Ich wollte nie eine Mörderin sein, und nie eine Mutter, und
doch war ich beides, noch ehe mein zwanzigstes Jahr
vorüberging. Es fiel mir nicht leicht, beides. Und doch
war das eine einfacher als das andere. Das Morden. Denn als ich es
tat, war es meine eigene Entscheidung.
Wie oft habe ich meinen Vater verflucht, weil er mich verschacherte
wie ein Stück Vieh, aber das ist nur Klagen um des Klagens
Willen - in Wirklichkeit liebte ich ihn, und er liebte mich. Und
daß er mich verheiratete… Was hätte er denn
anderes tun sollen? Über jeden anderen Mann wäre ich
nicht minder zornig geworden - daß es ausgerechnet der Herr
des ganzen Landes sein sollte, konnte uns allen nur Recht sein.
Schließlich war es meine Schuld ebenso wie die meines
Vaters.
»Ach, Lela«, sagte er oft, wenn wir Abends in seinem
Studierzimmer beisammen saßen, »wenn dich der
König nicht nimmt, dann tut’s auch kein anderer
Mann.«
»Warum, Papou?« fragte ich. »Bin ich nicht gut
genug? Bin ich nicht klug?«
Mein Vater tätschelte mir den Kopf. »Du bist zu
klug, meine Lela. Und du kannst lesen. Für den König ist
das gut, er will beides - aber die anderen Männer können
kaum lesen, und sie fürchten sich, wenn ihre Frau es
tut.«
»Aber Mamou kann lesen«, sagte ich. »Und du hast
sie trotzdem zur Frau genommen.«
Mein Vater lachte. »Ja, ich… Also sind es zwei
Männer in diesem Land, die lesende Frauen nehmen. Aber einer
davon ist König, und der andere mit seiner Frau sehr
zufrieden.«
»Der König hat auch schon eine Frau«, entgegnete
ich. »Wie soll er mich dann noch heiraten?«
»Er wird sie entlassen«, sagte mein Vater. »Wenn
sie nicht vorher stirbt, wird er sie in ein paar Jahren entlassen.
Sie ist zu alt zum Kinderkriegen. Und der König braucht noch
einen Sohn.«
Obwohl er eine kluge Frau aus mir machen wollte, erzählte mein
Vater mir nicht alles, was es zu wissen gab, mehr noch: Was ich
wirklich hätte wissen sollen. Ich ahnte nichts davon, und so
lächelte ich nur und sagte: »Wenn es erst in ein paar
Jahren ist, soll es mir recht sein. Wenn ich bis dahin keinen
anderen Mann nehmen muß, um so besser - und ablehnen kann er
mich dann immer noch.«
Aber es kam nicht so, wie ich wollte. Nichts kam mehr so, wie ich
wollte, nie wieder, von diesem Tag an. Oder von dem Tag an, der
bald folgen sollte, als die Frau des Königs starb und er
selbst bekannt gab, es sei an der Zeit für ihn, sich seine
Spätfrau zu nehmen. Ich war vierzehn Jahre alt an dem Tag.
Mein Vater schrieb dem König, und danach wartete ich aufgeregt
darauf, ins Schloß eingeladen zu werden. Es war weniger der
König, den ich sehen wollte, als mehr seine berühmte
Bibliothek - aber es kam keine Einladung. Statt dessen kam der
König selbst.
Wir saßen beim Abendmahl, als plötzlich unsere Magd
hereinkam, bleich wie ein Laken, und uns mitteilte, der König
stünde vor der Tür und verlange mich zu sehen. Und ich
muß gestehen: Ich war ein wenig enttäuscht - hatte ich
mich doch schon auf den Palast gefreut: Ich wußte in dem
Moment, daß der König mich nicht nehmen würde. Also
keine Bibliothek für mich -
Mein Vater reagierte schnell: Das Kammermädchen, hoch,
Gästezimmer herrichten. Die Köchin, runter, noch ein
kaltes Abendmahl anrichten, die Tochter mit der Mutter nach oben,
umziehen - aber dazu kamen wir nicht mehr. Da stand der König
schon in unserem Speisezimmer.
Er sah älter aus, als ich erwartet hatte. In unserer
Bibliothek hing ein Gemälde, das ihn als strahlend
schönen Mann in der Blüte seiner Jahre zeigte, mit
tiefschwarzem Haar, blitzenden dunkelblauen Augen und stolzem Mund
- wirklich ein Mann, den eine Frau sich wünschen konnte, und
ein wenig hatte ich mich auch in dieses Bild verliebt. Und
geglaubt, daß ein Engelsgeborener niemals wirklich alterte.
Doch das Haar des Königs war grau, grau bis weiß, seine
Schläfen steil, seine Wangen hohl. Ich wußte, daß
der König viermal älter war als ich, aber ich war
entsetzt, daß man es ihm ansah. Und er lächelte nicht.
Nicht an diesem Tag, und auch niemals später. Jedenfalls
nicht, wenn ich dabei war. Er mochte mich nicht, er mochte wohl
keinen Menschen - aber er war der König, er brauchte das
nicht, auch nicht, um zu heiraten.
Nur als sein Blick auf meine Mutter fiel, blitzten seine Augen
kurz auf. Mehr nicht, aber es fiel mir auf, und es gab mir zu
denken.
Der König deutete ein Lächeln an. »Als ich Euren
Brief las, Aron, konnte ich nicht umhin, als mich auf den Weg zu
Euch zu machen. Und ich hoffe sehr, daß Ihr mir nicht zuviel
versprochen habt - nicht für mich, sondern für
Euch.« Seine Stimme war so kalt wie sein Blick. »Dies
ist Eure Tochter, wie ich sehe.«
Mein Vater nickte voll Stolz. »Aralee. Meine Lela. Ich
versprach Euch, daß sie ihrer Mutter ähneln würde,
und -«
Der König schnitt ihm das Wort ab. »Dann entfernt sie
jetzt, zumindest, bis wir gesprochen haben. Wenn ich sie heirate,
werde ich sie noch oft genug sehen müssen.«
Ich starrte meinen Vater an und sah ihn nicken. Dann blickte er zur
Tür - konnte er mir nicht mehr in die Augen sehen? Ich
biß die Lippen zusammen und verließ das Zimmer,
aufrechten Schrittes. Erst stieg ich tatsächlich die Treppen
zu meinem Zimmer hoch, wollte mir etwas anderes anziehen, mein Haar
richten - doch ich wollte es nicht mehr, ich wollte dem König
nicht gefallen. Daß er mich nicht mochte, wußte ich
bereits, und ihr wollte ihm keine Entschuldigung für eine
Hochzeit mehr geben. Statt in mein Zimmer zu gehen, schlich ich
über den Flur, die Dienstbotentreppe hinunter, und stellte
mich hinter die Tapetentür zum Speisezimmer, das Ohr dicht an
das Holz gepreßt. Ich wußte, Lauschen schickte sich
nicht, aber es ging um das Ergebnis. Und das Ergebnis fand hinter
dieser Tür statt. Ich hielt die Luft an und lauschte.
Drinnen sprachen mein Vater und der König - nur nicht
miteinander: Immer wenn mein Vater anhub, etwas zu sagen, schnitt
ihm der König das Wort ab. An diesem Tag verlor ich etwas -
meine Bewunderung für den König als erstes. Und dann die
Liebe zu meinem Vater. Ich begriff, daß er mich verkauft
hatte - nicht erst jetzt, sondern schon Jahre früher. Schon
bevor ich geboren wurde.
»Versteht mich nicht falsch«, hörte ich meinen
Vater sagen. »Wir fühlen uns in höchstem Maße
geehrt, daß Ihr gekommen seid.«
»Ich habe kein Interesse, Euch zu verstehen«, erwiderte
der König kalt. »Spart Euch Eure Worte, ich weiß
bereits alles, was Ihr mir sagen wollt. Macht Euch nicht
gänzlich zum Narren. Ihr habt sie mir angeboten, nun gebt sie
mir auch. Ich habe Euer Wort. Es war der Preis dafür,
daß ich Eurer Hochzeit zugestimmt habe.«
Ich zitterte und biß mir auf die Lippen, um kein
Geräusch zu machen. Mir grauste vor diesem Mann, der so weise
sein mochte und der doch so böse war. Am liebsten hätte
ich die Tür aufgerissen und den König angeschrieen, aber
ich fürchtete ihn - nicht, daß er mich nicht nehmen
würde, denn das hoffte ich aus ganzem Herzen, aber daß
er es an meinen Eltern auslassen würde, uns die Bücher
fortnehmen. Auch meinen Vater wollte ich anschreien für das,
was er mir verschwiegen hatte - daß der König einst
meine Mutter zur Frau nehmen wollte: Und daß sie ihn
ablehnte. Ihn zurückwies, den König - nicht eine Frau
hatte das jemals gewagt.
Ich habe später die alten Protokolle gelesen, ich weiß,
was sie zu ihm sagte: »Nur allzu gern würde ich Euch
heiraten, doch ich wäre Eure erste Frau, und das will ich
nicht sein. Ich wäre eines Tages zu alt, um Euch einen zweiten
Sohn zu schenken, und dann würdet Ihr meinen Tod herbeisehnen
oder mich verstoßen, um neu heiraten zu können. Um
diesen Preis will ich Euch nicht, und ich lehne ab.«
Meine Mutter war eine mutige Frau, und vielleicht die einzige, die
diesen König jemals beeindruckt hat. Er heiratete eine andere
und ließ meine Mutter meinen Vater haben - einen Mann, den
er für sie auserwählt hatte - und dafür
versprachen sie ihm das Recht an ihrer erstgeborenen Tochter, wenn
es an der Zeit sein sollte, sich seine Zweitfrau zu nehmen. Auf
dieses Wissen hätte ich ein Anrecht gehabt, schon damals,
gerade damals. Doch ich lernte schon bald, daß meine
Eltern nur kleine Lichter waren, wenn es darum ging, Wissen
zurückzuhalten.
Aber ich war jung und unschuldig und ahnte nichts von alldem, ich
stand hinter einer Tür und lauschte und schäumte vor Wut
und rührte mich nicht.
»Aber sie ist noch so jung!« sagte mein Vater. Als ob
das seine einzige Sorge war - auch in zehn Jahren konnte sich
dieser König nicht in einen netten Menschen verwandeln!
»Erwartet Ihr eine Antwort von mir? Soll ich sagen: Besser zu
jung als zu alt?« Der König lachte müde.
»Entschuldigt mich.«
Seine Schritte hörte ich nicht. Es gehörte zur Würde
der Engelsgeborenen, nahezu lautlos zu gehen. Und so erschrak ich
wie noch nie zuvor in meinem Leben, als der König die Tür
aufriß, hinter der ich stand. Er sagte nichts, blickte mich
nur verächtlich an, und ich sah das Böse in seinen
schönen Augen. Ich konnte nur nach Luft schnappen, und dann
brachte ich den sinnlosesten aller Sätze hervor: »Aber -
ich war doch ganz leise!«
Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Du denkst zu
laut.«
Dann erst kam mir in den Sinn, eine Entschuldigung zu stammeln,
aber ich kam nur bis zum »Ich -«, da hatte mir der
König schon das Wort abgeschnitten.
»Schweig. Dafür ist es zu spät. Ich erwarte von
dir, daß du weißt, daß Lauschen nicht
erwünscht ist. Aber du verwunderst mich nicht. Komm herein.
Ich werde dich in Augenschein nehmen.«
Stumpf gehorchte ich. Ich sah das Gesicht meines Vaters - die
Scham darin gab mir keine Kraft. Mein Vater sollte sich meiner
nicht schämen, und ich mich nicht meines Vaters.
Der König blickte an mir herunter. »Man versprach mir,
du ähneltest deiner Mutter, aber davon sehe ich zu wenig. Du
bist ihr nicht gewachsen.« Er nickte meinem Vater zu.
»Holt sie her, damit ich sie vergleichen kann.«
Mein Vater verschwand, und ließ mich mit dem König
zurück. Allein.
»Und jetzt«, sagte der König, »zieh dich
aus.«
Ich erstarrte. Und dann sagte ich: »Nein.« Ich wollte
es ganz fest und bestimmt sagen, aber mein Gesicht brannte.
Der König lächelte nicht. »Dein Erröten
stünde dir gut an, wenn es nur echt wäre.«
»Es ist echt«, sagte ich. »Und Ihr
wißt es.« Er konnte meine Gedanken lesen. Es gab keine
Geheimnisse vor ihm. Ich war bereits nackt, auch im Kleid.
»Und wie vielen anderen Männern hast du dich
entblößt?«
»Keinem einzigen«, stieß ich hervor und hoffte,
daß diese Prüfung bald ein Ende nehmen sollte. Doch der
König nickte nur.
»Gut«, sagte er. »Dann werde ich der Erste sein.
Zieh dich aus.«
»Nein«, wiederholte ich. Und wenn er zehnmal mein
König war -
»Du wirst gehorchen«, sagte er so eisig, daß
seine Stimme mehr schmerzte als eine Ohrfeige. »Deine Tugend
habe ich geprüft, nun prüfe ich deinen Gehorsam. Zieh
dich aus.«
An diesem Tag nahm er mich mit nach Koristan, um mich zur Frau zu
nehmen. An diesem Tag schwängerte er mich - nicht mit einem
Kind, aber mit Wut. Ich konnte sie in meinem Bauch spüren:
Groß wie ein Hühnerei und hart wie ein Stein, und
mindestens so schwer. So sehr ich auch schluckte, so sehr ich auch
zu entspannen suchte - die Wut blieb, und blieb, und blieb. Und wie
ein Kind sollte sie wachsen.
Die Kutschfahrt nach Koristir sollte
die längste meines Lebens werden - nicht nur, weil wir nicht
miteinander sprachen.
»Spar dir deine Worte«, sagte der König.
»Es reicht mir zu wissen, was du denkst. Ich verschwende
meine Zeit nicht damit, mit Dummköpfen zu reden.«
»Aber ich bin kein Dummkopf«, wagte ich spitz zu sagen.
»Sonst würdet Ihr mich kaum heiraten wollen.«
»Unsinn«, erwiderte der König. »Du bist ein
Dummkopf, wie dein Vater.«
»Mein Vater ist kein Dummkopf!« brauste ich auf -
meine Wut war noch jung, und ich wußte sie nicht zu
bezwingen, zu zügeln, und zu nutzen. »Er ist ein
Gelehrter.«
»Ein Gelehrter!« Der König schnaubte. »Er
besitzt Bücher, aber er versteht nichts davon! All die
selbsternannten Gelehrten sind ein Dorn in Korisanders Augen.
Wissen gehört geschützt, und vor diesen am
allermeisten!«
Ich biß mir auf die Lippen und hüllte mich danach in
Schweigen. Ich konnte nichts mehr sagen. Ich war fassungslos.
Alles, an was ich glaubte, ging an diesem Tag in Scherben. Der
König, der bewunderte Wahrer der Weisheit, war ein garstiger
alter Mann, der die ganze Welt verachtete und mich am allermeisten.
Später versuchte ich Entschuldigungen für ihn zu finden,
ihn zu verstehen. Wenn er wußte, was alle Menschen dachten,
wenn er gezwungen war, alle Heuchelei und falsche Freundlichkeit zu
durchschauen, wenn er jede Torheit direkt erfahren mußte -
dann konnte er gar nicht anders sein als so, nicht wahr? Schuld war
nicht er mit seinem überragenden engelsgleichen Verstand,
Schuld waren wir gewöhnlichen Menschen mit unserer
aufdringlichen Dummheit… Und ich versuchte, mich zu hassen
an seiner Statt, wenn ich mich dann in meinem einsamen Bett in den
Schlaf weinte und seinen Tod herbeisehnte und hoffte, daß
meine Gedanken zumindest an diesem Ort vor ihm in Sicherheit sein
sollten.
Auf dieser endlosen Kutschfahrt erhaschte ich die erste Vorahnung
auf dieses Leben, das vor mir liegen sollte. Aber ich wußte,
daß ich beobachtet wurde, und so verzichtete ich auf Angst
oder Trauer oder alles andere und machte mich ganz leer. Es war
eine Leere, die mich für die nächsten Jahre begleiten
sollte.
Meine Ankunft im Palast nahm ich ohne Ehrfurcht auf. Früher
wäre ich von dem Anblick begeistert und beeindruckt gewesen,
aber so nahm ich nur kalte Feindseligkeit wahr. Ich war müde
bis zur völligen Erschöpfung, zu müde, um noch
Hunger zu spüren, denn seit diesem verhängnisvollen
Abendmahl hatte ich nichts mehr gegessen. Vielleicht hätte ich
besser während der Fahrt geschlafen, aber ich traute mich
nicht. Nun konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Ich
weiß nicht mehr, was der König sagte, als er mich zwei
Zofen übergab, aber sie waren auf gehorsame Weise gut zu mir,
als sie mich auf das Zimmer brachten, das für die
nächsten Jahre, für den Rest meines Lebens, mein Zuhause
werden sollte. Es sollte einmal mein heiliges Reich werden, doch in
dieser Nacht war es kalt und fremd wie der Rest.
Als ich geweckt wurde, glaubte ich einen Moment lang an einen
bösen Traum, aber es war nur ein kurzer Moment. Eine Zofe
brachte mir ein Frühstück, für das mir der rechte
Appetit fehlte, und half mir beim Anziehen eines Kleides, das nicht
meines war. Vor mir trug es die Königin, die nun die tote
Königin war. Es gefiel mir nicht. Früher war mir egal,
was ich trug, aber hier lernte ich Kleider verabscheuen. Sobald die
Wahl wieder meine war, trug ich Hosen. Aber bis dahin sollte es
noch lange hin sein.
An diesem Tag stellte mich der König seiner Familie vor -
oder sollte ich besser sagen: Führte mich vor? Ich
stand da wie eine Zuchtstute, und das einzig Erfreuliche war,
daß der König nur eine kleine Familie hatte. Eine sehr
kleine. Ich kann verstehen, daß seine erste Frau Unwillens
war, ihm weitere Kinder zu schenken, nachdem sie ihre Pflicht getan
und ihm den erforderlichen Sohn geboren hatte. Und der hatte nun
wiederum auch einen Sohn, besser gesagt ein Söhnlein, einen
Knaben von gut drei Jahren, den Reserveerben, sollte der alte
König ohne zweiten Sohn sterben. Ein überflüssiges
Kind, schon damals. Ebenso überflüssig wie seine Mutter,
die ich erst Tage später kennenlernen sollte. Sie war keine
Engelsgeborene und gehörte somit natürlich nicht zur
Familie.
Ich begriff schnell, daß des Königs Sohn anders war als
der Vater, denn er lächelte, als sich unsere Blicke
begegneten. Er war so, wie ich mir den König selbst immer
erträumt hatte - strahlend schön, und wenn er auch schon
mehr als dreißig Jahre alt war, immer noch jung. Ihn wollte
ich, ihn und nicht den Vater, doch ich traute mich nicht, das zu
denken, traute mich sogar kaum, zurückzulächeln. Mein
Herz pochte ein wenig, das war alles. Mehr nicht.
Ein kleiner Trost war es, als ich begriff, daß der
König seinen eigenen Sohn nicht minder verachtete als mich,
und seinen Enkel noch mehr. Und auch, daß sich der Sohn sogar
ein wenig um meine Gesundheit zu sorgen schien.
»Sie ist noch sehr jung«, sagte er. »Was ist,
wenn sie bei der Geburt stirbt, und das Kind mit ihr?«
Unwirsch schüttelte der König den Kopf. »Das Kind
wird nicht sterben.«
»Welches Kind?« fragte der Sohn. »Sie ist doch
selbst noch eins!«
Während sie sprachen, drehten sie Kreise um mich, damit ihnen
auch kein Winkel meines Körpers entging. Sollte ich mich
freuen, daß ich dieses Mal mein Kleid am Leibe behalten
durfte? Aber was der Sohn dann sagte, nicht zu mir, sondern zu
seinem Vater, war eine Ohrfeige und raubte mir alle Hoffnungen, im
Königssohn einen Verbündeten gefunden zu haben:
»Hübsch ist sie ja, aber glaubst du, sie ist auch
wirklich gescheit?«
In mir wurde es schwarz. Ich sah zu Boden und fühlte den Zorn
in mir, das einzige, was in diesem Moment noch in mir lebte und
mich leben ließ. Meine Mutter hatte mich Stolz gelehrt und
Widerworte, und ich spürte, daß auch diese Wut ihr Erbe
sein mußte, gesät an dem Tag, als sie den König
abwies. Es mußte die Kraft meiner Mutter sein, die mich den
Kopf wieder heben ließ und diesem Mann in die Augen blicken
und sagen: »Zumindest bin ich gescheit genug, um zu wissen,
daß ich mehr bin als ein Stück Vieh!«
Und dann drehte ich mich um und verließ den Raum erhobenen
Hauptes. Wenn sie schon glaubten, alles über mich zu wissen,
brauchten sie meinen Anblick nicht mehr. Da konnte ich ebensogut
auf meinem Zimmer sitzen. Allein mit mir und mit meiner Wut, die
alles war, was ich noch haben durfte. Meine Wut war meine Macht,
und so sollte meine Macht mir ihr wachsen. Der König konnte
mich sein Eigen nennen. Doch besitzen sollte er mich nicht. Und
während mein kalter, lebloser Körper mit dem König
vermählt wurde, schloß mein Verstand mit meiner Wut
einen Pakt auf Leben und Tod.
So wurde ich Königin. Ich
lernte meine Macht zu schätzen - es war keine Macht über
das Königreich, nicht einmal über mein eigenes Leben,
aber über den Hofstaat. Alle Mägde und Dienerinnen,
Höflinge und Knechte, Gärtner, Kinder und Köche
unterstanden mir. Nicht, damit auch ich meinen Platz im Leben
hatte, aber weil sie den König nicht interessierten.
Hausverwaltung war eine niedere Aufgabe, auch wenn das Haus
dreihundert Menschen beherbergte. Und es war dem König egal,
ob ich diese Aufgabe gut oder schlecht erfüllte. Alles, was er
von mir verlangte, war ein Sohn. Und ihm keinen zu schenken, war
die einzige Macht, die ich über ihn hatte. Und so versuchte
ich, ein Mädchen von fünfzehn Jahren, mich an meinem
ersten Verbrechen: Einer Erpressung.
»Ich weiß, es ekelt Euch vor mir«, sagte ich.
»Ihr verabscheut meinen Körper; Ihr wollt einen Sohn,
auf daß Ihr mich nie wieder ansehen müßt. Aber ich
will auch etwas von Euch, und ehe ich es bekomme, werdet Ihr auf
Euren Sohn lange warten müssen.«
Sein Blick war so kalt wie immer. »Alles, was du zu wollen
hast, ist, meinen Sohn zu empfangen.«
Doch ich ließ mich nicht einschüchtern. Ich mußte
keine Angst mehr haben - er konnte mir nicht mehr antun, als er
bereits getan hatte. »Ich will in Eure Bibliothek«,
sagte ich und blickte ihm dabei fest in die Augen. »Was
nützt mir lesen und schreiben, wenn Ihr mich nicht lesen
laßt? Ich habe die Herrschaft über alles Schlüssel
des Palastes, nur über diesen einen nicht.«
»Du hast nichts in der Bibliothek zu schaffen!«
»Dann empfangt Euren Sohn doch selbst!« Und danach
kamen mir die Worte wie von allein. »Wenn Ihr mich nicht
leben laßt, wie ich es verdiene, dann werde ich einen Sohn
gebären, doch nicht von Euch, und niemand wird es jemals
erfahren.« Ich wußte, daß für die Frauen der
Engelsgeborenen Ehebruch mit dem Tode bestraft wurde, für die
Frauen und für die Kinder, die diesen Verbindungen entspringen
mochten. Nicht auszudenken, wenn die Blutlinie der Engelsgeborenen
versiegte und würdelose Bastarde an ihre Stelle traten! Ich
wußte auch, daß nach jeder Geburt die Kinder genau
geprüft wurden und ihre Mütter peinlichen Verhören
unterzogen, selbst wenn sie nie einen anderen Mann sahen als ihren
Gemahl. All das wußte ich, und so sagte ich: »Denn dann
soll der Vater Euer Sohn sein.«
Er schlug mich, zum ersten und letzten Mal. »Hure!«
schrie er. »Was hast du mit meinem Sohn -«
»Nichts«, sagte ich. »Noch nichts.« Koris
war ein besserer Mann als sein Vater, und ich mochte ihn, aber er
war verheiratet und ahnte nichts von meinen Worten. »Was
wollt Ihr nun tun? Mich verstoßen? Nun zu, verstoßt
mich! Hinrichten könnt Ihr mich noch nicht für meine
Worte, Euch bindet der Richter wie jeden gewöhnlichen Mann,
denn noch habe ich nichts getan. Aber wenn ich es tue, wird
niemand es wissen.«
In diesem Moment hoffte ich nur, daß er mich verstoßen
mochte - daß ich zu meiner Familie zurückkehren konnte.
Sicher, meine Eltern würden enttäuscht sein, aber hatten
sie mich nicht enttäuscht, als sie mich verschacherten? Ein
Kind wollte ich dagegen lieber nicht, keinen Sohn und auch keine
Tochter, nicht vom König und nicht von einem anderen.
Um so erstaunter war ich, als der König sagte:
»Törichtes Kind! Du weißt nicht, wovon du redest,
und deine leeren Drohungen sind mitleiderregend. Aber du sollst
deinen Willen haben.«
Später fragte ich mich oft, warum er einlenkte - wollte er
einen Skandal vermeiden? War es ihm in Wirklichkeit
gleichgültig? Oder hatte ich ihn in diesem Augenblick des
Zorns an meine Mutter erinnert? Hatte ich ihn erregt? Ich
weiß es nicht. Will es nicht wissen. Aber an diesem Tag
führte mich der König zur Bibliothek. Seiner Bibliothek,
und daran sollte es keinen Zweifel geben.
»Du wirst die Bibliothek besuchen«, sagte er.
»Unter folgenden Bedingungen, an die du dich halten wirst: Du
wirst bei deinem Aufenthalt von einem Mitglied meiner Familie
beaufsichtigt, das auch die für dich geeigneten Bücher
auswählen wird. Davon abgesehen, wirst du nichts
anrühren, und wenn ich es sage, wirst du sofort auf dein
Zimmer zurückkehren. Das hat zu genügen. Weitere Marotten
dieser Art wirst du dir nicht herausnehmen.« Ob er vielleicht
wirklich fürchtete, ich könne mit seinem
Sohn…?
Und so sah ich Korisanders Bibliothek zum ersten Mal. Sie war ein
großer, furchteinflößender Raum. Die Regale zogen
sich bis zu der hohen Decke, mit zierlichen Leitern, um die oberen
Borde zu erreichen. Darüber wölbte sich die Decke, bemalt
wie der Sternenhimmel in tiefem, weiten Blau, so kunstvoll
gestaltet, daß man sich klein fühlte und von den
Elomaran beobachtet. Erst Jahre später, und nur von der
obersten Leitersprosse aus, konnte ich die Risse im
blaugetünchten Kalk sehen, und dann begriff ich, daß die
Kälte in diesem Saal nicht nur Einbildung war, sondern feucht
in den Wänden saß - aber an diesem Tag, als Mädchen
von fünfzehn Jahren, war ich von dieser gewaltigen
Schönheit schier erschlagen.
Ich sah Bücher über Bücher - in dem Moment verstand
ich, warum der König die Sammlung meines Vaters verlachte.
Hier standen die Bücher aus tausend Jahren. Tausende von
Büchern, Lederrücken an Lederrücken, Wissen an
Wissen. Zum ersten Mal war ich glücklich, ins Schloß
gekommen zu sein. Diese Bücher waren alles wert, sogar,
daß ich meinen Sohn für sie verkaufte, ehe er auch nur
gezeugt war, und das, obwohl ich wußte, wie sich ein
verkauftes Kind fühlt. Atemlos blickte ich mich um.
Das gesammelte Wissen der Menschheit erwartete mich. Geschichte.
Botanik. Erdkunde. Heilkunde. Vor allem die Heilkunde wollte ich
lernen. So viele Menschen lebten im Palast, doch wenn sie krank
wurden, erwartete sie eher die Totenmagd als ein kunstreicher
Heiler - und in greifbarer Nähe waren die Bücher, in
denen die Rettung stand. So war auch in diesem Moment des
Glücks die Wut bei mir, und ich schwor, daß ich dieses
Wissen freilassen würde, sobald ich die Macht dazu hatte. Und
ich wußte zugleich, daß diese Macht niemals mein sein
sollte.
Ich lächelte den König an. »Danke«,
flüsterte ich ehrfürchtig.
»Spar dir die Dankbarkeit für die Erfüllung deiner
Pflicht«, sagte er. Und dann rief er in die Bibliothek
hinein: »Junge!« Er nickte mir zu. »Bis ich dich
abhole, wirst du alles tun, was er dir sagt.«
Ich nickte, und hoffte, glaubte, daß sein Sohn zwischen den
Regalen auftauchen würde, und mein Herz tat einen kleinen
Hüpfer, aber statt dessen sah ich mich einem kleinen blassen
Jungen gegenüber. Er trug ein Buch, das halb so groß wie
er zu sein schien, und war doch schon in jedem Zoll ein
Engelsgeborener, bis hin zu der gehässigen Verachtung in
seinen zu großen, zu blauen Augen. Für ihn gab es keinen
Zweifel daran, daß ich in dieser Bibliothek nichts zu suchen
hatte. Er drückte mir das Buch in die Hände und
führte mich zu einem Lesetisch.
»Hier«, sagte er. »Dies ist die Chronik des
Arilen von Korisanders Blute. Wenn du etwas nicht begreifst, sollst
du mich fragen.«
Ich hätte darüber lachen müssen - ein kleiner Junge
von vier Jahren, der mit großer Ernsthaftigkeit davon
überzeugt war, mir um Haupteslänge überlegen zu
sein. Aber alles, was ich in dem Moment tun konnte, war weinen.
Daß der König mich haßte, daß sein Sohn mich
nicht beachtete - damit konnte, mußte ich leben. Aber die
Verachtung dieses Kindes traf mich härter als jede
Kränkung der letzten Tage.
Der Junge sah mich an, sah die Tränen über meine Wangen
laufen, und sein Gesicht erstarrte in Bestürzung. Einen
Augenblick lang glaubte ich, er wolle sich bei mir entschuldigen -
aber als er das Buch an sich riß, bevor meine Tränen
darauffallen konnten, begriff ich, daß ich von ihm niemals
etwas würde erwarten können. Keine Freundschaft. Kein
Verständnis. Bis dahin dachte ich noch, daß ich Kinder
mochte. Aber dieses Kind haßte ich, seine Arroganz, seine
Kälte. Und ich hoffte, daß mein eigener Sohn einmal
anders werden sollte.
Aber ich sorgte mich zu Unrecht. Mein Sohn wurde nicht wie sein
Neffe. Mein Sohn wurde ein Monster.
Ich sehnte mir den Tod des
Königs herbei, aber ich tötete ihn nicht. Nachdem ich ihm
den ersehnten Sohn geschenkt hatte - geschenkt ist ein schönes
Wort dafür! - sah ich ihn nur noch selten, und ich mußte
nie wieder mit ihm schlafen. Aber seine Kälte war immer noch
in meinem Körper, und ich lebte wie eine Gefangene in meinem
Zimmer - die Bibliothek war wieder ein verbotener Ort, nachdem der
kleine Halan seinem Großvater berichtet hatte, daß ich
mich ungebührlich verhalten und ein Buch in Gefahr gebracht
hatte… Ich war wieder allein mit mir und meiner Wut, selbst
meinen Sohn hatte man mir fortgenommen, damit seine Erziehung
allein in engelsgeborenen Händen lag. So hoffte ich auf den
Tod des Königs, der mir die Freiheit zurückgeben sollte.
Ich hoffte es, aber ich betete nicht mehr. Die Jahre im
Schloß hatten mich schnell den Glauben an alle Engel
verlieren lassen. Und der Himmel über meinem Fenster war auch
nicht mehr als ein großes blaues Loch.
So starb der König endlich, anderthalb lange Jahre, nachdem
ich seinen Sohn geboren hatte - und ich war glücklich. Als die
Totenmagd seinen Körper im Nilomar versenkte, stand ich am
Rand und konnte kaum anders, als vor Freude zu strahlen. Auch als
alle anderen zurück in die Halle gingen, um den Totenschmaus
einzunehmne, blieb ich am Abgrund, bis ich gesehen hatte, daß
die schweren Steinplatten ihn wieder zudeckten. Bis ich sicher war,
daß er niemals wieder zurückkommen konnte. Bis ich frei
war. Meine Taschen standen gepackt neben meinem Bett. Ich konnte
dieses Haus leichten Herzens verlassen, konnte sogar meinen Sohn
zurücklassen, denn er kannte mich kaum und nannte mich nicht
Mutter; ich sehnte mich danach, meine Eltern wiederzusehen,
war sogar bereit, ihnen zu vergeben - doch die Entscheidung lag
nicht in meiner Hand. Ich war nicht frei, und ich durfte den Palast
nicht verlassen. Von nun an nannte man mich Königswitwe, es
war ein neuer Titel, und eine neue Einsamkeit.
Als Königswitwe verlor ich die einzige Macht, die ich jemals
besessen hatte: Die Schlüsselgewalt oblag nun der neuen
Königin. Desara war meine Steifschwiegertochter - seltsamer
Rang für eine Frau, die fast zehn Jahre älter war als
ich. Und als ob es nicht ausreichte, daß sie mit einem Mann
verheiratet war, gegen den ich meinen zehnmal hätte
eintauschen mögen - nun war es auch an ihr, die Diener und
Knechte und Köche zu beaufsichtigen, in den Bett zu schlafen,
das eben noch meines war, und das Leben zu leben, das ich eben noch
nur allzu gern abgeben wollte.
Sicher konnte sie nichts dafür, sie hatte ihr Leben
ebensowenig gewählt wie ich das meine, und bis zu diesem Tag
hatte sie von allen Frauen im Haus die unbedeutendste Rolle
gespielt. Aber der Moment, in dem wir uns in unserem Schicksal
hätten verbünden können, war ungenutzt verstrichen,
und nun war es zu spät. Eigensucht mag schändlich sein,
aber nun war sie alles, was mir noch blieb. Und so entschied ich
mich dafür, sie nur als Rivalin zu sehen und zu hassen. Als es
mir schlecht ging, hatte sie mir schließlich auch
nicht geholfen - hatte mich zu Jahren der Einsamkeit verdammt. Ich
war nicht bereit, ihr irgend etwas zu gönnen. Aber ich war
nicht mehr in der Position, ihr etwas entgegenzusetzen. Ich mochte
die zweitmächtigste Frau von ganz Koristan sein, doch dieser
Titel war nichts wert.
Ich brauchte lange, um zu erkennen, daß meine neue Situation
auch Freiheiten mit sich brachte, von denen eine verheiratete Frau
wie Desara nur träumen konnte: Zwar war es mir verwehrt,
jemals wieder zu heiraten - als ob ich das gewollt hätte -
aber niemand schrieb mir mehr vor, mit wem ich mein Lager zu teilen
hatte.
Der Hauptmann der Schloßwachen warf ein Auge auf mich, als
ich im Park unter einem Baum saß und mir vor Wut die Augen
aus dem Kopf heulte. Wobei er dieses Auge wohl schon viel
früher auf mich geworfen haben mußte - aber an diesem
Tag sprach er mich an. Ich dagegen hatte ihn nie eines näheren
Blickes gewürdigt; der einzige Mann, den ich bereit war, in
meine Träume einzuschließen, war mein Stiefsohn.
»Was soll das denn geben? Im Teich ist doch schon genug
Wasser! Eine schöne Frau muß doch nicht
weinen!«
Im ersten Moment war ich nur bestürzt. Diese Direktheit traf
mich, und ich fühlte mich verletzlich, angreifbar und
angegriffen. »Das geht Euch nichts an!« fauchte ich.
»Denkt daran, wo Euer Platz ist!«
Er lachte nur, setzte sich ins Gras, schlug die Beine
übereinander, und lachte. »Ich kenne meinen Platz - hab
hart dafür gearbeitet und bin ganz zufrieden damit. Das
Problem ist Euer Platz, nicht wahr? Weil Ihr keinen
habt.«
»Laßt mich allein!« schrie ich. »Sprecht
nicht so mit mir! Seht Ihr nicht, daß ich allein sein
will?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Ihr habt schon
genug Alleinsein. Und bei so einer schönen Frau ist das doch
wirklich ein Jammer.«
Da tat er es schon zum zweiten Mal - nannte mich schön. Wann
hatte mich je ein Mann schön genannt? Noch nie, und ich
hatte es nie vermißt. Lieber wollte ich klug sein als
schön - aber in diesem Moment berührte es mich. Das war
ein einfacher Mann, nicht ohne Einfluß, aber ohne Bildung -
es war ihm egal, wie klug eine Frau war, aber ihre Schönheit
bedeutete ihm etwas. Und das, was ihm wichtig war, sah er in mir?
Ich mußte fast ein wenig lächeln, aber dann sah ich mein
Spiegelbild im Wasser, und ich wußte, daß er log.
»Ich bin nicht schön!« spie ich ihm entgegen.
»Ich habe geheult, ich sehe schrecklich aus.«
Ich erwartete, daß er wieder lachen würde, und ich
mochte sein Lachen irgendwie, doch er nickte und sagte:
»Stimmt. Keine Frau ist schön, wenn sie weint - sonst
wäre es ja auch schlimm, und alle Männer wären recht
Schweine. Darum will ich ja, daß ihr damit aufhört. Ihr
seid schöner, wenn Ihr zornig seid.«
Ich biß die Lippen zusammen. »Das könnt Ihr bald
haben, wenn Ihr weiter so mit mir redet.«
»Gut«, sagte er. »Dann haben wir ja beide, was
wir wollen.«
Gegen meinen Willen mußte ich nun doch lachen. Der Hauptmann
war so anders als die Engelsgeborenen, und er gefiel mir. Kein
schöner Mann, sondern gutaussehend, und nur wenige Jahre
älter als ich. Und als erster Mann behandelte er mich nicht
wie eine Herrin und nicht wie ein Insekt, sondern wie eine
Frau.
»Und jetzt«, sagte er und reichte mir seine
braungebrannte kräftige Hand, »verrätst du mir, wie
ich dir aus deiner Einsamkeit helfen kann…
Königswitwe.«
»Aralee«, rief ich. »Ich heiße
Aralee.« Aber ich nahm seine Hand nicht. Ich fiel ihm ganz um
den Hals. Er roch nach Rauch und Schweiß. Ich mußte an
den König denken, der nun tot war - ich konnte nicht sagen,
wonach er gerochen hatte. Nach nichts. Sie waren wirklich nicht wie
Menschen. Aber ich war ein Mensch, und der Hauptmann war einer -
und ich begriff, daß ich ihn brauchte.
»Ist ja schon gut«, sagte er und strich mir durch das
Haar. »Ich bin Jurik, was das betrifft. Und von mir aus
kannst du ruhig noch weiterheulen, wenn es dir damit besser geht.
Ansonsten… weiß ich einen netten Ort, wo wir hingehen
können.«
Danach ging alles sehr schnell, aber ich unternahm nichts, um es
künstlich herauszuzögern. Vielmehr stürzte ich mich
auf die Geborgenheit, die er mir bot, ; ich war ausgehungert nach
Gefühlen, nach Zuneigung, dass ich bereit war, mich an jeden
Strohhalm zu klammern. Gleichzeitig wußte ich, daß ich
vorsichtig sein mußte - die konnte die Beziehung zu Jurik
haben, aber sie durfte nicht bekannt werden. Ich wollte nicht,
daß man sich über mich das Maul zerriß: Was immer
auch geschehen mochte, ich war immer noch die Königswitwe. Ich
konnte mit ihm schlafen, aber ich durfte nicht schwanger werden,
unter keinen Umständen, und wollte es auch nicht. Meine erste
Schwangerschaft war schlimm genug gewesen: Ein Kind auszutragen,
auf das ich mich nicht freuen konnte, ein Kind, das nichts war als
die Erfüllung einer verhaßten Pflicht - nein, ich wollte
niemals wieder ein Kind kriegen müssen. Und Jurik stimmte mir
dort zu - er wollte auch kein Kind. Auch wenn es natürlich an
mir war, darauf achtzugeben, daß nichts geschah. Und so
blieben wir vorsichtig, und liebten uns im Geheimen.
Wenn es denn Liebe war.
Ich glaubte erst, er liebte mich - oder wollte es zumindest
glauben. Doch er liebte jemand anderen mehr als mich, und das war
er selbst. Mich liebte er wie ein Schmuckstück, wie eine
Trophäe, etwas, das ihm jenen Glanz verleihen sollte, der ihm
fehlte. Er gab mir eine fremde Art von Geborgenheit, doch er machte
mich such einsam, und er zog die Kerkerstangen noch enger um mich.
Was uns verband, war unser Ehrgeiz und unser Stolz. Was uns
trennte, waren Welten.
Er war ein guter Schwertkämpfer und seinen Männern ein
großartiger Anführer. Ich aber wollte nicht
angeführt werden, und ich interessierte mich nicht für
Schwerter. Er mochte Verstand haben, aber meine Bildung war nicht
seine, und was am Ende blieb, war eine Bauernschläue, die mir
nicht das Wasser reichen konnte. Wir schliefen miteinander, doch
wir sprachen nicht, und wenn ihm das genügen sollte, so machte
es mich nur um so trauriger. Schlafen konnte er auch mit jeder
anderen Frau - warum sollte es dann gerade ich sein?
Egal wie ich es auch drehen mochte, er liebte sich selbst mehr als
mich. Sein gutes Aussehen, seine Laufbahn, seine Truppe - all das
war ihm wichtiger, und ich litt darunter wie eine gepflückte
Blume - sollte ich verblühen, sollte ich eingehen, ehe ich
auch nur zwanzig war? Doch dann, eines Morgens, erwachte ich, und
es machte mir nichts mehr aus. Sollte Jurik sich lieben, soviel er
wollte - es war nur gerecht. Denn was war mit mir? Liebte ich nicht
auch mich selbst mehr als ihn?
Liebte ich ihn überhaupt?
Nein.
Es war das freieste Nein meines Lebens. Es machte mich beinahe
glücklich. Ich konnte ihn benutzen, so wie er mich benutzte.
Auf eine Weise verdienten wir einander, mehr nicht und weniger
nicht, aber viel weniger war kaum möglich. Ich wollte ihn
nicht mehr lange behalten, ich verdiente Besseres im Leben, und ich
würde es finden - aber bis dahin sollte er mir gut genug
sein.
Nur wie ich ihn wieder loswerden sollte, wußte ich nicht so
recht - ich konnte ihm nicht ins Gesicht sagen, daß er mir
nichts bedeutete, ich konnte mich auch nicht in aller Stille von
ihm trennen; solange wir uns im gleichen Schloß bewegten,
würden sich unsere Wege nur allzu oft kreuzen, und ich war
nicht mehr in der Position, ihn einfach als Hauptmann zu entlassen.
So blieb ich bei ihm, aus Feigheit, aus Hilflosigkeit, und mit
jedem Tag verachtete ich ihn mehr, und mich ein kleines
bißchen mit.
Heute weiß ich, ich hätte mit ihm reden müssen.
Aber das sagt sich so leicht, und hinterher ist man immer schlauer.
Ich wollte Konflikte vermeiden, ich wollte nicht die Eitelkeit
eines Mannes verletzen, der aufbrausend sein konnte und der sein
geliebtes Schwert nur selten ablegte und niemals aus der Hand gab -
wovor hatte ich Angst? Sollte er mir den Kopf abschlagen? Aber mir
hätte schon gereicht, wenn er herumbrüllte, wenn er mich
anschrie - und so zögerte ich das Ende immer weiter
hinaus.
Am Ende war es Jurik selbst, der den Samen für seinen
Untergang in mir säte. Zu seinen schlechten Eigenschaften
gehörte neben seiner Eitelkeit auch seine Eifersucht. Er
wollte mich für sich allein haben, was an sich schon
lächerlich war, den ich gehörte immer noch zu aller erst
mir allein selbst und dann dem verstorbenen König und seinen
Ritualen.
»Es ist wirklich nicht mehr zum Aushalten, wie er dich immer
ansieht!« schnaubte er an einem Abend. Ich glaube, er hatte
zuviel getrunken - das kam zwar nicht häufig vor, aber es war
unangenehm genug, er legte dann viel von seinem Charme ab und wurde
sehr gewöhnlich, und seine Gegenwart war unangenehmer als
sonst.
Ich seufzte kurzangebunden. »Wen immer du diesmal meinst -
es ist immer noch leichter zu ertragen als deine ständige
Eifersucht.«
»Das glaube ich nicht! Diesmal nicht! Ich habe ja keine
Angst vor Hinz und Kunz, aber bei dem -«
»Wer denn?« schnappte ich wütend, kurz davor, ihn
in seinem kargen Zimmer sitzenzulassen und in mein eigenes
zurückzukehren. Aber was er dann sagte, ließ mich
stutzen.
»Wer schon? Der König! Ich habe ihn dir nachsteigen
sehen, andauernd, das war doch kein Zufall mehr…« So
redete er sicher noch eine Zeitlang weiter, aber ich hörte nur
noch mit halbem Ohr zu.
»Das wirst du dir einbilden«, murmelte ich.
»Für den bin ich nur ein dummes kleines
Mädchen.« Wenn der König wirklich Interesse an mir
hatte… In mir keimte eine Idee.
Jurik konnte keine Gedanken lesen - niemand konnte das mehr, seit
der König gestorben war; das war das Beste an seinem Tod.
Meine Gedanken gehörten mit allein. Und auch meine
Pläne.
Es war nicht meine Absicht, einen
Mord zu begehen, geschweige denn zwei. Ich kann mir niemanden
vorstellen, der gerne ein Mörder sein möchte, und doch
geschieht es immer wieder - man muß nicht böse sein, um
zu morden. Man muß nur den Augenblick verpassen, an dem man
die Kontrolle über die Entwicklung der Dinge verliert. Danach
geht alles von allein, und man kann nichts mehr dagegen tun.
Bei mir war es der Moment, in dem ich beschloß, daß
ich den König haben wollte. Zwei Personen standen zwischen mir
und meinem Ziel - Jurik und Desara. Ich mußte sie beide
loswerden, und das Naheliegendste war, den einen für den
anderen zu benutzen. Loswerden, nicht umbringen, aber es
geschah.
Niemand wußte, daß Jurik und ich ein Paar waren, aber
daß er ein Held bei den Frauen war, sollte kein Geheimnis
sein. Ich glaube nicht, daß er andere Frauen hatte,
während wir zusammenwaren - sonst hätte ich ihn
längst umgebracht, erschlagen mit eigenen Händen. Aber es
gab genug Frauen vor mir, und genug Frauen, die ihn immer noch
anhimmelten - das Interesse an ihm war so groß wie an kaum
einem Mann am Hofe, vom König einmal abgesehen. Das machte ihn
zu meiner ersten Wahl, völlig unabhängig von unserer
Beziehung. Er war nur ein Werkzeug, mehr nicht. Nichts
persönliches - das machte es einfacher.
Ich begann mit Gerüchten. Immer nur unauffällig und
beiläufig, so daß niemand mehr sagen konnte, daß
es einmal mit mir angefangen hatte - in der Küche, bei den
Waschfrauen, Schwanenpflegern, hier und dort - allzu lang war ich
die Herrin dieser Menschen gewesen, nun kannte ich sie und konnte
mich zwischen ihnen bewegen, ohne aufzufallen. Wirkte die
Königin nicht viel jünger, seit sie… War es nicht
irgendwie ungebührlich… Wer von den beiden war denn nun
der Glückspilz, er oder sie… Kann es vielleicht sein,
oder bilde ich mir ein…
Es machte Spaß, auf gewisse Weise. Ich hatte wieder Macht -
daß es die Macht über Leben und Tod war, begriff ich
nicht. Ich kann mich nicht herausreden. Ich war lang genug mit
einem König verheiratet, um zu wissen, was eine Ehebrecherin
erwartete. Ich mußte wissen, daß ich Desaras Tod
vorbereitete. Keine Entschuldigungen.
Was Jurik anging, so hoffte ich vielleicht wirklich nur, daß
man ihn in Schande entlassen und davonjagen würde - aber ich
nahm alles gerne in Kauf. Die einzige Frage, die ich mir dabei
ernsthaft stellte, war, ob der König wirklich an mir
interessiert war… Doch er war es. Jurik sollte
tatsächlich Recht behalten, was das anging.
Bald tuschelte und tratschte das ganze Schloß. Aber das
reichte nicht; das waren nur Gerüchte, keine Beweise. Nur
für Gerüchte würde kein Mann seine Frau enthaupten.
Doch auch Beweise waren leicht zu finden: Erst überlegte ich,
Wäschestücke von ihm in ihrem Zimmer zu verstecken, doch
selbst wenn ich noch einen Schlüssel für ihr Zimmer hatte
aus der Zeit, da es meines war, und selbst wenn ich ihm unbemerkt
ein paar Hosen stehlen konnte - kein Mann würde jemals so
dämlich sein, seine Hosen im Bett seiner Geliebten zu
vergessen, und keine Frau, dies zu übersehen. Ich durfte nicht
plump vorgehen…
Und so entschied ich mich für Haare. Juriks waren etwas
dünn, und von einem hübschen Rotbraun - und man konnte
sie wirklich nicht mit den kräftigen schwarzen Haaren des
Königs verwechseln. Ich nahm nur ein paar - ein Mann, der in
einer Liebesnacht büschelweise Haare zurückließ,
mußte bald kahl wie ein Gänseei sein. Nur ein paar
Haare, und ich versteckte sie in den Ritzen ihres Bettes und im
Innern ihres Kopfkissens, dort, wo sie es nicht merken würde,
doch der König sie finden, wenn er danach suchte… Und
er fand sie.
Ein Mann, der seine Frau liebt, sollte immer ihr zuallererst
Glauben schenken und nicht ein paar lumpigen Haaren, er sollte sich
denken, daß auch jede Zofe versuchen konnte, sich im Zimmer
ihrer Herrin zu vergnügen, oder daß es eine andere
freundliche Erklärung gab. Aber der König wollte lieber
Gerüchten und Haaren glauben. Da wußte ich, daß
ich gewonnen hatte. Er liebte sie nicht, oder nicht mehr. Er war
bereit, mich zu begehren. Wenn er mein Spiel durchschaute, was ich
gerne glauben will, so spielte er es doch immer mit. Er liebte mich
für meine Jugend, meine Schönheit - aber sicher liebte er
mich auch für meine List.
Es sollte keinen Skandal geben bei Hofe. Es gab zwei Verhaftungen,
es gab einen kurzen Prozeß, und dann, noch vor der
Hinrichtung, waren plötzlich alle Gerüchte, alle
bösen Stimmen verstummt. Nicht aus Pietät, Angst oder
Rücksicht - ein Gerücht ist nur so lange interessant, wie
es nur ein Gerücht ist.
Ich nahm nicht am Prozeß teil, nicht an der Hinrichtung, und
nicht an der Beisetzung. Ich hätte es nicht ertragen, Desara
gegenüberzustehen, ihr in die todgeweihten Augen zu blicken
und zu wissen, daß es meine Schuld war. Ich bin eine
Mörderin, aber ich bin kein Scheusal. Und erst recht
hätte ich es nicht ausgehalten, Jurik wiederzusehen, lebendig
oder tot. Ich war froh, daß er nicht hingerichtet wurde. Es
war nicht meine Schuld. Nach dem Prozeß erhängte er sich
in seiner Zelle - es war seine eigene Entscheidung. Nicht meine,
und nicht meine Schuld. Ich ging nicht zu seiner Beisetzung.
Aber ich saß am Teich und weinte um ihn.
Ich hatte eine harte Entscheidung
getroffen, aber die Folgen schienen mir Recht zu geben: Mein Leben
verbesserte sich fast über Nacht. Ich erhielt mein altes Reich
zurück, meine alten Rechte, meinen Hofstaat. Ich war immer
noch die Königswitwe, doch ich hatte wieder einen Platz. Ich
war wieder eine Geliebte, doch diesmal auf einer anderen Basis; ich
konnte meinen Mann lieben, ohne mich ihm ständig
überlegen fühlen zu müssen. Und ich hatte sogar
wieder so etwas wie eine Familie.
Mein Sohn war jetzt vier Jahre alt, und ich kannte ihn kaum. Da er
von seinem Halbbruder aufgezogen wurde, hatte er in den vergangenen
Jahren Desara mehr gesehen als mich. Nicht, daß sie ihm wie
eine Mutter war - immerhin ließ man sie kaum bei ihrem
eigenen Sohn mitreden - und doch erfüllte es mich mit
Genugtuung, daß sie nicht mehr da war.
Dorn in meinem Fleisch war nur Halan, der mich immer seltsam
anblickte, als wisse er, was ich getan hatte. Aber er wußte
es nicht. Konnte es nicht wissen. Und auch wenn ich nun als
Mörderin lebte, ich konnte ihm nichts tun. Er war nur ein
Kind. Selbst wenn er doch zuviel wußte oder zumindest ahnte -
niemand würde ihm glauben. Er konnte froh sein, daß sein
Vater ihn nach dem Prozeß öffentlich als Sohn
anerkannte! Das ist mehr, als er verlangen durfte.
So verging die Zeit, so vergingen die Jahre, und ich wurde immer
freier. Weiterhin war ich eine Gefangene des Palasts, aber Koris
ließ mich die Bibliothek nutzen. Ich las Bücher
über Heil- und Kräuterkunde und fand in ihnen meine
Leidenschaft. Bald hatte ich einen kleinen Garten, mein eigenes
Reich, das niemand außer mir auch nur betreten durfte, bald
trocknete ich Kräuter in meinem Zimmer -
Bald wurde Koris’ Chronist krank und mußte sein Amt
aufgeben. Ich bot mich an, doch die Wahl fiel zunächst auf
einen anderen; auch er blieb nicht lang. Ich hatte nicht den
Wunsch, eine Chronistin zu sein, die erste Frau in einer endlosen
Reihe von Männern, aber ich wußte, daß und wo ich
vorsichtig zu sein hatte. Ein Chronist kam den König zu nahe
und konnte zuviel herausfinden; unsere Liebe aber mußte das
Geheimste aller Geheimnisse bleiben. Es war der Hintergrund meiner
anderen Geheimnisse, und zugleich ihr Schutz.
Ich war glücklich an Koris’ Seite, und ich hatte auch
kein schlechtes Gewissen wegen meiner Taten - wenn ich daran
überhaupt jemals dachte, dann erschien es mir, als habe ich
meine Strafe längst erhalten: Sie lag in den Jahren, die den
Morden vorausgegangen waren. Solange ich nicht zurückgeben
wollte, was mir die beiden Toten erkauft hatten, konnte ich auch
nichts bereuen. Und damit ging es mir gut.
All die Jahre über blieb ich im Schloß, doch nun, da es
meines war, verspürte ich kaum noch den Drang, es zu
verlassen. Ich hatte mein Reich, meine Gärten, meine
Bibliothek, meine Familie. Doch als ich einen Brief von meiner
Mutter bekam, daß mein Vater im Sterben lag, begriff ich,
daß es nun auch endlich an der Zeit war, mit diesen beiden
meinen Frieden zu machen.
Mit wurde ganz schlecht bei dem Gedanken. Meinen Eltern hatte ich
niemals etwas vorgespielt - wenn es irgend jemanden gab, der meine
Masken durchschauen würde, waren sie es. Keine Engelsgeborenen
die sich nur auf ihre Gaben verließen und verlernt hatten,
einem Menschen in die Augen zu schauen, sondern gewöhnliche,
aber kluge Leute…
Ich konnte Koris nichts von meinen Sorgen erzählen,
natürlich nicht, aber er willigte sofort ein, mich in mein
Elternhaus reisen zu lassen. Ich mußte ihm nicht
erzählen, daß ich mich bereits vor Angst übergeben
hatte. Und so kehrte ich heim, beinahe doppelt so als wie bei
meiner Abreise vor dreizehn Jahren, und die Fahrt erschien mir
ebenso lang. Doch zumindest mein Vater konnte mich nicht mehr
durchschauen. Er war bereits tot, als ich ankam, und das traf mich
ebensosehr wie es mich tröstete. Zu vieles hätte ich gern
mit ihm besprochen, als erwachsene Frau und ohne Wut - nun blieb
nur noch meine Mutter. Ich sah sie, und die Übelkeit kehrte
zurück. Alles, was ich in den vergangenen Jahren in mich
hineingefressen hatte, alles, was ich besiegt glaubte, wütete
in mir und wollte hinaus.
Ich schrieb an Koris, daß ich noch eine Weile bei meiner
Mutter bleiben würde, weil sie mich nun so dringend brauchte -
und so blieb ich, und das war gut. Denn schnell begriff ich,
daß meine Übelkeit nichts mit meiner Vergangenheit zu
tun hatte, sondern mit meiner Zukunft. Ich erwartete ein Kind.
Es traf mich wie ein Schock. Ich war schwanger und durfte es nicht
sein. Ich war schwanger von Koris. Von Koris, dem ich kein Kind
gebären durfte. Ebenso, wie die Frau eines Engelsgeborenen
niemals untreu sein durfte, mußten auch die Engelsgeborenen
selbst an sich halten - es durfte keine engelsgeborenen Bastarde
geben. Niemals. Wurde ein solches Kind geboren, war dies ein
Todesurteil. Zumindest für das Kind. Und in den meisten
Fällen auch für die Mutter.
Sollte das meine Strafe sein? Die Schwangerschaft wurde erst
möglich durch den Mord, alles schien zum anderen zu passen,
und ich saß in der Falle. Immer hatte ich versucht zu
verhüten, hatte Kräuter gekocht, die mich unfruchtbar
machen sollten, doch nun war es zu spät. Ich hätte den
Sud wohl besser Koris eingeflößt…
Doch es half nicht. Ich war schwanger, und was auch immer ich zu
denken versuchte, ich mußte das Kind bekommen, und es
mußte leben. Wir mußten beide leben. Ich konnte Desara
dem Henker ausliefern, ich konnte Jurik in den Tod schicken, doch
ich konnte nicht dieses Leben auslöschen, das ich in mir
fühlte. Diese Gedanken allein machten mich schon zur
Mörderin.
Ich haßte es schwanger zu sein. Hatte es beim ersten Mal
volle neun Monate lang gehaßt, und daß hier zumindest
schon die ersten zwei oder drei Monate hinter mir lagen, machte es
nicht besser. Aber zumindest war dies das Kind des Mannes, den ich
liebte. Ich durfte es nicht haben. Aber es sollte ein prachtvolles
Kind werden.
Und ich bekam sie, heimlich, unterstützt von meiner Mutter.
Sie wußte nichts von meiner Vergangenheit, wußte nichts
von dem Mord, wußte nur, daß ich ihr Kind war, und
daß ich ihre Hilfe brauchte. Und sie wußte, daß
meine Tochter leben mußte.
Mehr als sieben Monate lang blieb ich bei meiner Mutter, bis ich
das Kind entbunden hatte und nach Koristan zurückreisen
konnte, ohne daß Koris oder sonst jemand Verdacht
schöpfen würde. Meine Mutter versprach, sich danach um
die Kleine zu kümmern, meine süße, engelsgeborene
Tochter mit den unheimlichen Augen, und wir beide liebten sie. Mehr
als jeden anderen wollte ich sie lieben. Mehr als mich selbst. Und
auch mehr als Koris.
Anfangs schrieb Koris mir alle paar Tage, dann alle paar Wochen,
und fragte, wann ich zurückkommen wollte, und ob es meiner
Mutter besser ging, und daß ich es mir nicht so zu Herzen
nehmen solle, und er wisse, wie es war, den eigenen Vater zu
verlieren - aber er wußte nichts, und als seine Briefe
seltener wurden, begriff ich, daß er mich verraten und
betrügen würde. Doch in dem Moment nahm ich das in Kauf.
Die Vorstellung, was er meiner Tochter antun würde, wenn er
nur von ihrer Existenz erfuhr, setzte meiner Liebe zu ihm einen
Dämpfer auf. Sollte er mich nur betrügen, sollte er nur
eine arme Zofe verführen, er würde schon noch meiner
sein, wenn ich zurückkehrte. Ich war gelassen. Ich konnte
nicht ahnen, mit wem er mich wirklich betrügen sollte.
Es sollten Jahre vergehen, bis ich die Wahrheit erfuhr, so
ungeheuerlich, daß sie nur einem kranken Herzen und einem
ebenso kranken Verstand entspringen konnte. Und so argwöhnisch
ich auch beobachten mochte, wie Koris mit meinen Hofdamen oder
seinen Dienerinnen sprach, nie war es mir ferner zu begreifen, was
in Wirklichkeit hinter meinem Rücken vorging. Ja, mein
Geliebter betrog mich, andauernd und fortwährend. Aber die
Person, mit der er mich betrog, war sein eigener Bruder, und mein
eigener Sohn.
Es gibt keine Worte für mein Entsetzen, als ich es erfuhrt,
durch den gleichen Umstand, mit dem ich seinerzeit Desara der
Unzucht mit Jurik überführt hatte: Durch Haare auf dem
Kissen, durch Gesten und Blicke - es war subtil, sehr subtil, und
nur weil ich Koris besser als jeder andere zu kennen glaubte,
bemerkte ich es überhaupt. Und ich begriff auch, daß ich
ihn nicht kannte, noch nie, niemals. Betrog mich mit einem Kind!
Ich war eine erwachsene Frau, gereift, schön, mein Sohn
dagegen ein Kind von elf Jahren, als es begann - was war das
für ein Tausch? Es konnte kein Tausch sein, kein Ersatz. Koris
konnte Anders nicht lieben, nicht um seiner selbst Willen, denn da
gab es nichts zu lieben - Koris liebte ihn nur ob seiner
Ähnlichkeit. Er liebte nicht seinen Bruder. Er liebte sein
Spiegelbild.
Da begriff ich, daß ich ihn haßte.
Ich behielt mein Wissen, diese abscheuliche Wahrheit, für
mich, obwohl es mehr als einen Moment gab, wo ich sie Koris
hätte entgegenspeien mögen. Aber was sollte dann kommen?
Was half mir mein Wissen? Nichts half es. Es brachte mich nur in
Gefahr. Was sollte Koris tun? Mich auslachen. Fallenlassen. Und
zerstören. Ich war hilflos.
Wieder floh ich dem Palast, floh zu meiner Mutter, zu meinem Kind,
doch nicht für lange - die Wahrheit jagte mich, trieb mich um.
War nicht auch Anders mein Kind? Konnte, durfte ich ihn allein
lassen mit einem Mann, der ihn auf sein Lager zerrte und es Liebe
nannte? So kehrte ich schon nach wenigen Tagen nach Koristan
zurück, getrieben von Abscheu, Furcht und Schuld. Doch ich kam
nicht allein - meine Tochter nahm ich mit, denn ich merkte, wie
sehr das Alter nach meiner Mutter griff und es ihr immer
beschwerlicher wurde, sich um die Kleine zu kümmern. Aber da
ich nun Koris’ Aufmerksamkeit nur noch hatte, wenn ich sie
mir gegen meinen Sohn erkämpfte, war es mir ein Leichtes,
meine Amra unbeachtet im unteren Keller unterzubringen. In fremde
Hände wagte ich sie nicht zu geben - niemandem konnte ich
vertrauen, und ihre Augen straften jede Ausrede Lügen. Wer in
ihr Gesicht sah, erblickte den Elomaran Korisander, schon in ihren
ersten Lebensjahren. So hielt ich sie im Keller, verbrachte Zeit
mit ihr, wann immer es mir möglich war - sie war nur noch ein
Geheimnis von vielen. Derweil begann ich mit den Vorbereitungen
für meinen nächsten Mord.
Es fiel mir nicht schwer, Koris zu töten, aber es langsam zu
tun. Jeden Tag, den er weiterlebte, war ein Tag, an dem er sein
entsetzliches Treiben fortführen konnte, doch es mußte
langsam geschehen. Ich schwächte sein Herz mit schleichendem
Gift, bis es ihm irgendwann versagen sollte - sein Herz
anzugreifen, erschien mir recht und billig, war es doch in seiner
maßlosen Selbstverliebtheit das Entsetzlichste an ihm. Ich
war bereit zu warten, viele Jahre, wenn es sein mußte - sein Ende war gewiß, und es lag ganz in meiner Hand. Lächelnd
konnte ich an seiner Seite sitzen, ihm eine Medizin brauen, die
sein Leben nicht verlängern, sondern vielmehr seine Tage
zählen sollte. Und es gefiel mir, langsam mein Werk wirken zu
sehen.
Anstrengung begann ihn zu schmerzen. Nun war zwar körperliche
Arbeit noch nie die Aufgabe eines Engelsgeborenen, doch er war
gezwungen aufgeben, was er sonst liebte - das Reiten, aber auch den
Beischlaf. Ich wußte, daß er nicht damit aufhören
würde - und das sollte ihm, eines Tages, irgendwann,
töten. Und bis dahin würde es ihn zumindest jedes Mal
schmerzen, jedes Mal ein wenig mehr.
Mein böser Plan ging auf, und doch war ich gezwungen, ihn zu
ändern, und es war mein Opfer selbst, das mich dazu zwang. Mit
allem hatte ich gerechnet, doch nicht damit, daß Koris sein
Kind im Keller finden konnte. Sie hielten sich von den
schäbigen Kellerräumen fern, das wußte, das glaubte
ich, bis Koris beschloß, eine große Tat vor seinem
nahenden Tod zu vollbringen, und die königliche Bibliothek zu
retten vor Feuchtigkeit, Schimmel und Verfall. Gemeinsam mit seinem
ihm emsig ergebenen Bruder ging er zu Werk, ohne daß ich ihn
zurückhalten konnte, packte Bücher in Kisten und
räumte sie an einen vermeintlich sicheren Ort - einen
ungenutzten Raum im Unterkeller. Und so sicher dieser Ort auch
wirklich für die Bücher sein mochte,; der Gedanke,
daß sich Koris plötzlich tagtäglich in der
unmittelbaren Nähe meines geheimen Kindes aufhielt, ließ
mich schweißgebadet aus dem Schlaf schrecken.
Es war zu spät, um Amra an einen anderen Ort zu bringen - die
Flure des Kellers waren nicht mehr sicher, auch nicht für
mich, die ich mich dort nicht sehen lassen konnte, ohne Fragen
aufzuwerfen. Es gab nur noch die Flucht nach vorn: Koris
mußte sterben, nicht in drei Jahren, nicht im nächsten
Jahr, sondern sofort.
Sollte ich ihn so leicht davonkommen lassen? Sollte ihm sein
schleichender, quälender Tod erspart bleiben, er einschlafen
wie weiland sein alter Vater und nicht mehr aufwachen? Nein. So
leicht wollte ich ihn nicht davonkommen lassen. Seine eigenen
Bücher bargen den Schlüssel zu seinem Tod, dem
schrecklichsten aller Enden.
Erst danach erkannte ich meinen Fehler. Und, daß das Morden
niemals ein Ende nehmen sollte.
Ich bin Aralee, die Königswitwe, Mutter und Mörderin.
Dies ist meine Chronik. Niemand wird sie jemals lesen.
Das Morden geht weiter.
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