupt noch da war, ob sie geborsten war, oder lose. Wo mehr als eine Stufe fehlte, zog er sich mit den Armen an der übernächsten hoch. Wie ein Regenwurm. Kalter Wind zog durch das Treppenhaus, er roch nach Moder und Schimmel, er pfiff und heulte. Dies war ein Ort fernab des Lebens. Sie krochen auf schwankenden Stiegen über den Abgrund. Es ging langsam. Vielleicht war es gut, daß es so finster war. Sie konnten nicht nach unten sehen. Jurik zählte die Stufen nicht. Zählen war etwas für Kinder, es änderte nichts. Schlimm genug, daß Jurik die Jahre zählte -
»Kannst du noch?« fragte er leise. »Wenn nicht, gib Bescheid und mach Pause - wenn du einen Fehler machst, stirbst du.«
Anders antwortete nicht, doch sein Atem rasselte und verriet, daß er dicht hinter Jurik war. Jurik fragte kein zweites Mal. Anders mußte es selbst wissen. Wenn er im falschen Moment nach einer Stufe griff, von der Jurik sich gerade abstieß, stürzten sie beide in den Tod. Zumindest würde sie hier niemand finden. Niemals.
Ein Lichtschein, rechts oben. Ein fahler Streifen Licht. Fiel unter einer Türkante durch. Die nächste Ebene. Jurik atmete auf. Treppenabsatz. Sicherheit. Mit den Zähnen versuchte er, sich einen Splitter aus der Hand zu ziehen, doch der saß zu tief, man konnte nichts sehen. »Hier?« fragte er.
»Hmhm«, sagte Anders. »Bestimmt. Glaube ich.«
Jurik lauschte an der Tür. Hörte nichts. Wußten die, daß sie durch das alte Treppenhaus kamen? Warteten sie? Es gab keine anderen Möglichkeiten. Warten hinter einer verschlossenen Tür sah den Wachen nicht ähnlich. Jurik hoffte, und betete, und hielt doch seine Hand am Schwertknauf -
»Da ist niemand«, sagte Anders.
Jurik glaubte ihm, und fragte nicht, von welchem seiner Sinne der Junge das wußte.
Nur noch die Tür. Die Tür öffnen. Wenn die Tür vernagelt war, saßen sie hier in der Falle. Das wäre etwas für Halan gewesen, für die Vorbereitung - aber Halan war kein guter Kundschafter. Blieben das Glück, und des Hauptmanns Schlüsselbund.
Ein Schlüssel paßte. Paßte und klemmte, aber in Juriks Hand und Arm lag die Kraft, die seinen Beinen fehlte. Mit Gewalt - und ein paar Flüchen - gelang es Jurik, den Schlüssel im Schloß zu drehen. Die Tür quietschte auf. Einen Moment lang wurde es hell, doch dann war das Licht nur Dämmerung. Dieser Keller war nur ein Lager, ungenutzter als der Kerker, und menschenverlassen. Es machte Jurik Angst. Als hätte er mit Dermot den letzten lebenden Menschen im Schloß umgebracht…
»Warum hast du den Hauptmann getötet?« fragte Anders abrupt.
Jurik, eine Hand im Türrahmen abgestützt, fuhr herum. »Seit wann liest du Gedanken?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Anders, halb erstaunt, halb zu sich selbst. »Lese ich Gedanken? Ich weiß nicht.«
Jurik schluckte. »Wenn du meine Gedanken liest«, sagte er, »weißt du auch, warum ich’s getan habe.« Dermot hatte Frau und Kind. Wenn er Anders zur Flucht verhalf, einem verurteilten Hochfrevler, würde man ihn als Verräter hinrichten. So starb er als Held, und für die Familie war gesorgt… Aber Jurik mußte sich zu diesem Gedanken zwingen, weil er wußte, daß Anders ihm vielleicht zusah. Zwingen, etwas anderes zu denken als Es war mein Leben. Und er hat es mir gestohlen… Ihm war schwindelig. Ihm war schlecht.
»Wo ist jetzt dein Geheimgang?« fragte er.
»Hier gleich rechts«, sagte Anders. »Rechts - rechts - links -«
»Bring mich hin«, sagte Jurik.
Sie schleppten sich gegenseitig durch die Gänge - Anders stützte Jurik, und Jurik stützte Anders, wie zwei Betrunkene, die ohne Hilfe nicht gehen oder stehen konnten. Der Schwert immer griffbereit. Juriks ganzer Körper war steif und zäh von Schmerzen, bis auf seinen Schwertarm. Der Arm schmerzte niemals. Jurik konnte stolz darauf sein.
Rechts. Rechts. Links. Sie kamen kaum schneller voran als auf der Treppe. Hier heulte kein Wind, aber ab und an hörten sie ein fernes Rufen durch die Gänge hallen. Dann standen sie still, und rührten sich nicht, obwohl es alles sein konnte. Es war irgendwo, weit weg, und wenn es verebbte, stolperten sie weiter.
Dann blieb Anders stehen und zog einen Wandbehang beiseite, eines von diesen alten schimmeligen Ungetümen, die man hier überall fand. Dahinter war eine Tür, oder besser gesagt, eine runde Luke mit einer Klappe davor. Nichts besonders Geheimes - aber warum sollte man auch ausgerechnet den Eingang eines Fluchttunnels verstecken?
»Da«, sagte Anders, und lächelte, und zitterte. Aber er öffnete die Luke selbst nicht, das überließ er Jurik. »Müssen wir da durch?«
Jurik blieb ruhig. Antwortete nicht. Fluchte nicht. Er löste nur den Riegel, öffnete die Tür, packte Anders und schon ihn in die Öffnung. »Ja«, sagte er dann.

Am Ende des Tunnels lagen Stunden, Jurik wußte nicht wie viele. Er konnte nur sagen, daß er diesen Tunnel haßte - weil er ihn erst jetzt kennenlernte, nicht vor dreizehn Jahren. Dieser Fluchttunnel gehörte allein der Königlichen Familie, sie konnten sich bei Gefahr in Sicherheit bringen, aber für eine Massenevakuierung war er nicht gedacht. In der Enge brach sonst eine Panik aus, an deren Höhepunkt dann der Gang einstürzte.
Jurik überlegte, den Gang absichtlich hinter ihnen einstürzen zu lassen - falls man ihnen die Hunde hinterherhetzte, denn menschliche Verfolger krochen nicht schneller als die Flüchtlinge. Aber es war zu gefährlich, und sinnlos. Sie hatten es hier mit Aralee zu tun. Aralee wußte, wo der Tunnel endete.
Er erzählte Anders nichts von seinen Befürchtungen, die fast schon Hoffnung waren. Aralee wartete am anderen Ende, wartete, daß er sie tötete - es war der Gedanke, der Jurik vorantrieb, der ihn Müdigkeit und Schmerzen ignorieren ließ. Was Anders antrieb, war Jurik. Es war gut, daß der Junge vorne ging. Man konnte ihn leichter stoßen als ziehen.
Und dann, irgendwann, hatte der Tunnel ein Ende. Eine Falltür, über der ihre Verbündeten warteten, oder ihre Feinde. Jurik gönnte es Halan, Aralee in die Hände zu fallen, gönnte es ihm für seine Feigheit -
Aber Halan war Aralee nicht in die Hände gefallen. Da war keine Aralee, weit und breit nicht. Morgendämmernde Nacht lag über einer Turmruine, und Halan wartete mit den Pferden auf sie.
Mit zu vielen Pferden. Das erste, was Jurik sah, als er aus dem Boden kroch, war Embers Schimmel. Er fluchte leise.
»Gut«, sagte er dann. »Es hat also geklappt. Aber bedankt euch nicht bei mir.«
Es hörte niemand zu. Anders, der angesichts des Todes alle Scham abgelegt hatte, krallte sich an Halan fest und versuchte wohl, das auf Schock und Fieber zu schieben, was Jurik seit Monaten mit Inbrunst ignorierte. Ember hockte in einer Ecke und schlief.
Jurik fühlte sich schwanken und konnte sich gerade noch an der Wand hinter ihm auffangen. Sein Stock war weg - Jurik ahnte, daß er im Treppenhaus zurückgeblieben war, aber das änderte nichts. Der Stock war schön, aber unpraktisch. Jurik war alt genug für eine richtige Krücke.
Er richtete sich wieder auf und klatschte in die Hände, laut. »Auf die Pferde! Auf die Pferde!«
»Aber es ist Nacht - wir haben nicht geschlafen«, versuchte es Halan.
»Ich sage, auf die Pferde. Ich sage, wir reiten nach Süden, sofort. Glaubt ihr, die Flucht ist vorbei? Sie fängt erst an!«
Irgendwo ging die Sonne auf, und sie ritten, halb bewußtlos vor Erschöpfung. Sie hatten ihre Freiheit - sonst nichts.
War wohl das Beste.
 

Hier endet Schwanenkind, das Zweite Buch der Chroniken der Elomaran
weiter geht es mit Dämmervogel, Varyns Geschichte
Und danach? Zornesbraut

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