Schwer zu sagen, was schlimmer war: Verkatert sein oder Embers
Gesicht sehen. Oder überhaupt wieder aufwachen zu
müssen.
»Ah… Ihr seid wieder da…« Weiter kam der
Iltis nicht. Jurik stieß ihn beiseite und schleppte sich zur
Tür. Er kotzte in ein Gebüsch, pißte in den
Rinnstein und tauchte mit dem Kopf in die Pferdetränke,
mehrmals, bevor er in den Schankraum zurückhumpelte. Stock.
Irgendwo hatte er auch einen Stock. Verdammter Stock! Jurik
ließ sich auf seinen Sitz zurücksinken. Nach dem Stock
konnte er später immer noch suchen. Wenn überhaupt.
»Noch Wein?« Ember war so schnell wieder an seiner
Seite, Jurik hatte ihn gar nicht kommen hören.
»Nein!« grollte Jurik. Natürlich wollte er Wein.
Aber nicht von einem Iltis.
Ember lächelte. »Ihr seht aus, als ob Ihr noch etwas
vertragen könntet.«
»Mag sein«, murmelte Jurik. Eigentlich konnte es ihm
egal sein. Er ließ sich nicht vom Trinken abhalten, nicht
einmal von so einem. Es gab Menschen, die waren schlimmer als
Ember. Viel schlimmer. »Wie spät ist es?« fragte
er statt dessen. Eine Antwort von Ember war so gut wie jede
andere.
Oder auch nicht. »Meint Ihr nicht eher - welcher
Tag?«
Knurrend griff Jurik nach seinem Schwertknauf. So nicht! Er trank
jetzt den zweiten oder dritten Tag - da hatte er es nicht
nötig, sich von einem Iltis verhöhnen zu lassen. Griff
nach seinem Schwertknauf… seinem Schwertknauf…
Schwertknauf…
»Wo ist mein Schwert?«
Ember lachte leise. »Ich habe es in Sicherheit
gebracht… oder, wie man es nimmt, Euch… Wollte einen
Mord verhindern, nehmt es mir nicht übel…«
»Ich will mein Schwert!«
»Ja, Ihr bekommt es doch schon noch wieder, Euer
Schwert…«
»Sofort!« Diese Stimme wirkte eigentlich immer.
Oder hätte gewirkt, wenn Jurik nicht gleichzeitig so gezittert
hätte. Nicht vor Wut - das kam vom Saufen, das ging
vorüber. Er kannte das von früher. Wie lang früher?
Er wollte nicht an früher denken. Jurik stützte sich auf
der Tischkante ab. »Schwert! Sofort!«
Ember schüttelte den Kopf. Sein belustigtes Lächeln
schrie nach eingeschlagenen Vorderzähnen. »Alexanders
Hinrichtung reicht mir im Moment. Da müßt Ihr es nicht
noch schlimmer machen, indem Ihr -«
»Es ist mein Schwert!« fiel ihm Jurik ins Wort.
»Mein Schwert, nicht Eures! Ich lege es niemals ab! Ich
schlafe mit meinem Schwert.«
»Ich«, sagte Ember leise, »bevorzuge in dem Fall
eine Frau -«
Im nächsten Moment hatte er Juriks Hand an der Kehle. Jurik
schnaubte kurz. Für mehr reicht es auch nicht - schon hatte
sich Ember Jurik unsicherem Griff entwunden. War wohl auch gut
so.
»Was ist?« fragte Ember, aber in seinem Spott schwang
auch Schrecken mit. »Fehlt Euch die Kraft?«
»Ich bin zu nüchtern, um Euch anzufassen.«
Nüchtern. Das war das Problem. Er war zu nüchtern
für alles.
Ember lachte und warf der Schankmaid eine Münze zu, Gold,
Kupfer, egal. »Alexander stirbt erst in einer Woche. Ihr habt
genug Zeit zum Trinken.« Er würde heute noch ein blaues
Auge bekommen, soviel stand fest, wenn Jurik erst wieder richtig
bei Bewußtsein war.
»Holt mir trotzdem mein Schwert, ja?« Jurik klang
beinahe freundlich, auch wenn ihm nicht danach war.
»Nur wenn Ihr versprecht, heute niemanden damit zu
töten.«
Jurik grinste. Das fühlte sich schon besser an. »Kann
ich nicht versprechen.« Aber seine Zunge pappte beim Sprechen
am Gaumen, und sein Kopf dröhnte. Einen Moment lang, als Ember
tatsächlich zur Treppe hin verschwand, fragte sich Jurik, ob
es wirklich das war, was er wollte. Nur, um sich gleichen
Atemzug die Antwort zu geben: Natürlich nicht. Aber es war
nicht seine Entscheidung. Man hatte ihm keine Wahl gelassen.
Sie hatte ihm keine Wahl gelassen…
Sein Kopf dröhnte. Die Luft in der Schankstube war rauchig
und verbraucht, aber Jurik wußte, daß er es ohne Hilfe
nicht mal mehr bis zur Tür geschafft hätte. Im
Fuchsen war es auch nicht anders als überall. Was hatte
Jurik erwartet - daß die Zeit stillstand? So oft war er
hiergewesen, damals - nicht jeden Tag, das war vor der Zeit, aber
oft. Der Wirt war ein guter Freund von ihm, damals. Und heute?
Der Wirt kannte ihn nicht mehr, oder nicht wieder. Erinnerte er
sich nicht mehr des Hauptmanns mit dem gewinnenden Lächeln und
dem düsteren Schicksal? Oder sah er ihn nur nicht in dem
abgerissenen Fremden, dessen zu langes Haar bereits schütter
wurde?
Aber es war schlimmer als das. Nicht nur der Wirt sah in Jurik
nicht mehr als einen Krüppel. Jurik sah in dem Wirt nicht mehr
als einen Wirt. Die Zeit war vorbei. Und der Springende
Fuchs nur noch ein Wirtshaus. Jurik nannte den Wirt
Wirt, als er einzog. Und sich selbst Janek.
Ember legte das Schwert vor ihm auf die Tischplatte.
»Hier… ich bezweifle, daß Ihr im Moment
damit… viel Schaden anrichten könnt.«
Jurik starrte ihn an, brauchte einen Moment, um wieder in die
Gegenwart einzutauchen. Hatte er dem Iltis dieses
selbstgefällige Grinsen nicht längst ausgetrieben? Nun
war es zurück. Langsam dämmerte Jurik, was das bedeutete.
Und es wurde zur Gewißheit, als Ember hinzufügte:
»Ihr kämt nicht einmal bis ins Schloß, geschweige
denn an sie heran.«
Juriks Finger schlossen sich wie von selbst um den Schwertknauf.
Altes Leder, abgewetzt und neuumwickelt, speckig vom Schweiß,
harzig von Blut. Zum ersten Mal an diesem Tag hielten seine Finger
etwas fest.
Jurik sah das Schwert an, dann blickte er auf. Blickte Ember in
die Augen. »Wieviel hab ich gestern erzählt?«
Ember gab ein zufriedenes Glucksen von sich. »Oh…
eine Menge, was das betrifft… und, daß alles Übel
der Welt von den Frauen ausgeht.«
Jurik Griff spannte sich fester. »Ihr habt -«
Ember schüttelte den Kopf. »Gebt nicht mir die Schuld,
Janek.« Immerhin sagte er noch Janek. »Ihr
wolltet reden. Freut Euch, daß Euch überhaupt jemand
zugehört hat.«
»Ich wollte nicht reden! Vor allem nicht mit Euch!«
Die Sorgen machten Juriks Kopf wieder klarer, doch sie nahmen nicht
den Schmerz.
»Doch, das wolltet Ihr. Sonst hättet Ihr keinen Wein
bestellt.«
»Was geht es Euch an, ob ich Wein bestelle?« schnappte
Jurik.
»Oh… eine Menge«, sagte Ember. »Eine
Menge. Wenn es Euch nur ums Trinken ginge, hättet Ihr Schnaps
bestellt. Als Ihr nach Wein verlangtet, wußte ich, daß
Ihr reden wollt.«
Jurik biß die Lippen zusammen. Jetzt war es zu spät.
Alles, was er noch tun konnte war, wieder mit dem Saufen
aufzuhören, um weiteren Schaden zu vermeiden. Warum hatte er
überhaupt wieder damit angefangen? Er sollte doch inzwischen
wissen, daß es nichts brachte als Kopfschmerzen. Und was
für welche!
»Wenn Ihr Euch einmal nützlich machen wollt, holt mir
Wasser«, sagte er schließlich. Er hätte auch
versuchen können aufzustehen, doch seine Hand wollte das
Schwert nicht loslassen.
»Wasser«, sagte Ember, und: »Wie Ihr
wünscht«, und kam bald tatsächlich mit einem Becher
Wasser zurück. Nur ein kleiner Becher, nichts, was Juriks
Durst gelöscht hätte, aber besser als nichts. Zumindest
war das pappige Gefühl weg, fürs Erste.
»Hab ich von meinem Schwert erzählt?« fragte er
dann.
»Falls Ihr das auf dem Tisch meint - nein, davon
nicht.«
Wieder knurrte Jurik nur, statt zuzuschlagen. Das Saufen machte
ihn aggressiv, aber Schlägereien war nicht mehr sein Ding.
»Wenn ich den Rest schon erzählt habe, kann ich
ebensogut das mit dem Schwert noch hintendran setzen. Euer Wissen
nützt Euch ohnehin nichts.«
»Nein?« fragte Ember, und wahrscheinlich hatte er
damit mehr Recht als Jurik. Wer Alexander erpreßte,
würde auch ohne Zögern versuchen, Jurik zu melken. Egal
um was.
»Nutzt Euch nichts«, erwiderte Jurik mit einem
schulternzuckenden Grinsen. »Interessiert sich niemand
für mich. Keiner bietet etwas für Euer Wissen.«
Beschwichtigend hob Ember die Hände. »Versteht mich
nicht falsch, bitte, versteht mich nicht wieder falsch! Gut, Ihr
wolltet gestern noch die Regentin töten… wollt es heute
vielleicht noch immer… aber was habe ich davon, wenn man
Euch den Kopf abschlägt?«
»Hängen«, sagte Jurik. »Leute wie mich
hängt man. Köpfen ist für den Adel.« Es
stimmte nicht. Sie wollten ihn köpfen, damals, Aralee
wollte… Unwillkürlich führte Juriks Hand den
Becher zum Mund, aber es war nur Wasser darin, und selbst davon nur
ein Rest. Schnell legte er die Hand zu der anderen, an den
Schwertknauf, und hoffte, daß Ember es nicht bemerkt hatte,
oder zumindest nicht verstanden.
Ember sagte nichts davon, nur: »Was ist nun mit dem
Schwert?«
»Mein Schwert…« Plötzlich war Jurik nicht
mehr sicher, ob er es wirklich erzählen sollte - eigentlich
war er sogar sicher, daß es besser war, es nicht zu
erzählen. Dann sagte er: »Ich habe es Vigilander
geweiht.«
»Ihr habt was?« entfuhr es Ember.
»Ich habe Rache geschworen«, sagte Jurik.
»Für das, was man… was sie mir angetan
hat. Ich habe dieses Schwert Vigilander geweiht. Wenn ich meine
Rache habe, wird er mein Schwert führen.« Bitterkeit
füllte seinen Mund, doch er lächelte sie fort.
»Darum lege ich das Schwert niemals ab, egal wie alt und
schäbig es inzwischen sein mag.« Erstaunlich, wie glatt
ihm das von den Lippen ging. Er hatte das eigentlich noch niemandem
erzählt. Aber es wußte ja sonst auch niemand von der
Geschichte mit… dieser Frau.
»Man sollte meinen, Ihr führt auch ohne Vigilanders
Hilfe eine ganz ordentliche Klinge«, meinte Ember.
Jurik zuckte die Schultern. »Ich weiß, aber ich kann
es nicht zurücknehmen. Ein Racheschwur bindet… ich
weiß, es war ein Fehler, aber ich war jung, ich war zornig
-«
»Ihr wart betrunken.«
»Natürlich war ich betrunken!« brauste
Jurik auf. »Was hättet Ihr denn in meiner Situation
gemacht?«
»Nicht getrunken«, schlug Ember vor. »Nicht
geflucht, nicht gejammert - vor allem wäre ich nicht zu
dieser Gerichtsverhandlung gegangen.«
»Ja, reibt nur Salz in meine Wunden!« Natürlich
hatte Ember Recht. Natürlich hätte Jurik nicht zur
Verhandlung gehen dürfen… Aber eigentlich war es besser
so. Es war besser, die Wahrheit zu kennen. Besser wissen, daß
man die falsche Frau geliebt hat, als die falsche Frau zu
lieben.
»Eines Tages werde ich sie töten«, sagte Jurik.
Aber das hatte er auch vom König gesagt, und der war ohne sein
Zutun gestorben. Eines Tages - und dann frei sein. Und von vorne
anfangen.
Als ein alter Mann mit einem kaputten Fuß.
»Warum?« fragte Ember. »Ich kenne bessere Arten,
sich zu rächen. Ihr hättet ins Ausland gehen können
- Euch der Armee anschließen - und dann das Heer in einen
Krieg gegen Koristan führen.«
Jurik lächelte. Was dachte Ember wohl, warum Jurik
Söldner geworden war? »Niemand führt Krieg gegen
Koristan«, sagte er leise. »Es braucht Männer wie
Euch, um damit anzufangen.«
Auge in Auge mit Ember, nur einen Moment lang. War das schon ein
Pakt? Jurik wollte kein Bündnis mit diesem Iltis. Aber er
wollte sich auch nie mit Halan und Anders verbünden und hatte
es doch getan…
»Wo ist Halan… Harold?« fragte er schnell,
bevor er sein letztes Bißchen Stolz auch noch fortwarf wie
einen alten Lumpen. Kein Bündnis mit Ember. Es
mußte Grenzen geben, sogar für ihn. Sogar jetzt
noch.
»Prinz Harold ist im Schloß«, antwortete Ember
und lächelte. »Er sagte jedoch, er wolle im Laufe des
Tages noch einmal vorbeischauen. Gesetzt den Fall, daß Ihr
dann wieder zur… Vernunft gekommen seid.« Zur
Besinnung, sagte sein Blick.
Jurik stand auf, vorsichtig. »Ich leg mich jetzt
schlafen«, sagte er. Richtig schlafen. Im Bett, nicht
auf dem Tisch. »Wenn Harold auftaucht - sagt Ihm, er soll auf
mich warten. Ich möchte mich noch persönlich von ihm
verabschieden.«
Und das war’s. Er hatte die Wahl zwischen Saufen und
Weiterziehen.
Weiterziehen war besser.
Halan sah verändert aus seit Anders’ Verhaftung.
Lebendiger. Vielleicht tat es ihm ganz gut, mal von dem Jungen
getrennt zu sein. Vielleicht war es aber auch nur, weil er gelernt
hatte zu kämpfen.
Auf jeden Fall war es ein würdiger Ausgleich dafür, wie
tot Jurik aussah und sich fühlte, und das, obwohl er noch den
halben Tag geschlafen hatte. Er zitterte nicht mehr, aber das war
auch alles.
»Ich wünsch dir Glück«, sagte Jurik.
»Du wirst es brauchen.«
Halan starrte ihn an. »Glück wofür?« Als
wisse er nicht genau, was Jurik meinte.
Jurik zuckte die Schultern. »Zukunft. Du hast wenigstens
eine.«
Er meinte sich selbst als Gegensatz, aber Halan sagte:
»Anders nicht.«
»Was?«
»Anders wird sterben, Jurik.«
Der zuckte wieder die Schultern. »Seine Chancen stehen ganz
gut, daß er überlebt. Du hast das Engelsurteil für
ihn rausgeschunden, das ist besser als der Nilomar. Die
Schwäne sind keine Wölfe, sie fressen kein Fleisch
-«
»Nicht fressen«, sagte Halan. »Aber
töten.«
Jurik war den Schwänen begegnet, damals, als er noch im
Schloß lebte. Sie konnten fauchen und beißen wie eine
Gans - »Wenn man sie reizt. Nicht, wenn Anders sich ruhig
verhält.« Er stockte.
»Anders haßt Schwäne«, sagte Halan.
»Er ist außer sich von Angst, schon jetzt. Die
Schwäne werden nervös, sie wollen fort, aber ihre
Flügel sind gestutzt, sie sind eingepfercht, tausend Menschen
schauen zu - da muß ein Engel eingreifen, um ihn zu
retten.«
»Welcher Engel?« fragte Jurik. Halan ging nicht darauf
ein. Korisander hatte genug Gelegenheiten, Alexander zu retten,
ungenutzt verstreichen lassen. »Hast du den Jungen
gesehen?«
Halan schüttelte den Kopf. »Niemand darf zu ihm. Aber
ich habe mit Aralee gesprochen.«
Jurik zuckte zusammen vor Schmerz, als habe ein Pfeil ihn
getroffen. Es tat weh. Es tat nicht so weh, als er sie noch liebte.
Aber er fing sich wieder und fragte nur: »Und? Was sagt
sie?« Er wollte es nicht wissen, nicht wirklich. Er wollte
nie wieder von ihr hören. Dreizehn Jahre lang hatte er sie
nicht vermißt. Sie würde ihm auch jetzt nicht
fehlen.
»Sie hat gefragt«, sagte Halan, »ob ich
versuchen werde, ihn zu retten.«
Jurik hob müde eine Augenbraue. »Das sieht ihr
ähnlich.«
»Wenn wir ihn nicht retten«, sagte Halan,
»stirbt er.«
»Wenn du ihn zu retten versuchst«, entgegnete Jurik,
»stirbst du.«
Beide schwiegen für einen Moment. Jurik zog seinen Mantel
fester um sich - es war schwer, Halan ausgerechnet in dieser
Situation sagen zu müssen, daß er fortging. Vielleicht
reichten die Gesten.
»Ich weiß, worauf Aralee aus ist«, sagte Halan
schließlich leise. »Sie will, daß ich ihn
befreie. Weil sie einen Grund braucht, um auch mich hinrichten zu
lassen. Sie will uns beide tot sehen. Ich weiß zuviel. Ich
weiß Dinge, die niemand wissen darf. Jeder Tag, den ich frei
herumlaufe, bringt Aralee in Gefahr.«
»Hat sie das gesagt?« Natürlich nicht.
Aralee sagte nie etwas in der Art. Es war nicht hinterrücks
genug.
Halan schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich
weiß es.«
Etwas in seinem Tonfall machte Jurik Sorgen. Er ahnte. Er kannte
Halan inzwischen gut genug. Und sie beide kannten Ember. Jurik
legte eine Hand auf Halans. Sie war schmal und feingliedrig wie die
eines Mädchens, aber hart, so hart. »Halan«, sagte
Jurik. Ein letzter guter Rat konnte nicht schaden. »Sag mir
die Wahrheit - du versucht nicht, sie zu erpressen, damit sie
Anders freiläßt.«
Halan biß die Lippen zusammen und zog die Hand weg.
»Das«, sagte er, »kann ich nicht
versprechen.«
Jurik stand auf. Er hatte das Bedürfnis, gegen eine Wand zu
rennen, und das Gefühl, gerade genau das zu tun. »Halan,
sie bringt dich um.«
»Sie bringt Anders um«, flüsterte Halan.
»Aber das ist Euch ja egal.«
Es waren fünf Schritte bis zur Tür, fünf Schritte,
und nie wieder ein Wort davon. Jurik hatte keine Lust, sich zu
streiten, und keine Lust mehr, auch nur Lebwohl zu sagen. Aber
erwidern mußte er dennoch etwas.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Für ihn und
um ihn. Aber ich habe schon bessere Freunde sterben gesehen. Und
ich habe ihn davor gewarnt, nach Koristan zurückzugehen. Was
also erwartest du?«
»Daß Ihr ihn befreit«, sagte Halan leise. Er
sagte es sogar ernst. »Daß Ihr mir helft, ihn
aus dem Kerker zu holen.«
Die nächsten Worte sprach Jurik nicht aus. Halan Augen
sollten scharf genug sein, um ihm von den Lippen ablesen zu
können. »Ich habe bei deiner Mutter schon nicht daran
gedacht, sie zu befreien. Und ich denke auch jetzt nicht
daran.«
Halan schrie nicht und schlug nicht zu. Die Wut machte andere
Dinge mit ihm als mit anderen Männern. »Dann laßt
Ihr mir keine Wahl«, sagte er leise.
»Ich lasse dir jede Wahl der Welt. Nur treffen mußt du
sie selbst.«
»Ich weiß mehr, als manchen Leuten lieb ist«,
sagte Halan. »Auch Aralee. Auch Euch. Mein Wissen ist das
einzige, was ich jetzt noch habe. Und wenn ich damit Anders’
Freiheit erkaufen kann -«
»Ember!« bellte Jurik. »Kommt her!
Sofort«
Ember, der in einer anderen Ecke saß und völlig
unbeteiligt tat, schrak zusammen und war im nächste Moment bei
ihnen. »Ja?«
Jurik deutete auf Halan. »Schaut ihn Euch an! Schaut ihn
genau an, so wie er Euch angeschaut hat, um Eure Machenschaften
nachzuäffen.«
»Ja?« sagte Ember. Kein Engel konnte unschuldiger
dreinblicken.
Halan schüttelte den Kopf. »Ich will Euch nicht
erpressen.« Er lächelte. »Erpressen kann man ein
Wrack wie Euch nicht. Ihr taugt nur noch zum Verkaufen. Aralee wird
es sicher interessieren, daß Ihr noch lebt.«
Jurik faßte sich an den Kopf. Wäre es um jemand anderen
gegangen als Aralee, hätte er der Ganze sogar noch lustig
finden können. »Damit bekommst du mich nicht, Halan. Es
ist Aralee egal, ob ich lebe. Für sie bin ich tot. Vielleicht
nimmt sie meinen Kopf, wenn sie ihn geschenkt kriegen kann - aber
wert ist ihr das nichts, erst recht nicht einen so dicken Fisch wie
Alexander. Und selbst wenn du mich verkaufst - deinen Kopf
bekommt sie auch noch, so oder so.«
Das waren gute letzte Worte. Fünf Schritte bis zur Tür
-
Jurik schaffte drei, langsamer als sonst, stärker auf seinen
Stock gestützt, wackliger in den Beinen. Dann stand Ember in
der Tür.
»Wohin so eilig, Jurik?« Den Namen kannte er jetzt
also auch. Natürlich. Wenn man im Suff erst einmal zu reden
anfing…
»Aus dem Weg!« sagte Jurik ungehalten. Gegenüber
Halan brachte er zumindest noch so etwas wie Loyalität auf.
Hier nicht.
»Soll das schon Eure Rache gewesen sein?«
Jurik bleckte die Lefzen. »Rache kommt später. Ich habe
Zeit.« Er wußte, er hatte keine. Er war bald
siebenunddreißig. Und jetzt schon alt.
»Ihr könntet sie jetzt schon haben, wenn Ihr nicht so
feige wärt.«
»Feige?« Jurik knurrte. Das sagte der Richtige!
»Wie wollt Ihr sie töten, wenn Ihr Euch nicht einmal
ihrem Haus nähert?«
Jurik antwortete nicht. Wenn er Ember mit dem Stock vor die Brust
stieß, war die Tür wieder frei. Besser so, als mit dem
Schwert.
»Dabei müßt Ihr sie nicht einmal töten, um
Euch zu rächen. Bringt sie in Mißkredit…
Laßt schlechtes Licht auf sie fallen… Wenn sie es
nicht einmal schafft, ihren eigenen Sohn bei seinem Engelsurteil
abzuliefern…«
Ember lächelte nur noch, als Jurik umkehrte. Und zu seinem
Tisch zurückhumpelte, und dabei knurrte und brummelte wie
einer, der es besser wissen sollte. Und das tat Jurik ja auch.
»Machen wir einen Plan«, sagte er. »Machen wir
einen Plan, ja? Machen wir ausnahmsweise einen
Plan.«
Sie hatten keine Zeit zum Planen.
Geduld war das Wichtigste, Geduld und Selbstsicherheit. Jurik
saß an der gleichen Stelle wie damals, dem Tor
gegenüber, und beobachtete. Damals wie heute beachtete ihn
niemand. Damals ein schlaksiger Junge vom Land, fünfzehn Jahre
alt, in seinen Bewegungen noch zuviel von einem Bauern, in seinen
Taschen fünf Silbermark und ein Brief, den er nicht lesen
konnte, ein Empfehlungsschreiben von Graf Oskat. Fünf Mark
waren ein Haufen Geld, genug, um einige
müßiggängerische Tage in der Hauptstadt zu
verbringen, um das Schloß zu beobachten, zu sehen, wer
hineinging und wer herauskam, wie sie hineingingen und
wie sie herauskamen. Als er sich dann endlich auf das Tor zu
bewegte, war der Zauber der großen Stadt ebenso verflogen wie
seine Unsicherheit oder seine Aufregung. Er wußte, was er
wollte - kein Stallknecht sein, sondern eine Schloßwache.
Hauptmann der Schloßwache. Jurik bekam, was er wollte - nicht
sofort, aber er bekam es.
Eigentlich war es sein Schloß mehr als Aralees. Er war vor
ihr da, er hatte es vor ihr erobert. Er kam in dem Jahr, als Halan
geboren wurde, aber von dem hörte oder sah man nur wenig. Ein
unsichtbares Kind, unbedeutend, unsichtbar.
Jetzt war Jurik unsichtbar, weil er saß wie ein Bettler, wie
etwas, das niemand sehen wollte. Sitzen, beobachten, die Menschen
zählen, zusehen, wie sie kamen, und wie sie gingen. Nichts
verriet einen Menschen mehr als sein Gang. Die Stimme konnte man
noch verstellen, aber den Gang nicht. Jurik sowieso nicht mehr.
Jurik bettelte nicht, sprach niemanden an. Er wollte nicht
vertrieben werden, nicht auf sich aufmerksam machen. Seine einzige
Verkleidung war ein Strohhalm zwischen seinen Zähnen, und doch
erkannte ihn niemand. Zeit zum Beobachten, Zeit zum Planen. Den
beiden anderen sagte er, es ginge um Anders’ Befreiung. Doch
sie wußten alle, es ging um Aralees Tod.
Jurik plante lieber, solange er nüchtern war. An einem guten
Plan konnte man sich besser festhalten als an einem Weinkrug. Auf
sie zugehen, lächeln und sagen: »Guten Abend, Aralee.
Erinnerst du dich an mich? Du hast mein Leben zerstört. Ich
nehme dir deines.«
So ein schöner Satz. Zu pathetisch, um ihn jemals wirklich
auszusprechen, aber schön. Mit Gewalt mußte sich Jurik
daran erinnern, daß er nicht deswegen war, daß es um
Anders ging.
Am Tor wechselten die Wachen. Das war der Moment, auf den Jurik
wartete, der Grund, warum er zurückgeblieben war, obwohl er
besser reiten konnte als Halan. Jeder ritt besser als Halan. Aber
sollte der ruhig mit Ember die Pferde zum Treffpunkt bringen. Die
Wachen waren Juriks Angelegenheit. Das Warten sollte sich gelohnt
haben.
Die beiden Wachen ließen Helm und Brustplatte zurück,
als sie ihren Posten verließen. Jurik erinnerte sich, wie
sehr er diese Helme immer gehaßt hatte. Vielleicht wollte er
darum auch sofort Hauptmann werden? Es war egal. Die beiden
Männer kamen auf ihn zu. Einer von ihnen hatte ein vertrautes
Gesicht. Der andere war zu jung, um damals schon dabeigewesen zu
sein. Kehrten die Wachleute immer noch im Lustigen Humpen
ein, wenn ihre Schicht vorbei war? Der Humpen lag dem
Schloß am nächsten - er war nicht so gemütlich wie
der Fuchs, aber niemand wollte für ein Bier und einen
Eintopf quer durch die Stadt müssen.
Die Männer gingen zum Humpen, und Jurik folgte ihnen.
Er ließ sich Zeit, sie anzusprechen, Zeit, die er brauchte,
um sich an den Namen des einen zu erinnern. Jurik hatte so viele
Namen gekannt in den letzten Jahren, gekannt und wieder
vergessen… Akim? Nein, Akim nicht, das war ein Schütze,
kein Helebardier. Fernik war es auch nicht, der mußte schon
zu alt sein, und Dermot nicht, der war damals Juriks Leutnant - ob
er wohl nach ihm Hauptmann geworden war? Und dieser Mann hier -
irgendwas mit Ma - Jurik grübelte, ging langsamer als
nötig. Da dachte er eben noch, die Vergangenheit hätte
sich ihm eingebleut, und dann scheiterte er an einem einfachen
Namen! Ma… Maril? Marek? Dann, endlich, wußte er es
wieder. Mardol. Sohn eines Schuhmachers. Kam zu den Wachen, als
Jurik ein Jahr oder so da war. Ein guter Mann - das, was ein Soldat
einen Guten Mann nannte: Einer, der wußte, wo er
hingehörte, und der zufrieden war mit dem, was er hatte und
konnte.
Jurik machte sich nicht die Mühe, den Staub von seinen
Kleidern zu klopfen, als er den Männern folgte. Sollten sie
ihn ruhig für einen Bettler halten - er mochte kein Mitleid,
aber manchmal war es nützlich. Er wartete, bis sie sich
gesetzt hatten - an einen Tisch mitten im Raum, mit dem Rücken
zur Tür, wie Leute, die nichts zu befürchten hatten. Dann
trat er an sie heran.
»Sagt - Mardol?« Ohne eine Antwort abzuwarten, griff
er nach einem Schemel.
»Ja?« Es dauerte eine Weile. Im Kamin barst ein
Holzscheit.
»Du erkennst mich nicht?« Er hatte mehr erwartet.
Mardol musterte ihn kurz, zuckte die Schultern, dann schob er dem
anderen Mann ein paar Pfennige zu. »Hier - hol uns schon mal
das Bier, ja?« Er wartete, bis der Junge beim Wirt war, dann
fragte er leise: »Jurik?« Als Jurik nickte, rutschte er
eilig vom Tisch ab und drehte sich dabei so, daß er die
Tür zumindest sehen konnte. »Laß dich hier nicht
blicken, das kann uns alle den Kopf kosten - du wurdest für
tot erklärt.« Er war bleich geworden.
»Lebe aber noch«, antwortete Jurik leise. »Was
ich dir verdanke, unter anderem.«
»Schschsch!« machte Mardol. »Leise!«
Jurik zuckte die Schultern. »Niemand erkennt mich, wenn
nicht einmal du es tust. Wer mich noch kennt, erinnert sich an
einen Toten.«
Mardol spähte vom Tresen zur Tür und zurück. Sein
Blick war ängstlicher als erwartet. Als sehe er nur, daß
das Ende seine Laufbahn gerade neben ihm Platz genommen hatte
und die Beine übereinanderschlug.
»Es ist an der Zeit, mich zu bedanken«, sagte Jurik
und fühlte sich plötzlich wie ein Verräter. Mardol
und die anderen hatten sich damals seinetwegen in Gefahr gebracht,
und nun war sein Dank, das gleiche noch mal von ihnen zu verlangen?
Sein Mund war plötzlich trocken, und er schluckte, als der
junge Mann mit den Bierkrügen zurückkam. Ungefragt
stellte er einen vor Jurik hin.
Jurik nahm ihn an, und lächelte. Es gab also immer noch
anständige Männer bei der Wache. »Danke«,
sagte er, »aber ich muß mich noch
vorstellen.«
Mardol begann sich zu winden, sagte aber nichts.
»Ich bin Janek«, sagte Jurik. Ging ihm glatter
über die Lippen als sein richtiger Name. »Mardol und ich
stammen aus dem gleichen Dorf. Sein Vater hat mir die Schuhe
besohlt - bevor ich unter den Pflug gekommen bin, heißt
das.« Er deutete auf seinen Fuß.
Der junge Mann bedauerte, und Mardol entspannte sich. Manchmal
konnte es von Nutzen sein, am Stock gehen zu müssen. Einen
Krüppel ausfragen war rüde. Von einem Krüppel ging
keine Gefahr aus. Ein Krüppel befreite nicht Alexander aus dem
Kerker…
Jurik nahm einen Schluck Bier und versuchte selbst zu entspannen.
Dünnbier. Er haßte Dünnbier. Aber es machte nicht
betrunken, und darum tranken es die Wachleute zwischen den
Schichten. Das war das Beste, was man darüber sagen
konnte.
»Das tut mir leid«, sagte Mardol, und meinte es auch
so. »Und was… machst du jetzt… so?«
Jurik zog es vor, ihm nichts von seiner Söldnerlaufbahn zu
erzählen. Er machte ein paar vage Andeutungen, die alle soviel
sagten wie Landstreicher und fragte sich, wie er wohl am
besten zur Sache kommen konnte, ohne gleich gehenkt zu werden.
»Immer noch besser als das, was ihr hier zur Zeit
mitmacht«, sagte er dann rundheraus.
Die beiden tauschten Blicke aus, dann nickten sie. »Wir
haben zwei Männer verloren«, sagte Mardol bitter.
»Als die Krone gestohlen wurde - hast du davon gehört?
Nicht tot, aber frag nicht - die hat es schwerer erwischt als dich.
Seitdem weiß hier keiner mehr, was eigentlich los
ist.«
»Und Dermot?« fragte Jurik weiter. »Ist der
jetzt euer neuer Hauptmann?«
Wieder nickte Mardol. »Ja, er ist Hauptmann geworden,
nachdem -«
Jurik brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Er
unterdrückte ein Lächeln. Dermot als Hauptmann - das war
gut. Dermot verdankte er sein Leben. Und Dermot - anders als
Mardol, der nichts weiter war als ein Guter Mann - war auch
in der Position, ihm zu helfen. »Ob ich Dermot wohl sehen
kann? Er hat noch einen Gefallen gut bei mir.«
»Ich werde ihn fragen«, sagte Mardol mit einem
Schulternzucken. »Kann nicht sagen, ob er Zeit hat. Wir
müssen auch schon wieder los.«
Der Aufbruch der Wachmänner kam zu hastig - Jurik
wußte, daß ihre Pausen eigentlich länger dauerten,
und daß Mardol Ausflüchte suchte. Verdenken konnte er es
ihm nicht. Angst zu haben war in Ordnung, in diesen Zeiten, in
diesem Schloß. Jurik nahm Mardol nicht einmal die
Enttäuschung übel. Die Wachen hatten damals nicht ihre
Leben aufs Spiel gesetzt, damit ihr Hauptmann als abgerissener
Trunkenbold endete…
Jurik straffte sich, beobachtete die Tür, durch die Tür
die Straße, und wartete, auf Dermot, auf Halan, auf einen
wirklich guten Plan.
Dermot kam als erstes, und er sah noch genauso aus wie damals.
Sein Haar war nun graumeliert, doch es wurde noch nicht
schütter - er und Jurik mußten gleich alt sein, doch
Dermot war jünger. Stolz und aufrecht - die Jahre als
Hauptmann schienen ihm gutgetan zu haben.
»Dich gibt es also auch noch?« fragte er. Sein Blick
verriet keine Enttäuschung - Mardol mußte ihn vorgewarnt
haben.
»So ist es«, sagte Jurik. »Und ich habe eine
Bitte.«
»Eine… Bitte«, wiederholte Dermot.
Argwöhnisch.
Jurik nickte. Besser gleich zur Sache kommen. »Hilfst du mir
in den Kerker?«
Dermot erstarrte, rang einen Augenblick lang sichtlich mit der
Fassung. »Was?« fragte er, und setzte sich endlich auf
einen freien Schemel. »In den Kerker?«
Jurik sagte nichts, wartete einen Moment, bis Dermot begriff.
»O nein«, sagte der neue Hauptmann. »Das kann
ich nicht machen.«
Jurik lächelte. »Was, glaubst du denn, will ich
dort?«
Dermot verzog das Gesicht. »Du willst Alexander sehen,
vermute ich.«
Früher waren sie einmal befreundet. Sie tranken in der
gleichen Kneipe und schliefen mit den gleichen Frauen, und es
schien nicht viel auszumachen, daß einer von ihnen Hauptmann
war und der andere nur sein Leutnant. Erst, als Jurik die
schönste Frau am Hof begehrte - und bekam - fiel ein Schatten
auf diese Freundschaft. Diese eine Frau teilten sie nicht. Und
Dermot, der damals den Kürzeren gezogen hatte, sollte jetzt
besser zugeben, daß er in Wirklichkeit als Sieger
hervorgegangen war. Hätte Aralee sich für ihn entschieden
statt für Jurik - säßen sie nun auf vertauschten
Plätzen. Vertauschte Leben.
Aber Dermot wirkte alles andere als dankbar.
»Kannst du’s mir verdenken?« fragte Jurik.
»Kommt drauf an, was du willst«, sagte Dermot. Seine
Stimme war fremd.
Zu fremd, um ihm noch die Wahrheit zu sagen. »Ich kann nicht
zu seiner Hinrichtung gehen«, sagte Jurik leise. »Da
sind zu viele Leute, die mich erkennen würden, von denen ich
das nicht will. Aber ich -«
»Er wird nicht hingerichtet«, unterbrach Dermot
ihn schroff. »Er bekommt ein Engelsurteil. Er wird nicht
hingerichtet!« Dermot hatte Anders festgenommen. Und
bedauerte es, so wie damals, als er Jurik festnahm?
»Ich hoffe, er stirbt«, erwiderte Jurik kalt.
»Ich hoffe, seine ganze Familie verschwindet vom Erdboden.
Ich hätte seinen Bruder getötet, wenn ich die
Möglichkeit gehabt hätte. Und Alexander -«
Dermot stützte sich auf die Tischplatte. »Du bekommst
deine Rache nicht! Jedenfalls nicht mit meiner
Hilfe.«
Insgeheim atmete Jurik auf, doch er schüttelte den Kopf.
»Ich werde ihn nicht anrühren. Ich will ihn nur sehen,
in der Zelle, ich will sehen, daß es ihm schlechter geht als
mir. Seine Familie hat mein Leben zerstört. Ich will ihm ins
Gesicht spucken.«
Dermot leerte seinen Bierkrug, ehe er antwortete. »Ich hab
mich ab und an gefragt, was aus dir geworden ist. Du verdienst
Mitleid, aber mehr auch nicht. Wenn ich dich in den Kerker bringe -
dann wirst du danach verschwinden, und nie wieder auch nur
einen Fuß in die Nähe von Koristir setzen!«
Jurik bemühte sich um ein Lächeln. »Für mehr
als einen reicht’s bei mir ohnehin nicht.« Dann sagte
er noch »Danke«, und »Wann?«
»Ich warte am Tor, wenn es dunkel wird. Aber ich warte nicht
lange.«
»Danke«, sagte Jurik noch einmal. Draußen war es
nachmittag, und an der Zeit, daß Halan zurückkam, Halan,
der sich selbst einen Weg zu Anders’ Zelle suchen mochte.
Sie würden teuer dafür bezahlen, Halan und Anders. Sie
wußten es noch nicht, aber sie würden zahlen. Sie
zwangen Jurik, seine Freunde zu verraten. Dermot an den Galgen zu
bringen. Oder schlimmeres.
Sie würden zahlen. Aralee würde zahlen - Jurik
verließ das Wirtshaus, bevor er wieder Wein bestellte. Es war
zu spät. Er hatte sich entschieden. Er konnte immer noch
weglaufen. Aber er würde es nicht.
»Ich traue meinen Augen nicht - Ihr seid immer noch
nüchtern?«
Jurik schoß hoch, nicht ganz so schnell wie die Funken aus
seinen Augen. »Ember! Was habt Ihr hier zu suchen?«
Ember lächelte. »Das gleiche wie ihr, möchte ich
meinen - den Prinzen Alexander, natürlich.«
Jurik fluchte. »Ihr habt eine Aufgabe, und die ist, auf die
Pferde aufzupassen und den Treffpunkt -«
»Prinz Harold paßt auf die Pferde auf«, sagte
Ember, und lächelte.
Jurik kämpfte gegen seine Begeisterung an. Niemals
überrumpeln lassen. »Aber Harold sollte doch
-«
»Prinz Harold hat es… sich anders überlegt. Er
wird auf die Pferde aufpassen, während ich mit Euch
-«
»Das könnte ihm so passen!« schnaubte Jurik.
»Was glaubt er wohl, warum ich einen Plan mache? Weil mir
langweilig ist? O nein. Wenn Harold und Ihr glaubt, im letzten
Moment alles über den Haufen werfen zu müssen - bitte,
aber ohne mich. Seht zu, wie Ihr klarkommt. Pläne braucht Ihr
ja offenbar keine!«
»Würdet Ihr bitte aufhören zu
brüllen?« fragte Ember und lächelte etwas weniger.
»Und Euch anhören, was Prinz Harold gesagt
hat?«
»Nein! Es interessiert mich nicht! Wir hatten einen Plan
-«
»- den Harold abgeändert hat. Und er ist ein
Erbe Korisanders.«
»Und ich«, bellte Jurik, »bin Hauptmann! Meine
Pläne werden ausgeführt, dafür sind sie da.«
Bald ging die Sonne unter, und nichts so, wie es sollte. »Was
hat er denn gesagt, unser weiser Harold?«
Ember ging in die Hocke und bedeutete Jurik, es ihm nachzutun.
»Er sagt«, flüsterte er in verschwörerischem
Tonfall, »daß es zu verdächtig ist, wenn er sich
dem Kerker nähert. Und daß die Königswitwe nur
darauf wartet und ihm eine Falle stellen will.«
Unwirsch schüttelte Jurik den Kopf. Zum Hocken war er nicht
geschaffen, und Knien tat seinem Rücken weh. »Das sagte
er schon. Mag sein, daß er Recht hat. Wenn er Alexander nicht
befreit, kann man ihn dafür auch nicht hinrichten. Aber wir
hatten besprochen -«
»Dann macht eben einen neuen Plan«, sagte Ember
leichthin. »Das könnt Ihr doch so gut…
Hauptmann.«
Wo er Recht hatte - der alte Plan war dahin, so oder so. Kein
Halan, der die Bibliothek aufsuchte und von dort zum Kerker
schlich. Es war ohnehin riskant. Vielleicht hatte Halan
Recht… »Also gut«, murmelte Jurik. »Also
gut. Und Ihr werdet ihn befolgen. Wortwörtlich. Ohne Meckern,
ohne Mucken.«
»Selbstverständlich«, lächelte Ember. Es war
ein wenig zuviel Furcht darin. Hunde lächelten, wenn man sie
bedrohte. Ember war ein Feigling. Darum sollte er auch auf die
Pferde -
»Gut«, sagte Jurik. Eine Idee blitzte durch seinen
Kopf und machte ihn knisternd wach und beinahe fröhlich.
»Dann werdet Ihr folgendes tun.«
»Ich höre«, sagte Ember, und lächelte noch
immer, als könne er nicht damit aufhören.
»Ihr werdet Euer Geld nehmen«, sagte Jurik, »und
damit in ein Wirtshaus Eurer Wahl gehen und die drei gröbsten,
dicksten und brutalsten Schläger anheuern, die Ihr bekommen
könnt. Ihr erkennt sie daran, daß sie Euch die Nase
brechen und ein paar Zähne ausschlagen, also fragt erst mit
Geld und dann mit Worten. Ich werde unterdessen zum Kerker gehen.
Ihr wartet hier mit den Schlägern und zählt bis tausend,
oder sehr oft bis drei, und dann folgt Ihr mir und mischt dabei
jeden auf, der sich Euch in den Weg stellt, bis Ihr sicher seid,
daß Ihr jede einzelne Wache im Hof versammelt habt. Sorgt
dafür, daß es eine Prügelei gibt, dann macht Euch
aus dem Staube. Der einfachste Weg ist - geht in den Park, immer an
der Mauer lang, bis Ihr an einen Baum kommt, auf den Ihr bequem
klettern könnte und von da aus über die Mauer
-«
»Einen Moment«, sagte Ember.
Jurik lächelte. »Ja?« Hatte er die Falle
entdeckt? Hatte er erkannt, daß dieses
Ablenkungsmanöver, und wenn nicht das, dann die Flucht, ihn
umbringen konnte? Und sollte?
»Ihr wollt allein in den Kerker?« fragte Ember.
Jurik grinste. »Lieber allein, als mit Euch.«
»Aber, mit Verlaub, nichts gegen Euren Plan, oder den
anderen, aber… meint Ihr nicht, Ihr überschätzt
Euch da?«
Jurik fletschte die Zähne. »Weder überschätze
ich mich, noch unterschätze ich Euch. Die Wahrheit ist - ich
will Euch nicht dabeihaben.«
»Aber Euer Fuß -«, versuchte es Ember noch
einmal.
»Mein Fuß und ich arbeiten schon sehr lange zusammen,
und ich weiß, daß ich ihm vertrauen kann. Von Euch
weiß ich das Gegenteil. Prinz Harold« - um ihn einmal
bei diesem Namen zu nennen, denn Jurik war immer noch wütend -
»vertraut lieber darauf, daß ich seinen kostbaren Onkel
rette, als es selbst zu versuchen. Ich weiß, das ist ein
Risiko, er weiß es, Ihr wißt es auch - aber dann
versuche ich es auf meine Art. Wenn ich scheitere, weiß ich
zumindest, an wem es liegt. Und Ihr« - jetzt mußte
Jurik das Vergnügen in seiner Stimme mühsam
unterdrücken - »trödelt hier nicht so rum, sondern
kümmert Euch um Eure Aufgaben. Sofort!«
Mit ein wenig Glück würde der Iltis es nicht einmal
heile bis zum äußeren Tor schaffen. Jurik brauchte kein
Ablenkungsmanöver, nur eine Möglichkeit, Ember
loszuwerden. Vielleicht war es sogar das Beste. Ohne Ember kam
Jurik besser zurecht als mit Halan…
Jurik schloß die Augen und atmete durch. Seine Hand
drückte ein letztes Mal den Schwertgriff an seiner Seite. Er
hatte es nicht versteckt - niemand versteckte ein Schwert. Aber er
hatte die Scheide mit alten Lederstreifen umwickelt, daß sie
nach nicht viel aussah, und darüber trug er seinen Umhang -
niemand achtete jemals auf das Schwert. Jurik sah wie ein Bettler
aus. Bettler trugen keine Schwerter. Und die Leute sahen nicht,
womit sie nicht rechneten.
Dann ließ er die Schultern sinken, zog seine Umhang wieder
glatt. Und packte seinen Gehstock wie eine Waffe. Er war so weit.
Es konnte losgehen.
Sie sprachen nur wenig, als sie den gekiesten Weg entlanggingen.
Jurik war nicht nach Plappern zumute, und Dermot stellte keine
Fragen. Es ärgerte ihn sichtlich, daß Jurik das Tempo
vorgab - da war Sache eines Hauptmanns, und sie waren es beide,
aber Dermot mehr als Jurik, denn er trug die Uniform.
»Jetzt komm schon!« herrschte er ihn einmal an, aber
Jurik konnte nicht schneller, sie wußten es beide.
Dieses Stück Weg war das Schwierigste, und auch das
Gefährlichste, weil jeder sie sehen konnte. Zwar dämmerte
es, aber Der Hauptmann Führte Einen Fremden Mann Ins
Schloß - das fiel auf, es gab immer Augen, die sich so etwas
merkten, Augen, die nach Macht strebten oder nach Geld.
Sie gingen über den Seitenweg, nicht die Auffahrt - das war
unauffälliger, aber auch mühsamer. Jurik haßte
Kies; das Ende seines Stockes sank darin ein, und er konnte sich
nicht richtig aufstützen. Mehrmals stolperte er, und auch wenn
er nicht hinfiel, ärgerte es ihn, und es ärgerte
Dermot.
»Es tut mir leid«, sagte der andere Hauptmann
abrupt.
Jurik zuckte die Schultern. »Mir auch. Warum?«
»Ich nehme dich jetzt in Gewahrsam«, sagte Dermot.
»Dann gibt es hinterher keine dummen Fragen.«
»Ich verstehe schon«, sagte Jurik, und rempelte ihn.
Einen kurzen Schlagabtausch später war sein Arm auf dem
Rücken in Dermots festem Griff, und er wurde
vorwärtsgezerrt. Der Hauptmann der Wachen führte einen
Landstreicher ab. Jurik fluchte, das war nicht gespielt, es tat
weh, der verdrehte Arm zwang ihn, sich weit nach vorne zu beugen
und beide Füße gleichzeitig zu belasten.
»Maul halten!« sagte Dermot und fügte leise
hinzu: »Das sollte es dir schon wert sein, oder?«
Jurik haßte ihn in diesem Moment. Erinnerungen kochten
wieder hoch, an seine Verhaftung vor dreizehn Jahren - Dermot, der
sagte ‘Du weißt, ich mach das nicht gerne, also zwing
mich nicht, dich zu verletzen, ja?’ Dermot, der sagte
‘Wir regeln das schon irgendwie anders’. Dermot, der
sagte ‘Irgendwie hast du dir das auch selbst
zuzuschreiben’. Und der jetzt Juriks Leben lebte, als habe er
nie ein anderes gehabt…
Es dauerte lange, bis sie an der Seitenpforte waren, bis sie
durch die Seitenpforte waren, bis Dermot seinen Griff
lockerte und Jurik, bleich und wortlos und voller Schmerzen, seine
Finger wieder vom Stockgriff löste.
Von hier aus hätte er auch allein zum Kerker gehen
können - den Weg vergaß man nie, und er hatte lange
genug im Palast gelebt, um sich auch nach Jahren noch
zurechtzufinden. Trotzdem war es besser, Dermot dabeizuhaben, um im
Zweifelsfall wieder schnell ein Gefangener zu werden.
Dämmrige Gänge führten sie zur Kellertreppe. Auf
jeden marmorgefliesten Flur kamen zwei, auf denen die Bediensteten
wandelten. Es gab auch mehrere Kellertreppen, doch nur eine wurde
benutzt - die anderen waren zu gefährlich, die hölzernen
Stiegen alt und morsch. Die Haupttreppe war aus Stein. Jurik
schluckte, als er sie betrat. Der Weg in den Kerker war allzu oft
nur in einer Richtung begehbar.
»Sag - hast du eigentlich Familie?« fragte er
beiläufig.
Dermot nickte nicht ohne Stolz. »Hab eine von den Zofen
geheiratet, vor acht Jahren schon - erinnerst du dich an Helen?
Mein Sohn wird bald sieben.«
Jurik erinnerte sich an Helen - nicht die schönste aller
Frauen, aber solide, sicher eine gute Ehefrau und Mutter. Er
beneidete Dermot ein wenig. Mehr als nur ein wenig. Aber es war,
wie es war -
Ein kleiner Wachraum lag dort, wo die Treppe auf die Kerkerebene
mündete. Sie ging doch noch weiter hinunter, aber Jurik war
froh, daß für ihn das Stufensteigen erst einmal vorbei
war. Der Rückweg sollte noch schwer genug werden. Aber den
kannte er ja schon.
Ein kleiner Wachraum, offen zur Treppe hin, getrennt von dem Gang
dahinter durch eine schwere eichene Tür mit Riegeln und
Schlössern. Ein kleiner Tisch, zwei Schemel, ein Ofen, in
einer Nische das Plumpsklo. Spielkarten auf dem Tisch, zwei
Bierkrüge, aber nur ein Wachmann. Im Sommer waren die
Wachschichten hier unten begehrt, im Winter gefürchtet. Der
Ofen zog nur durch das Treppenhaus ab, dann war die ganze Stube mit
Qualm gefüllt, nur feucht und kalt war es immer
noch…
»Hauptmann -«, sagte der Wachmann, und stand
stramm.
Einen Moment lang fühlte Jurik sich angesprochen.
Dermot nickte nur und sagte: »Schlüssel.« Ohne
Zögern, ohne Rückfragen reichte ihm die Wache den Bund
mit den Kerkerschlüsseln. Dermot war immer ein guter Leutnant
gewesen. Nun war er ein guter Hauptmann. »Wo ist
Vadem?«
Der Wachmann deutete auf die Tür, und Jurik bemerkte,
daß die Riegel gelöst waren. »Paßt auf die
Frau auf.«
Einen Moment lang raste Juriks Herz. Frau. Aralee. Hier unter.
Seine Hand wollte das Schwert hervorreißen, doch er
ließ es sein. Ruhig. Wenn sie es war - wenn sie jetzt in der
Zelle war - konnte er sie immer noch umbringen-
»Komm jetzt«, sagte Dermot. »Wir haben nicht die
ganze Nacht.«
Jurik nickte. Wenn Dermot wußte, wie Recht er
hatte…
Im dem Moment, als Dermot die Hand nach dem Türgriff
ausstreckte, drehte sich auf der anderen Seite ein Schlüssel,
und die Tür ging auf. Der andere Wachmann war zurück, und
mit ihm die Frau. Nicht Aralee. Eine Totenmagd. Jurik
schauderte und schluckte den bitteren Geschmack schnell hinunter.
Dann fragte er grimmig: »Kommen wir zu spät?«
Dermot antwortete nicht. Es war eine dumme Frage. Die
Totenmägde kümmerten sich auch um die Todgeweihten im
Kerker, redeten mit ihnen. Vielleicht wollten sie ihnen die Angst
nehmen - Jurik glaubte nicht, daß ihnen das jemals
glückte. Ein Verurteilter wollte niemanden, der mit ihm
über den Tod sprach - er wollte leben.
Dieser Gang mit den Fackeln - auch an den erinnerte sich Jurik
noch zu gut. Aber heute roch es anders. Es roch nach Alter und
Schimmel, nicht mehr nach Tod und Pisse. Wurde wohl nicht mehr
soviel gebraucht, der Kerker. Sie richteten die Leute lieber gleich
hin…
Dermot ging zielstrebig an den dicken vergitterten Türen
vorbei, hinter denen es kein Licht gab - um zu sehen, wer in einer
Zelle saß, mußte man schon mit einer Fackel
hineinleuchten. Jurik folgte ihm langsam und mit kalter Ruhe. Die
Tür zum Wachraum war wieder geschlossen. Gut.
Dann blieb Dermot stehen, vor einer Zelle, die nicht anders aussah
als alle anderen. Den Schlüsselbund hielt er in der Hand, doch
er schloß nicht auf. »Gut, Jurik«, sagte er.
»Jetzt gib mir dein Schwert.«
»Was?« entfuhr es Jurik.
»Mit dem Griff voran.«
Langsam zog Jurik das Schwert.
Dermot sagte: »Glaubst du vielleicht, ich lasse dich mit
Schwert zu ihm in die Zelle?«
Jurik schüttelte den Kopf. »Ich hatte nie vor, dem
Jungen etwas zu tun.« Das Schwert wog schwer in seiner Hand.
Er hob es. »Verteidige dich.«
Worte, die er nie gesprochen hatte. Worte, die ihn das Leben
kosten konnten. Nur, weil Dermot sein Freund war.
Dermot stutzte nur einen Moment lang, doch er zögerte nicht,
und er stellte keine Fragen. Jurik gab ihm den Moment, den er
brauchte, um sein Schwert zu ziehen. Aber mehr nicht.
In der Schlacht hatte man selten mehr als einen Schlag. Hier
brauchte Jurik zwei: Den ersten täuschte er an, wollte nicht
treffen, wollte nur, daß Dermot mit einer Drehung auswich.
Für den zweiten Schlag verlagerte er sein ganzes Gewicht auf
den kaputten Fuß und traf Dermots Seite, dort, wo ihn die
Riemen schützen, nicht aber der Brustpanzer, den sie hielten.
Einen dritten Schlag brauchte Jurik nicht.
Und er hätte ihn auch nicht mehr geschafft. Der Schmerz
raubte ihm den Atem, als das Bein unter ihm nachgab und er neben
Dermot zu Boden stürzte.
Jurik wischte sein Schwert am Umhang ab. Im Aufstehen nahm er den
Schlüsselbund an sich. Er sah nicht nach, ob Dermot noch
lebte. Er hatte schon oft einen Freund verloren. Aber er hatte noch
nie einen getötet.
Schmerzen rasten noch immer durch seinen Fuß, als er, schwer
auf seinen Stock gestützt, mit zitternden Händen
Schlüssel ausprobierte. Er wußte nicht, wieviel Zeit ihm
blieb, bis einer der Wachleute nachschauen kam, was aus ihnen
geworden war. Zumindest hatten sie keinen Lärm gemacht. Dermot
traute ihm zu sehr, um Alarm zu schlagen… Was hatte er
erwartet?
Mit einem grimmigen Klicken drehte sich der Schlüssel im
Schloß, einmal, zweimal, dreimal. Jurik löste einen
Riegel, löste noch einen Riegel, und dann stieß er die
Tür auf. »Anders?«
Er erhielte keine Antwort.
Fast konnte man meinen, die Zelle war leer. Die Pritsche war
unberührt, die Eisenfesseln in der Wand verwaist. Aber in
einer Ecke, eine, in die kaum ein Stück Licht fiel, kauerte
teilnahmslos ein Bündel Mensch. Anders.
»Steh auf!« Jurik wagte es nicht zu rufen, also trat
er durch die niedrige Tür und stieß den Jungen mit
seinem Stock. »Komm mit!«
Anders regte sich nicht. Jurik bückte sich, griff ihm ins
Haar und zog seinen Kopf hoch. Schmerzen hatten den Jungen
eigentlich immer wieder auf die Beine gebracht -
Im schwachen Licht hätte Anders ebensogut tot sein
können.
Seine Augen waren offen, aber ohne jede Regung. Jurik fühlte
ihm den Atem, um sicherzugehen, daß Anders noch lebte. Dann
fluchte er. Jetzt, zum ersten Mal im Leben, hätte er Ember
brauchen können. Er selbst konnte Anders nicht tragen. Und
Ember war sonstwo…
Jurik fluchte, dann schlug er Anders ins Gesicht. »Steh
schon auf!«
Der Junge stand komplett neben sich. Wie bei Damiander - Jurik
schnüffelte, doch er roch keinen Wein. Wenigstens. Woher auch?
Aber was auch immer, er mußte Anders zu Bewußtsein
bringen. Schnell.
Jurik zog sein Schwert und drückte die kalte Klinge gegen
Anders Gesicht. Manchmal half das. Jurik hatte schon Kinder wie
Anders auf dem Schlachtfeld umkippen sehen, zwischen all den
Toten.
»Janek«, sagte Anders leise.
Jurik lachte böse. »Schön wär’s. Ich
bin jetzt wieder Jurik.«
»Janek«, sagte Anders noch einmal, und lächelte.
Dann rappelte er sich, langsam, auf.
Jurik atmete durch. »Gut. Stehen kannst du. Laufen
auch.« Man sollte meinen, er hatte Übung darin, Anders
wieder auf die Beine bringen. »Oder willst du lieber
hierbleiben und dich tothacken lassen?«
Anders sagte erst nichts, und dann: »Blut.« Er
schwankte. Jurik packte ihn bei der Schulter und schob ihn in
Richtung Tür - und war versucht, sich dabei selbst auf ihn zu
stützen. Sie brachen beide beinahe zusammen. Juriks Kopf
dröhnte, und sein Herz flatterte - so sollte das nicht gehen,
ihnen lief die Zeit davon, aus dem Kerker mußte man rennen,
und das konnten sie beide nicht.
»Blut«, sagte Anders noch einmal, und dieses Mal klang
seine Stimme wacher, lebendig. Beinahe freudig. Er schnupperte. Zu
seinen Füßen lag Dermot.
Jurik stand kurz davor, sich zu übergeben. »Ja, da ist
Blut«, preßte er hervor und stieß den
Jungen weiter.
Anders stolperte gegen die Wand, und wieder klappten die Beine
unter ihm weg. Vielleicht hatte er noch ein wenig Lebenswillen,
aber es war keine Kraft in ihm.
Jurik lauschte ins Dunkel. Wieviel Zeit blieb noch? Wieviel Zeit?
Mit einer Hand stützte er sich ab, mit der anderen kramte er
in seiner Tasche. Dörrfleisch. Salz war gut. Salz machte wach
- Anders sah nicht aus, als habe er in den letzten Tagen
überhaupt etwas gegessen. Jurik hatte immer Dörrfleisch
in der Tasche, es hielt sich ewig, und das war auch gut so, denn es
war auch schon ewig da drin. Der Geschmack war erbärmlich,
aber um den ging es nicht.
Jurik nahm sich nicht die Zeit, ein Stück abzureißen,
er schob Anders den ganzen Streifen in den Mund. Der Junge
würde schon von selbst anfangen zu kauen, und dann -
Jurik erstarrte, als er etwas Warmes an seiner Hand fühlte.
Es war Anders’ Zunge. Vor und zurück, vor und
zurück. Anders leckte das Blut von Juriks Hand.
Angewidert stieß Jurik Anders von sich, so heftig, daß
dieser mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Vielleicht half das ja.
Aber Jurik verschwendete keine Zeit mehr darauf, den Jungen zur
Besinnung zu bringen. Anders war krank - wenn sie Glück
hatten, war es nur das Fieber. Schlimmstenfalls hatte er
endgültig den Verstand verloren. War ja nicht der erste in
seiner Familie, von dem man das behaupten konnte…
Jurik lauschte und vermeinte für einen Moment, Stimmen aus
der Wachstube zu hören, aber das konnte nicht sein, die
Tür war zu dick und aus Eiche, man hätte brüllen
müssen, um hindurch zu schallen - aber Jurik ließ es
nicht darauf ankommen, und auch nicht darauf, auch noch gegen die
Wachposten kämpfen zu müssen. Er packte Anders,
schulterte ihn wie einen Sack und trug ihn, mehr schlecht als
recht, wie ein alter Mann, der ein Klafter Holz schleppte. Sein
Stock bog sich, so fest mußte er sich darauf stützen,
doch er brach nicht. Die Schmerzen reichten aus, um eine weitere
Woche zu saufen. Mindestens. Aber nicht jetzt.
Jurik nahm kein Licht mit - konnte keines mitnehmen, weil er beide
Hände brauchte, um Anders und sich selbst zu schleppen. Wollte
keines mitnehmen, weil Licht sie verraten konnte. Der Gang vor ihm
war dunkel, aber an seinem Ende, das wußte Jurik, war eine
Tür. Vielleicht verriegelt. Vielleicht vernagelt. Das
Treppenhaus dahinter hatte man schon zu Juriks Zeiten
stillgelegt.
Vielleicht war der Durchgang auch vermauert. Vielleicht gab es
keine Treppe mehr - Halan hatte es ihm nicht sagen können. Es
war ein Risiko. Wenn Tür und Treppe noch da waren, lag die
Freiheit in greifbarer Nähe. Sonst war sie noch einen Kampf
entfernt, und noch zwei tote oder verwundete Wachen - Jurik betete
um die Tür. Er drehte nicht um, sah nicht zurück zu der
Stelle vor der offenen Zellentür, wo die Fackel an der Wand
Dermots Körper beschien.
Vor ihm lag die Tür, die Tür, und sie war
versperrt mit ein paar Brettern, die man überkreuz
davorgenagelt hatte. Das mochte reichen als Erinnerung, hier besser
nicht durchzugehen, aber Jurik schreckte so etwas nicht. Er
ließ Anders zu Boden rutschen, länger tragen konnte er
ihn ohnehin nicht, und hebelte die Bretter mit seinem Schwert los.
Sie polterten zu Boden; sie würden ihren Fluchtweg verraten,
aber das war egal. Die Tür war abgeschlossen. Jurik betete,
daß sie nicht von der anderen Seite verriegelt war, und
versuchte Dermots Schlüsselbund. Er war weniger Aufwand, alle
Türen zu vernageln, als an einem Schlüsselbund die alten
Schlüssel herauszusuchen.
Der Bund war schwer, das waren Schlüssel aus fünfhundert
Jahren. Paßte nicht. Paßte nicht. Paßte nicht.
Jurik fluchte leise, und versuchte es weiter. Paßte. Endlich.
Jurik zögerte noch einen Moment, lauschte, niemand kam. Dann
drehte er den Schlüssel und rammte die verzogene Tür mit
seiner Schulter auf.
Vor ihm gähnte der Nilomar.
Dunkelheit füllte das alte Treppenhaus, und kalte Luft schlug
Jurik entgegen, alte, kalte Luft. Wie ein Blinder tastete er mit
dem Stock nach der Dunkelheit, doch er stieß sofort auf ein
Hindernis - da war noch ein Treppenabsatz, und wo noch ein Absatz
war, da war auch eine Treppe, oder zumindest genug davon für
einen Versuch.
Zu Juriks Füßen rappelte Anders sich langsam auf, auch
das war gut - Jurik konnte ihn nicht mehr tragen, kein Stück
mehr, aber er konnte Anders mit sich ziehen, als er die Tür
ins Dunkel durchquerte. Und hinter sich schloß. Er
schloß hinter ihnen ab. Mit Glück würde das die
Verfolger einen Moment lang aufhalten. Er bezweifelte, daß
viele Leute außer Dermot Schlüssel für alle
Türen hatten. Und eine Axt war nicht schnell genug zur
Hand…
Jurik drückte, auf dem Treppenabsatz kauernd, das Ohr gegen
die Tür und lauschte ein letztes Mal. Er hörte nichts,
nicht viel jedenfalls, außer dem Wind, der durch das
Treppenhaus zog. Er schien aus der Tiefe zu kommen. Jurik
wußte nicht, wie weit die Treppe noch nach unten
führte.
»Anders«, flüsterte er. »Rühr dich
nicht, ja?« Nicht, bevor er wußte, wieviel diese Treppe
noch aushielt. Alles um ihn herum schien leicht zu beben und zu
schwanken. Aber das konnten auch die Schmerzen sein.
»Janek«, flüsterte Anders, und eine Hand
berührte im Dunkel Juriks Fuß, hielt sich an seinem
gesunden Knöchel fest. »Wo sind wir, Janek?« Seine
Stimme klang klarer, weniger krank.
»Zwischen Leben und Tod«, zischte Jurik zurück.
»Leben ist oben. Du machst jetzt, was ich dir sage,
klar?«
»Hm«, sagte Anders. Und dann sagte er: »Ich will
nicht sterben.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Jurik und wünschte
sich, Anders möge den Fuß wieder loslassen; es war nicht
angenehm. »Wenn ich es heute doch tue, ist es nur
deinetwegen, also sei mir gefälligst dankbar.« Er
versuchte zu lachen, doch er konnte es nicht mehr.
»Danke«, sagte Anders. Schon nach nur einer
Aufforderung - er mußte doch krank sein. Aber immerhin. Das
war mehr, als Jurik erwartet hatte.
»Wo sind wir?« fragte der Junge noch einmal. Zu
ängstlich.
Jurik schob die Hand von seinem Fuß. »Altes
Treppenhaus«, sagte er. »Kerkerebene. Rest
überlasse ich dir. Halan sagt, ihr habt einen Geheimgang.
Wo?«
»Wo ist Halan?« fragte Alexander mit kindlicher
Kläglichkeit.
»Nicht hier.«
»Warum ist er nicht hier? Warum kommt er mich nicht retten?
Warum läßt er mich allein?« Leise, weinerlich -
bei Licht, an einem sicheren Ort, hätte Jurik ihn dafür
geschlagen. So verschob er es auf später.
»Weil er ein Feigling ist«, knurrte er. »Darum.
Und jetzt halt das Maul.«
Er hörte Anders schlucken - mehr Schluchzen als Schlucken,
eigentlich - aber dann war Ruhe.
Jurik gab ihm einen Moment, aber keinen allzu langen. »Der
Fluchttunnel«, sagte er dann noch einmal. »Wo ist
der?«
»Im… Keller«, flüsterte Anders.
»Welcher Keller?« fragte Jurik durch zusammengebissene
Zähne. Er konnte ihn immer noch schlagen, er konnte ihn immer
noch schlagen -
»Eine Ebene über uns«, antwortete Anders.
Endlich.
Jurik ließ seine Knöchel knacken. Lenkte für einen
Moment von den Schmerzen im Fuß ab. »Gut«, sagte
er. »Folg mir. Steh nicht auf. Die Treppe ist morsch - tritt
auf die falsche Stufe, und du krachst in den Nilomar. Bleib auf dem
Boden. Ich sag dir, wo du lang mußt.«
Anders leistete keinen Widerstand und keinen Widerspruch. Sein
Schock ließ langsam nach. Vielleicht half es, daß es
hier nicht mehr so nach Kerker stank. Nur das Blut konnte Jurik
immer noch riechen.
Langsam, vorsichtig krabbelten sie die Treppe hinauf. Für
Jurik war es nichts Neues - er war daran gewöhnt, auf
Händen und Knien herumkriechen zu müssen. Säufer
lernten vom Leben, und Krüppel auch. Eine Treppe
hinaufzurobben war die erste Lektion.
Er betastete jede Stufe, bevor er sie belastete, fühlte, ob
sie überhaupt noch da war, ob sie geborsten war, oder lose. Wo
mehr als eine Stufe fehlte, zog er sich mit den Armen an der
übernächsten hoch. Wie ein Regenwurm. Kalter Wind zog
durch das Treppenhaus, er roch nach Moder und Schimmel, er pfiff
und heulte. Dies war ein Ort fernab des Lebens. Sie krochen auf
schwankenden Stiegen über den Abgrund. Es ging langsam.
Vielleicht war es gut, daß es so finster war. Sie konnten
nicht nach unten sehen. Jurik zählte die Stufen nicht.
Zählen war etwas für Kinder, es änderte nichts.
Schlimm genug, daß Jurik die Jahre zählte -
»Kannst du noch?« fragte er leise. »Wenn nicht,
gib Bescheid und mach Pause - wenn du einen Fehler machst, stirbst
du.«
Anders antwortete nicht, doch sein Atem rasselte und verriet,
daß er dicht hinter Jurik war. Jurik fragte kein zweites Mal.
Anders mußte es selbst wissen. Wenn er im falschen Moment
nach einer Stufe griff, von der Jurik sich gerade abstieß,
stürzten sie beide in den Tod. Zumindest würde sie hier
niemand finden. Niemals.
Ein Lichtschein, rechts oben. Ein fahler Streifen Licht. Fiel
unter einer Türkante durch. Die nächste Ebene. Jurik
atmete auf. Treppenabsatz. Sicherheit. Mit den Zähnen
versuchte er, sich einen Splitter aus der Hand zu ziehen, doch der
saß zu tief, man konnte nichts sehen. »Hier?«
fragte er.
»Hmhm«, sagte Anders. »Bestimmt. Glaube
ich.«
Jurik lauschte an der Tür. Hörte nichts. Wußten
die, daß sie durch das alte Treppenhaus kamen? Warteten sie?
Es gab keine anderen Möglichkeiten. Warten hinter einer
verschlossenen Tür sah den Wachen nicht ähnlich. Jurik
hoffte, und betete, und hielt doch seine Hand am Schwertknauf -
»Da ist niemand«, sagte Anders.
Jurik glaubte ihm, und fragte nicht, von welchem seiner Sinne der
Junge das wußte.
Nur noch die Tür. Die Tür öffnen. Wenn die Tür
vernagelt war, saßen sie hier in der Falle. Das wäre
etwas für Halan gewesen, für die Vorbereitung - aber
Halan war kein guter Kundschafter. Blieben das Glück, und des
Hauptmanns Schlüsselbund.
Ein Schlüssel paßte. Paßte und klemmte, aber in
Juriks Hand und Arm lag die Kraft, die seinen Beinen fehlte. Mit
Gewalt - und ein paar Flüchen - gelang es Jurik, den
Schlüssel im Schloß zu drehen. Die Tür quietschte
auf. Einen Moment lang wurde es hell, doch dann war das Licht nur
Dämmerung. Dieser Keller war nur ein Lager, ungenutzter als
der Kerker, und menschenverlassen. Es machte Jurik Angst. Als
hätte er mit Dermot den letzten lebenden Menschen im
Schloß umgebracht…
»Warum hast du den Hauptmann getötet?« fragte
Anders abrupt.
Jurik, eine Hand im Türrahmen abgestützt, fuhr herum.
»Seit wann liest du Gedanken?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Anders, halb
erstaunt, halb zu sich selbst. »Lese ich Gedanken? Ich
weiß nicht.«
Jurik schluckte. »Wenn du meine Gedanken liest«, sagte
er, »weißt du auch, warum ich’s getan
habe.« Dermot hatte Frau und Kind. Wenn er Anders zur Flucht
verhalf, einem verurteilten Hochfrevler, würde man ihn als
Verräter hinrichten. So starb er als Held, und für die
Familie war gesorgt… Aber Jurik mußte sich zu diesem
Gedanken zwingen, weil er wußte, daß Anders ihm
vielleicht zusah. Zwingen, etwas anderes zu denken als Es war
mein Leben. Und er hat es mir gestohlen… Ihm war
schwindelig. Ihm war schlecht.
»Wo ist jetzt dein Geheimgang?« fragte er.
»Hier gleich rechts«, sagte Anders. »Rechts -
rechts - links -«
»Bring mich hin«, sagte Jurik.
Sie schleppten sich gegenseitig durch die Gänge - Anders
stützte Jurik, und Jurik stützte Anders, wie zwei
Betrunkene, die ohne Hilfe nicht gehen oder stehen konnten. Der
Schwert immer griffbereit. Juriks ganzer Körper war steif und
zäh von Schmerzen, bis auf seinen Schwertarm. Der Arm
schmerzte niemals. Jurik konnte stolz darauf sein.
Rechts. Rechts. Links. Sie kamen kaum schneller voran als auf der
Treppe. Hier heulte kein Wind, aber ab und an hörten sie ein
fernes Rufen durch die Gänge hallen. Dann standen sie still,
und rührten sich nicht, obwohl es alles sein konnte. Es war
irgendwo, weit weg, und wenn es verebbte, stolperten sie
weiter.
Dann blieb Anders stehen und zog einen Wandbehang beiseite, eines
von diesen alten schimmeligen Ungetümen, die man hier
überall fand. Dahinter war eine Tür, oder besser gesagt,
eine runde Luke mit einer Klappe davor. Nichts besonders Geheimes -
aber warum sollte man auch ausgerechnet den Eingang eines
Fluchttunnels verstecken?
»Da«, sagte Anders, und lächelte, und zitterte.
Aber er öffnete die Luke selbst nicht, das überließ
er Jurik. »Müssen wir da durch?«
Jurik blieb ruhig. Antwortete nicht. Fluchte nicht. Er löste
nur den Riegel, öffnete die Tür, packte Anders und schon
ihn in die Öffnung. »Ja«, sagte er dann.
Am Ende des Tunnels lagen Stunden, Jurik wußte nicht wie
viele. Er konnte nur sagen, daß er diesen Tunnel haßte
- weil er ihn erst jetzt kennenlernte, nicht vor dreizehn Jahren.
Dieser Fluchttunnel gehörte allein der Königlichen
Familie, sie konnten sich bei Gefahr in Sicherheit bringen, aber
für eine Massenevakuierung war er nicht gedacht. In der Enge
brach sonst eine Panik aus, an deren Höhepunkt dann der Gang
einstürzte.
Jurik überlegte, den Gang absichtlich hinter ihnen
einstürzen zu lassen - falls man ihnen die Hunde
hinterherhetzte, denn menschliche Verfolger krochen nicht schneller
als die Flüchtlinge. Aber es war zu gefährlich, und
sinnlos. Sie hatten es hier mit Aralee zu tun. Aralee wußte,
wo der Tunnel endete.
Er erzählte Anders nichts von seinen Befürchtungen, die
fast schon Hoffnung waren. Aralee wartete am anderen Ende, wartete,
daß er sie tötete - es war der Gedanke, der Jurik
vorantrieb, der ihn Müdigkeit und Schmerzen ignorieren
ließ. Was Anders antrieb, war Jurik. Es war gut, daß
der Junge vorne ging. Man konnte ihn leichter stoßen als
ziehen.
Und dann, irgendwann, hatte der Tunnel ein Ende. Eine
Falltür, über der ihre Verbündeten warteten, oder
ihre Feinde. Jurik gönnte es Halan, Aralee in die Hände
zu fallen, gönnte es ihm für seine Feigheit -
Aber Halan war Aralee nicht in die Hände gefallen. Da war
keine Aralee, weit und breit nicht. Morgendämmernde Nacht lag
über einer Turmruine, und Halan wartete mit den Pferden auf
sie.
Mit zu vielen Pferden. Das erste, was Jurik sah, als er aus
dem Boden kroch, war Embers Schimmel. Er fluchte leise.
»Gut«, sagte er dann. »Es hat also geklappt.
Aber bedankt euch nicht bei mir.«
Es hörte niemand zu. Anders, der angesichts des Todes alle
Scham abgelegt hatte, krallte sich an Halan fest und versuchte
wohl, das auf Schock und Fieber zu schieben, was Jurik seit Monaten
mit Inbrunst ignorierte. Ember hockte in einer Ecke und
schlief.
Jurik fühlte sich schwanken und konnte sich gerade noch an
der Wand hinter ihm auffangen. Sein Stock war weg - Jurik ahnte,
daß er im Treppenhaus zurückgeblieben war, aber das
änderte nichts. Der Stock war schön, aber unpraktisch.
Jurik war alt genug für eine richtige Krücke.
Er richtete sich wieder auf und klatschte in die Hände, laut.
»Auf die Pferde! Auf die Pferde!«
»Aber es ist Nacht - wir haben nicht geschlafen«,
versuchte es Halan.
»Ich sage, auf die Pferde. Ich sage, wir reiten nach
Süden, sofort. Glaubt ihr, die Flucht ist vorbei? Sie
fängt erst an!«
Irgendwo ging die Sonne auf, und sie ritten, halb bewußtlos
vor Erschöpfung. Sie hatten ihre Freiheit - sonst nichts.
War wohl das Beste.
Hier endet Schwanenkind, das
Zweite Buch der Chroniken der Elomaran
weiter geht es mit Dämmervogel, Varyns Geschichte
Und danach? Zornesbraut
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