Erstes Kapitel

Draußen sangen die Vögel. Halan hatte gelernt, ihrem Lied zu lauschen - er konnte sie an ihren Stimmen unterscheiden. Nicht nur Amsel von Rotkehlchen, sondern Amsel von Amsel. Sie waren keine Freunde geworden, Halan und die Vögel, doch sie kannten einander. Es war friedlich, weil es schön war, und schön, weil es friedlich war. Halan hörte den Vögeln gerne zu. Über den Winter hatte er begonnen, ihre Lieder aufzuzeichnen. Es sollte eine eigene Chronik werden. Die erste Chronik des Waldes. Halan wußte, daß der Wald keine Chronik brauchte. Aber Halan brauchte sie.
Nun war der Winter vorbei, und Halan war froh darum. Nicht nur, weil jeder Winter hart war, und erst recht einer, den man fern der Heimat verbringen mußte - das war für Halan nichts Ungewöhnliches, soviel hatte er reisen müssen, um Bücher abzuschreiben - sondern vor allem, weil ein neuer Frühling ein neues Jahr brachte. Und damit konnte alles nur besser werden. Schlimmer ging es zumindest nicht.
Aber jetzt war es Frühling, die Luft war frisch und duftete, und an keinem Ort auf der Welt konnte man es besser spüren als hier in Indiradin, dem Land des Waldes - in Koristir merkte man es kaum, wenn der Winter ging und der Frühling kam: Irgendwann war es in der Bibliothek nicht mehr so kalt, das war alles. Doch hier war soviel Frühling, daß man sich nicht mehr wundern mußte, wenn für den Rest der Welt nur noch so wenig davon übrig blieb. Die Bäume, eben noch bedrohlich in ihrer kahlen Düsternis, trugen nun zarte Knospen und noch zartere Blüten. Es war schön. Und es gab sonst nicht mehr viel Schönes in Halans Leben.
Draußen unter einem Baum in schneeweißer Blüte lag Anders und schlief, so entspannt, so friedlich, daß Halan immerzu zu ihm hinblicken mußte. Sein Gesicht war so entspannt und glücklich - träumte er gerade? Und träumte er gut? Von seinem Platz am Fenster aus nahm Halan nicht die Augen von ihm, bereit, hinauszustürmen, wenn der Wind sich drehte und die Schatten brachte. Denn der eigentliche Grund für die Härte dieses Winters war Anders, Anders ganz allein. Und daß er jetzt dort so ruhig lag und schlief…
»Hübsch, nicht wahr?« Juriks Stimme hinter ihm ließ Halan hochschrecken. »Er macht sich gut. Ich bin richtig stolz auf mich.«
»Das könnt Ihr von mir aus«, sagte Halan abwesend. Er wollte sich nicht mit dem Mann unterhalten, wenn es bedeutete, dafür Anders aus den Augen zu lassen.
Und auch sonst nicht, wenn es sich nicht irgendwie vermeiden ließ. Seit mehr als vier Monaten saßen sie hier auf engstem Raum, traten sich gegenseitig auf die Füße und zerrten an einander Nerven. Halan, Anders, Jurik, und - leider auch er - Ember von Valon, Tür an Tür im Gästehaus des ehemaligen Botschafters Laibrin von Dan Sariv, mitten im unfreundlich bewaldeten Herzland von Indiradin. Und es war nicht nur die Gnade dieses Mannes, dem sie als Flüchtlinge ausgeliefert waren - es war die Gnade seines ganzen Landes. Halan haßte diese Hilflosigkeit. Aber da war er nicht der einzige. Und zumindest mit der Untätigkeit kam Halan von ihnen allen am besten zurecht. Ihm genügte es, wenn er seinen Kopf beschäftigen konnte.
»Du könntest auch etwas Unterricht mit dem Schwert vertragen«, redete Jurik weiter.
Halan stand auch in seiner Schuld zu tief, um ihn ignorieren oder fortschicken zu können, aber er wollte das Gespräch trotzdem so knapp wie möglich halten. Diese vertrauliche Art stieß ihn ab, auch noch nach so vielen Monaten. »Ich kämpfe nicht«, sagte er kalt.
»Oh, das solltest du aber.« Jurik lächelte. »Diese Zeiten lassen dir wenig Wahl. Anders weiß das, und ich sehe, daß die Trainingsstunden ihm gut tun.«
Wenn er damit meinte, daß Anders danach erschöpft genug war, um schlafen zu können, mochte er damit Recht haben; das war ein kleiner Sieg. Aber um welchen Preis? Halan schüttelte sich.
»Ehrlich, Jurik, mir ist gar nicht wohl bei der Vorstellung, daß Alexander ein Schwert führt.« Anders hatte zu viele Wunden davongetragen, Wunden auf der Seele, die erst langsam heilen mußten, bis er wieder der Alte war - und selbst dann war er niemand, dem man ein Schwert in die Hände geben sollte…
Jurik zuckte die Schultern. »Wenn er sich dann sicherer fühlt -«
»Aber ich will mich auch sicher fühlen!« platzte es aus Halan heraus, ehe er die Worte zurückhalten konnte. Er fühlte sich zugleich erröten und erbleichen. War er schon so lange fort vom Hofe, daß er seine Zunge nicht mehr hüten konnte? Aber es geschah nun immer öfter, und immer bei Jurik, der selbst daran schuld war, der es selbst herausforderte, wann immer er Halan zu einem Gefühlsausbruch verleiten konnte. Jetzt blieb Halan nichts mehr übrig, als den Blick abzuwenden und wieder demonstrativ aus dem Fenster zu schauen. Und sich dabei zu bemühen, nicht auf Juriks zufriedenes Spiegelbild zu achten.
»Klingt mir, als ob du ein Schwert brauchst«, sagte der Mann noch, und auch wenn er nicht gehen wollte, war er so gnädig, danach das Thema zu wechseln. »Es muß ja kein langes sein, aber wie wär es mit einem größeren Dolch, so wie bei unserem kurz geratenen Freund - weißt du, wo er steckt?«
»Nicht hier«, sagte Halan, und das war das beste, was er über Ember von Valon zu sagen wußte. »Ich habe ihm die Gelegenheit gegeben, einen Blick in einen Brief zu werfen, der ihn selbstverständlich nichts anging. Seither bereitet er sich und alles andere auf die Rückkehr des Hausherrn vor.«
Es gefiel Halan zu sehen, wie sich Juriks Gesicht veränderte. »Laibrin kommt zurück? Wann?«
Halan zuckte die Schultern und lächelte. »Heute, möchte ich meinen.« Es waren diese kleinen Triumphe, die das Leben lebenswert machten.
»So? Und warum erfahre ich das erst jetzt?« grollte Jurik.
»Zwei Gründe«, sagte Halan. »Der eine: Ihr habt mit Laibrin nichts zu schaffen, außer, daß Ihr unter seinem Dach haust. Eure Aufgabe ist, Alexander zu beschützen und ihn zu beschäftigen. Und das ist der zweite Grund. Wenn Ihr es gewußt hättet, hätte auch Anders davon erfahren.«
Jetzt war Jurik fast besänftigt und ebenso überrascht. »Er weiß es noch nicht? Du hast es Ember wissen lassen - und Anders nicht?«
»So ist es«, sagte Halan zufrieden. Im Glas sah er zwei Bilder, die ihm gefielen - den schlafende Anders und den entgeisterten Jurik.
»Wenn er das erfährt, wird er dich schlagen!«
»Wahrscheinlich.« Halan lächelte. »Aber wenn ich ihm letzte Woche von dem Brief erzählt hätte - würde er dann jetzt so friedlich dort liegen und schlafen?«
Jeder Augenblick, in dem Anders Frieden fand, war ein gewonnener Augenblick. Anders, der allein schlief, nicht an Halan gepreßt wie ein zitterndes Kind, war ein großer Sieg. Soviel Angst brachte Anders mit - vor dem Alleinsein, vor dem Dunkel, vor geschlossenen Türen - früher war Anders ein zerrissener Junge, den man zugleich lieben und hassen mußte. Heute konnte man ihn nur bemitleiden. Und seine Liebe aufsparen für Augenblicke wie diesen, für einen süßen Jungen, der unter einem blühenden Baum lag wie ein schlafender kleiner Engel. Und alles, was das schöne, friedliche Bild trübte, war das Schwert, das neben Anders auf dem Boden lag.
»Dann bis später«, sagte Jurik und packte seine Krücke fester. »Sitz du nur hier und genieße den Augenblick. Oder noch besser - geh dazu vor die Tür und erfreue dich all der schönen Blüten.« Und im Gehen setzte er hinterher: »Dann hat Anders es nicht so weit, dir ein blaues Auge zu verpassen.«
Und dann, endlich, war er fort. Halan fragte nicht, wohin. Seine Hoffnung war: An einen Waschzuber. Der Mann hatte den Vormittag damit unterbracht, Anders zu unterrichten - da sollte er danach zumindest noch den Anstand haben, sich den Schweiß vom Körper zu waschen, wenn er schon kein frisches Hemd anziehen mochte. Und wenn am Nachmittag auch noch Laibrin zurückkehrte…
Halan legte endlich die Feder beiseite und stand auf. Jurik hatte Recht, auf seine Weise. Halan sollte wirklich besser vor die Tür gehen. Nicht um der duftenden Blüten Willen, auf wenn deren Geruch nach Juriks Gesellschaft eine willkommene Abwechslung war, aber um in Anders’ Nähe zu sein, wenn der aufwachte. Wenn Anders seine Augen aufschlug, um sich wieder mit dem Kopf zuvorderst in den Abgrund zu stürzen. Früher hatte Halan noch darunter gelitten, nicht genug gebraucht zu werden. Nun hätte er gerne etwas von dem Gebrauchtwerden auf die ersten zweiundzwanzig Jahre seines Lebens verteilt.
Halan trat hinaus in die Sonne und den Frühling, und er setzte sich auf die Stufen vor dem Haus und fuhr damit fort, Anders zu beobachten, bis Regung in den Jungen kam und sich das Aufwachen mit einem leichten Zucken des Fußes ankündigte.
Ein sanfter Wind strich durch die Bäume. Schneeweiße Blütenblätter regneten auf Anders nieder, tanzten in der Luft wie die unschuldigsten Boten des Frühlings, als wollte der Wald ihnen an diesem Tag noch einmal zeigen, welche Leichtigkeit und Schönheit er doch zu bieten hatte.
Halan verfolgte das Muster der Blütenblätter in der Luft. So oft hatte er diesem Schauspiel schon zugesehen und konnte doch unmöglich vorhersagen, welches Blatt wohin fallen sollte - und gerade diese Unberechenbarkeit war es, die ihn berührte. Noch zögerte er, aufzustehen und zu Anders hinüberzugehen, in den langsam Leben kam, der sich aufsetzte und sich die Augen rieb - und in dem Moment, in dem Halan das Entsetzen in den Augen des Jungen sah, die blinde Furcht, verwandelten sich die weißen Blütenblätter auch vor seinen Augen in einen Regen von Schwanenfedern. Halan kannte Anders, kannte seine Wunden und seine Angst gut genug, um zu wissen, was der andere sah.
»Anders!« wollte er noch rufen. »Keine Angst! Es sind nur Blüten!«
Aber da war es bereits zu spät. Anders schoß hoch, als sei der Abgrund selbst hinter ihm her, und im Hochfahren griff er das Schwert aus der Ruhe des Grases. Vielleicht schlief er noch. Vielleicht träumte er - Halan hoffte, daß es nur ein Traum war. Denn dort, wo Anders war, gab es keinen Halan und keinen Baum und keine Blüten. Nur Schwäne. Schwäne, die ihn in Stücke hacken würden, wenn er sich nicht seiner Haut wehrte mit allem, was er hatte.
Und was er hatte, war sein Schwert.
Anders schrie nicht, als er sich auf seinen Feind stürzte, auf die weißen Geister einschlug in Todesangst und blinder Wut, links, rechts, vor ihm, über ihm, überall dorthin, wo Blüten fielen. Und auch der Baum schrie nicht, als die silbernglitzernde Klinge des Schwertes ihn traf. Die weiche Rinde, das junge Holz des Frühlings riß auf wie eine scheußliche weißgelbe Wunde, doch kein Blut quoll hervor.
»Anders!« rief Halan. »Ich bin hier! Alles ist gut!« Und war doch froh für den Augenblick, daß dort der Baum stand, um die Angst und die Schläge abzufangen, nur der Baum, kein Mensch, nicht Halan. Und dann erstarrte er. Baum.
Anders schlug mit seinem Schwert auf einen Baum ein. In Indiradin, dem Land von Kaliander, Engel des Waldes. Dem Land, wo die Bäume heilig waren wie anderswo die Schwäne. Und an dem Tag, an dem der Mann, der Anders’ Schutz bot vor der Anklage des schrecklichen Frevels, zurückkehren sollte - trieb Anders die Klinge seines Schwertes in einen heiligen Baum.
Es war dieser Moment, in dem sich Halan in blinde Panik stürzte und nicht mehr wußte, was er tat. Und doch war das gelogen. Halan wußte es nur zu gut. Er stürzte sich auf Anders, um ihm das Schwert zu entreißen. Und wenn es bedeutete, direkt in die blanke Klinge zu springen - aber daran dachte er nicht. Dies war Indiradin. Dieser Baum war heiliger als Halans Leben. Und niemals so heilig wie Anders’.
Halan sprang vorwärts und versuchte, Anders von hinten zu packen. Nach hinten schlug das Schwert nicht. »Anders!« schrie er. »Wach auf! Ich bin es, Halan! Ich bin hier!« Aber er wußte, daß Anders nur die Schwäne hörte, als der herumfuhr und ihn angriff.
Halan wußte nicht, was er tat. Halan wußte nichts vom Kämpfen, und wenig von Schwertern. Aber er hatte zugesehen, wie Jurik Anders unterrichtete. Ein wenig lernte man vielleicht auch schon vom Zusehen, wenn man die Weisheit eines Engels geerbt hatte. Man lernte, daß Schwerter nicht nur scharf waren, sondern auch lang. Und nur scharf, wo sie lang waren. Halan wich nicht zurück. Halan warf sich vorwärts auf Anders und versuchte ihn festzuhalten, so eng wie möglich, bis das Schwert nicht mehr war als ein wertloser kalter Griff in Anders’ Hand.
Halan wußte nicht, wo er die Schnelligkeit hernahm, oder die Kraft, aber es gelang ihm, über das Schwert hinweg Anders beim Handgelenk zu packen und seinen Arm zum Körper zu biegen, daß das Schwert sich hart zwischen ihre Körper preßte. Anders war von Sinnen, er kämpfte ohne verstand, und nur so war er schnell besiegt - er kämpfte, als hätte er von Jurik nie auch nur eine einzige Unterrichtsstunde bekommen.
Halan fühlte einen Schmerz, irgendwo, doch er gab nicht viel darauf. Und wenn es Blut war. Und wenn es sein Blut war. In diesem Moment bedeutete es nichts. Nur Anders.
Anders, den er festhielt und an sich drückte, bis aus dem Kampf ein Krampf wurde und Halan wieder einen Jungen im Arm hielt, hilflos und zitternd und angsterfüllt, aber nicht länger gefährlich. Für den Baum, und für sich selbst, und für Halan.

Und dann war der Kampf vorbei, ohne jemals begonnen zu haben, und Anders kam wieder zu sich, in Halans Armen. Halan hielt ihn fest, vielleicht fester als nötig, vielleicht auch länger - in diesem Moment brauchten sie das, beide.
Anders preßte sein Gesicht an Halans Schulter, und ohne aufzusehen, murmelte er: »Ich habe dich nicht gesehen… Ich dachte, du - daß - da -«
»Ich weiß«, antwortete Halan nur. Er wollte nicht, daß Anders darüber sprach. Davon wurde es nicht besser, nur gegenwärtiger. »Ich bin doch da. Ich bin doch immer da.« Er unterdrückte ein Seufzen, als er das sagte. Solange Anders träumte, gab es einen Ort, an den ihn Halan nicht begleiten konnte oder wollte.
Langsam schob Halan sich und den Jungen mit kleinen Schritten vom Baum weg, hin zum Haus. Haus hieß Sicherheit. Im Haus konnte Anders das Schwert loslassen und Halan Anders, und alles war gut, und sie konnten so tun, als ob nichts gewesen sei.
»Ich habe dich verletzt«, sagte Anders leise. »Du blutest.«
»Es ist nicht schlimm«, erwiderte Halan. War es nicht schon ein Fortschritt, daß Anders von allein merkte, wenn er jemandem weh getan hatte? Halan wußte nicht einmal, wo er blutete. Es würde nur ein Schnitt sein, irgendwo, ohne Bedeutung. Schlimmer war das, was Anders mit dem Baum getan hatte - und das mußte Halan irgendwie kaschieren, bevor Laibrin zurückkam. Ob man einen Baum auch verbinden konnte wie eine Wunde im Fleisch?
»Komm ins Haus«, sagte Halan. »Du mußt etwas essen. Du hast nichts gegessen und hart trainiert -«
Anders riß sich los. »Ich bin nicht schwachsinnig!« schrie er. »Und wahnsinnig bin ich auch nicht! Tu nicht so, als wisse ich nicht, was ich gerade getan habe! Ich bin mit einem Schwert auf dich losgegangen!« Er schleuderte das Schwert von sich, daß es ein letztes Mal gegen den Baum prallte und dann zu Boden fiel. »Und jetzt willst du mir nicht mal die Möglichkeit geben zu bereuen?«
Fast wäre es aus Halan herausgebrochen: ‘Mir ist egal, ob du bereust! Ich will nur, daß du es bleiben läßt!’ Doch statt dessen sagte er dann nur: »Ich verhalte mich nur so, wie es zu deinem Verhalten paßt. Und ich halte dich nicht für schwachsinnig.« Er wußte genau, was er damit sagte. Und Anders wußte es auch. Aus Halans Mund kamen keine unkontrollierten Worte, und keine unbedachten.
Anders’ Gesicht war so weiß wie die Blütenblätter, die noch immer in seinem Haar hingen. »Wenn ich wahnsinnig bin - wenn es das ist, was du glaubst - warum bist du dann noch hier? Warum seid ihr alle noch hier? Aus Mitleid? Ich brauche kein Mitleid!«
Leise sagte Halan: »Du brauchst Hilfe.« Er ging noch einen Schritt rückwärts. Sein linker Arm begann zu schmerzen. Wahrscheinlich blutete er dort. Seine Hand klebte. Halan wollte nicht hinsehen. Vielleicht ließ er Jurik einen Blick darauf werfen. Oder er knotete ein sauberes Tuch darum. Das Schwert war ja auch sauber. Es würde sich schon nicht entzünden. Halan hatte schon schlimmere Wunden gesehen, um sich nun auch diese anschauen zu müssen.
»Und warum hilft mir dann niemand?« Anders widersprach nicht. Nach diesem Winter wäre Leugnen Lügen gewesen, und das war nicht seine Art.
»Weil du keine Hilfe willst«, sagte Halan kühl. »Zumindest keine Hilfe, die von dir verlangt, daß du dich änderst.« Anders brauchte keinen Chronisten, und keine Chronik. Er war selbst beides. Es war ein Unterschied, ob man nichts vergessen konnte, oder ob man Tag für Tag die eigene Geschichte durchlebte, sich in vergangenen Schmerzen und Wunden suhlte voll krankem Genuß. Halans Vergangenheit war nicht minder schmerzhaft, doch sie war ordentlich, sauber archiviert und systematisch geordnet da, wo sie hingehörte. Halan verzichtete auf Träume, die in seiner Bibliothek herumtollen konnten und alles durcheinander brachten. Solange Anders selbst dieser kleine Preis zu hoch war, konnte Halan ihm nicht helfen, und auch niemand sonst.
»Dann laß mich wenigstens deine Wunden verbinden«, sagte Anders. Und als Halan schon ablehnen wollte, erklärte er hastig: »Ich will nicht, daß Janek das sieht - wenn er denkt, ich habe dich angegriffen, nimmt er mir das Schwert weg. Und ich würde dich niemals angreifen, das weißt du. Du weißt, ich -«
»Schscht!« Halan legte einen Finger an die Lippen und schmeckte Blut. »Ich weiß es. Sag es nicht laut.« Niemand war da um es zu hören als Halan. Aber Halan wollte es nicht hören. Keine Liebe aus Anders’ Mund. Nicht jetzt.
»Dann sag du es! Sag, daß du mir verzeihst! Sag, daß du -«
»Nein«, sagte Halan kalt. »Später, vielleicht. Und wenn du jemanden verbinden willst, verbinde den Baum.«
»Was interessiert mich der Baum?« Anders lief zu Halan hin, hinter ihm her, als der sich zurückzuziehen versuchte. »Dich habe ich verletzt, dir will ich helfen.«
In Wirklichkeit suchte er nur einen Grund, sich an Halan festhalten zu dürfen. Sich an ihn klammern, zittern, schluchzen, alles unter dem Vorwand, ihm helfen zu wollen… »Der Baum ist heilig.«
»Aber mir ist er nicht heilig!« schrie Anders. »Du bist heilig, du bist mir heilig!« Er zog ein Tuch hervor und versuchte, es Halan um den Arm zu knoten. Halan kannte das Tuch - Anders trug es bei sich, um sich nach dem Kampftraining den Schweiß vom Gesicht zu tupfen. Es war nichts, was Halan in einer Wunde haben wollte. Anders zerrte dieses Schauspiel vom Tragischen ins Jämmerliche. Er ließ Halan keine Wahl, als sich ganz in Kälte zu hüllen, so fest, daß Anders es spüren mußte. Die völlige Abwesenheit von Liebe. Anders fürchtete das mehr als Haß, mehr als sonst etwas. Es war die Macht, die Halan besaß. Die einzige.
»Laß mich los«, sagte Halan eisig. »Geh und heb dein Schwert auf. Schau, was du für den Baum tun kannst. Aber vor allem: Laß. Mich. Los.«
Und Anders gehorchte. Sofort. Schlich zum Baum wie ein geprügelter Hund. Hob das Schwert auf. Einen Moment lang blitzte Trotz in seinen Augen auf, oder Haß? Reue? Halan konnte keine Gefühle verstehen, wenn er seine eigenen negierte. Es war ihm egal. Er wollte ins Haus. Durch die Kälte hindurch fühlte er seinen Arm schmerzen.
»Komm, Anders«, sagte er unwillig. »Komm ins Haus.« Damit das ganze Schauspiel endlich vorbei war.
»Gleich«, sagte Anders. »Nicht, bevor ich mich um den Baum gekümmert habe.« Etwas in seiner Stimme ließ Halan herumfahren und den Schutzschild schmelzen. Anders, Schwert in Händen, stand vor dem Baum, als wolle er es hineinstoßen bis zum Heft, wissend, absichtlich. »Hast du Schmerzen, heiliger Baum?« fragte Anders laut und betont. »Wenn du Schmerzen fühlen kannst wie ich, zeig sie mir!«
Und dann blickte er zu Halan hin. Und lächelte. Dieses garstige drohende Lächeln, mit dem Anders bereit war, so lange zu verletzen, bis Halan ihm seine Wünsche erfüllte. Das war Anders’ Macht. Die einzige, die ihm noch blieb. Und Halan haßte sie.
Umdrehen, ins Haus gehen, das war die einzige Lösung. Niemals durfte Halan sich mehr erpressen lassen. Wenn Halan nicht mehr da war um ihm zuzusehen, würde Anders dem Baum nichts tun. Er wollte nicht den Baum verletzen. Nur Halan.
»Nein!« sagte eine klare Stimme. »Wage es nicht! Bevor du dein Schwert in diesen Baum stößt, mußt du es erst durch mich stoßen. Und das vermagst du nicht!« Und mit diesen Worten und ausgebreiteten Armen trat ein barfüßiges Kind aus dem Unterholz und schob sich zwischen den Baum und Anders. Mit den kurzen lockigen Haaren mochte man es zuerst für einen Knaben halten, doch Halan erkannte schnell, daß es ein Mädchen war. Ein Mädchen in Anders’ Alter. Eine junge Frau. Und sie kam direkt aus dem Wald.

Es gab Legenden in Indiradin. Manchmal konnte man meinen, es gab nur Legenden - alle Bücher, die Halan in Laibrins Haus hatte finden können, waren voll von Märchen, Mythen und Sagen, aber auch wenn sie ihn an dunkle Teile seiner Kindheit erinnerten, Halan las sie. Und las sie Anders vor, wenn der nicht einschlafen konnte, damit er etwas anderes hatte, wovon er träumen konnte als Einsamkeit und Tod, Kerker und Schwäne. Indiradins Legenden handelten vom Wald, und von Geschöpfen, die im Wald lebten. Kleine Leute. Wesen, die in den Bäumen wohnte. Von einem Volk, das nur aus Kindern bestand, die verschwanden, ehe sie jemals erwachsen wurden. Von allen Arten von Tieren und Untieren, und alle diese Geschöpfe, große wie kleine, hatten eine Gemeinsamkeit: Sie waren die Hüter des Waldes. Freundlich und friedlich dem, der dem Wald Gutes tat. Und böse und rachsüchtig gegen jene, die ihn schädigten.
All diese Geschichten kannte Anders, und einen Moment lang waren sie in seinen Augen zu lesen. Erstaunen, dann Entsetzen, dann Angst. Anders ließ das Schwert sinken und trat zurück und starrte das Waldmädchen entgeistert an, unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen.
Halan atmete auf. Er mußte sich nicht länger erpressen lassen. Die Gefahr war gebannt, Anders besiegt, besiegt von einer unbewaffneten, barfüßigen Frau, die selbst noch ein halbes Kind war. Und der einzige Fehler, den Halan jetzt nicht machen durfte, war, ihm zu verraten, was sich ihm auf den zweiten Blick offenbart hatte: Nämlich, daß dieses Mädchen mitnichten ein Wesen des Waldes war. Sondern Laibrins Tochter.
Anders, natürlich, wußte und ahnte nichts davon. Es war seine Schwäche, keinen Menschen, zumindest keine Frau, gründlich genug anzusehen, um das Vertraute in ihrem Gesicht zu erkennen. Und so wich er zurück und ließ das Schwert sinken. Anders glaubte an Märchen, wie er an Träume glaubte - das war seine zweite große Schwäche. Der Blick, den er Halan zuwarf, schwankte zwischen Unsicherheit und Angst.
Das Mädchen lächelte. »Ich sagte doch, du wagst es nicht.«
Anders machte noch einen Schritt zurück. »Es ist nicht so, wie es aussieht«, sagte er leise. »Und was immer geschehen sein mag, es ist nichts, was dich etwas anginge.«
»So?« Laibrins Tochter schnaubte. »Es ist mein Baum. Und was mit meinem Baum geschieht, geht mich immer an.«
Jetzt mußte Halan eingreifen. Denn wenn sich dieses Mädchen jetzt selbst zu erkennen gab, ohne daß Halan Anders warnen konnte, dann würde sich nicht nur die Situation noch weiter zuspitzen - sondern Anders würde sich verraten fühlen und das Halan so schnell nicht verzeihen.
Langsam trat Halan zu Anders hin und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dann lächelte er das Mädchen an. »Ich schlage vor, wir verlagern dieses Gespräch ins Haus, damit Ihr Euch frisch machen könnt… Und Euer Vater? Er kann nicht weit sein, vermute ich?« Beim Wort Vater drückte er kurz Anders’ Schulter. Dieses Zeichen sollte er verstehen, und er tat es.
»Ich bin der Kutsche vorausgerannt«, sagte das Mädchen. »Ich hatte so ein ungutes Gefühl… Und ich hatte Recht!« schloß sie triumphierend und zeigte auf die verletzte Rinde. Harz quoll aus dem Holz wie zähes goldenes Blut.
»Gehen wir ins Haus«, sagte Anders. »Und während ich mich umkleide, suchst du dir ein paar Schuhe oder Sandalen, damit du deinem Vater keine Schande machst.« Sein Tonfall war, als spräche er mit einem kleinen Kind, dabei mochte das Mädchen so alt wie er sein, und er selbst war gerade siebzehn Jahre alt worden.
Passend zum alter suchte Laibrins Tochter Streit. »Was ich trage oder nicht trage, ist meine Sache. Und was noch mehr ist- meinem Vater ist es gleich.«
Halan zog es zum Haus. Er wollte Ruhe vor diesen Streithähnen, und mehr noch - er wollte Informationen. Laibrin war als Gastgeber kein gesprächiger, meistens abwesend, und hatte nie seine Tochter auch nur erwähnt. Halan kannte sie nur aus ihren Büchern, in die sie voll Stolz ihren Namen geschrieben hatte - Bücher, die ihr Vater sorglos seinen Gästen überlassen hatte. Irgend etwas stimmte hier nicht - und wenn Halan das herausfand, dann konnte er die Oberhand zurückgewinnen.
»Bitte«, sagte er. »Gehen wir zum Haus. Machen wir unseren Ländern Ehre und benehmen wir uns, wie es und geziemt. Warten wir auf Euren Vater. Machen wir uns einander bekannt. Maelien, das ist Euer Name, nicht wahr?« Er hoffte, daß es stimmte. Die Schrift in den Büchern war die eines kleinen Mädchens, das seine Zeichen verdrehte und es nicht besser wußte.
»Maelien ja«, sagte sie. »Aber ins Haus könnt ihr alleine gehen, und was ihr mit meinem Vater zu sprechen habt, will ich auch nicht wissen. Ich bin vorgelaufen, weil ich in meinen Wald wollte, weil ich sehen wollte, was ihr davon übriggelassen habt. Dreht euch nur um euch, ich tue es nicht.«
Und ohne weitere Erklärung verschwand sie zwischen den Bäumen, so plötzlich, wie sie aufgetaucht war, und war fort.
Halan atmete auf und schob Anders nun endlich zum Haus, bevor der noch mal und endgültig in Wut ausbrechen konnte. Und wenn ihm dabei Jurik üb er den Weg lief, dann sollte der Anders’ Schwert um die Ohren bekommen. Mit dem Griff zuvorderst.
»Es tut mir leid«, flüsterte Halan. »Ich weiß, ich hätte es dir schon früher sagen sollen, aber ich -«
»Nein«, sagte Anders ruhig. Und mehr nicht.
»Was - nein?« Halan hatte mit allem gerechnet. Dieses Nein verstand er nicht. Es paßte so gar nicht zu allem. Zu Anders.
»Nein, es tut dir nicht leid.« Anders blickte Halan an und lächelte. »Ich kenne dich, Halan. Du tust nichts ohne Grund. Du wirst das Für abgewogen haben und das Wider, und dann bist du zu dem Schluß gekommen, daß es besser ist, mich im Dunkeln zu lassen, über… alles.« Selbst jetzt wußte er nichts von dem, was Halan ihm verschwiegen hatte, und zum Zusammenreimen nur einen Teil. »Also tu nicht so, als hättest du etwas vergessen. Es war Absicht. Deine Weisheit hat dich dazu gebracht. Du bist weise. Ich bewundere dich dafür.«
»Danke«, brachte Halan hervor. Manchmal erstaunte ihn Anders. Momente wie dieser machten ihn unberechenbarer als jeder Wutausbruch. Und Halan war fast schon erleichtert, als Anders hinterhersetzte:
»Und ich hasse dich. Dafür.«

Der Name des Mannes war Laibrin von dan Sariv - aber auch wenn dan Sariv sein Haus war, dieses Haus, so hielt er sich doch nur den geringsten Teil des Jahres über dort auf. Das Haus war verwaist seit dem Tod von seiner, seit Laibrin als Botschafter nach Koristir berufen wurde, und auch wenn er längst kein Botschafter mehr war, kehrte er doch nur noch als Gast in dieses Haus zurück. Aber es schien ihn nicht zu vermissen, und es schien sich nicht an ihn zu erinnern. Dem Haus war es egal, ob sein Herr dort war oder nicht - es war wie der Wald, in dem es lag, geduldig und gleichgültig. Halan nahm schon seit Jahren Häuser auf eine spezielle Weise wahr, die ihn von anderen Menschen unterschied, aber selten hatte er ein Haus erlebt, das so wenig von sich preisgab wie dieses. Halan mochte es; es machte es für sie als Fremde leicht, hier zu wohnen. Aber zu den Gelegenheiten, wo auch Laibrin dort war, begriff Halan, wie sehr sich Haus und Herr doch ähnelten.
Auch Laibrin hielt seine Gefühle zurück - war es nur, weil er von Anders’ Gabe wußte und sich davor schützen wollte? Halan glaubte das nicht. Es war keine Mühe, keine Anstrengung in Laibrins besonnener Ruhe. Es war Wesen.
Auch jetzt war nicht viel davon zu merken, was der Mann dachte. Ob er zornig war wegen des verwundeten Baumes, ob er es überhaupt gesehen hatte - nichts, keine Regung. Nur ein stilles, unverbindliches Lächeln, ganz Diplomat. Nichts über die Begegnung zwischen Anders und seiner Tochter - und sie fragten auch nicht danach.
»Ich hoffe, Ihr verlebt weiterhin einen erholsamen Aufenthalt«, sagte Laibrin. »So sehr ich auch bedaure, Euch nicht mehr bieten zu können - die Zeiten lassen es nicht zu.«
»Ihr tut schon viel zuviel für uns, Laibrin«, sagte Anders. »Mehr, als wir verdienen.« Sie wußten alle, daß das Blatt sich gewandt hatte. Als sie als gehetzte Flüchtlinge vor seinem Haus standen und Asyl und Hilfe verlangten, da stand er noch in ihrer Schuld - längst war es umgekehrt. »Wir können Euch das niemals entlohnen.«
Der ältere Mann schüttelte den Kopf. »Sorgt Euch nicht, Alexander, es wird einen Weg für Euch geben - erst einmal ist es aber wichtig, daß Ihr Euch erholt, wieder zu Kräften kommt.«
Anders erbleichte unter diesen Worten, doch er sagte nichts. Daß es ihm nicht an körperlicher Stärke gebrach, daran bestand kein Zweifel.
»Es geht ihm gut«, sagte Halan schnell. »Aber unser ungewisses Schicksal zerrt an uns, und das wird nicht besser mit der Zeit - die Gefahr, in der wir schweben, wächst von Tag zu Tag, solange Eure Königin sich nicht entscheidet.«
Ja, die Königin. Wenn sie nicht bald eine Entscheidung traf, ob sie Alexander nun helfen oder ihn seinen Feinden ausliefern wollte, würden sie entweder sehr lange hier festsitzen - oder früher oder später einfach gefangengenommen werden. Und doch konnte Halan es ihr fast nicht verdenken, von der Ebene der Vernunft aus betrachtet. Halan und Anders dachten nur an ihre eigenen Leben, doch Brianna von Kalianders Blute mußte ihr ganzes Volk in Sicherheit wissen: Die Welt war aus den Fugen, heilige Schätze verschwunden, ganze Häuser ausgelöscht, Engelsgeborene aus dem Nichts aufgetaucht - keines davon wollte Brianna in ihrem Land haben. Sie konnte nur neutral bleiben. Sie mußte es. Keine Entscheidung - zumindest keine, die sie nicht schon längst getroffen hatte.
Laibrin lächelte leicht. »Bitte versteht… Ich bin nicht ganz ohne Einfluß in meinem Land, doch mit dem Königshaus nicht so eng verbandelt, daß ich dort tagtäglich ein und aus gehen könnte. Auch ich bin auf Audienzen angewiesen, die zu erhalten mich viel Zeit und Mühe kosten.«
Halan ahnte, daß nun etwas kommen mußte. Etwas Unangenehmes. Schon in seinem Brief hatte Laibrin angedeutet, daß er etwas Wichtiges zu besprechen hatte - nun war es wohl soweit. Er erhob sich. »Laibrin, Alexander - ich schlage vor, wir ziehen uns an einen stilleren Ort zurück und sprechen in Ruhe?«
Bei einem Abendessen konnte man vieles bereden - aber nicht, solange sich Ember von Valon im gleichen Raum aufhielt. Und selbst wenn der Mann seinen Mund hielt und vorgab, nur ein Stück vom Inventar zu sein, er gehörte nicht dazu, und es ging ihn nichts an.
So war es auch Ember, der nun als erster reagierte, hastig aufsprang und sich die Finger abtupfte. »Fürst Laibrin, bitte vergebt, wenn ich Euer Gespräch gestört haben sollte… Nichts liegt mir ferner, als Euch im Wege sein zu wollen, aber da ich so tief in Eurer Schuld stehe… Ich werde alles tun, was Ihr verlangt.« Der Winter hatte ihn von allen am wenigstens gelehrt: Ember hatte immer noch nicht begriffen, daß er ein jämmerlicher Wurm war, daß er niemandem nutzte, und daß er kein Anrecht auf ihre Gesellschaft hatte - oder doch., er wußte es, aber er machte sich ein Spiel daraus. Allein die Art, wie er dem Hausherren hofierte, um dafür Halan im gleichen Satz demonstrativ zu ignorieren und so zu beleidigen…
Wenn sich dieser Mann in Nacht und Nebel mit seinem Geld und ihren letzten Wertsachen aus dem Staub machte, hatten sie alle nur gewonnen - Ember selbst sogar am meisten, denn er machte keinen Hehl daraus, Anders’ nur für die Macht zu begleiten - und es war keine Macht in Sicht an Anders’ Seite.
Auch Jurik entfernte sich, wortlos und ohne große Gesten, klemmte sich nur seine Krücke unter den Arm und humpelte davon wie ein alter Mann.
Jetzt konnte Laibrin zur Sache kommen - doch das tat er nicht. Statt dessen sagte er: »Bitte, Harold, vergebt mir die Direktheit - doch es geht um etwas, das ich gerne erst mit Eurem Onkel unter vier Augen besprechen würde.«
Halan erstarrte, dann begann er langsam einzuatmen. Er fühlte die Luft kühl in seinen Nasenlöchern, dann stach sie kalt in seine Wangenknochen und füllte seinen Kopf mit eisiger Blässe, aber er hatte nur dieses eine Einatmen, um die richtige Antwort zu finden - sie mußte Nein lauten, aber Neins gab es viele, und Halan brauchte von allen das richtige.
»Nein«, sagte Anders. »Es ist Euer Haus, Laibrin, doch mein Neffe, und ich entscheide, was er hört und was nicht.« Wenn er sich Mühe gab, konnte seine Stimme noch immer würdevoll und königlich klingen. Hier hätte ihm etwas mehr Anstrengung dabei gut angestanden, aber immerhin - er brachte Halan aus seiner Zwangslage.
»Mit Verlaub, Alexander - Ihr wißt nicht, worum es geht.«
Jetzt lächelte Anders, und die nächsten Worte kamen selbstsicherer, erinnerten mehr an den Anders von früher, an seine kühle Überlegenheit: »Eurem Tonfall, Laibrin, entnehme ich, daß ich Euer Thema in jedem Fall mit meinem Neffen besprechen möchte: Und ich möchte nicht die Hälfte dieser Unterredung damit verbringen müssen, Eure Worte wiederzukäuen. Darüber hinaus hat ein Chronist in einem derart bedeutenden Fall - und auch diesen Grad der Bedeutung entnehme ich Eurem Tonfall - immer an der Seite seines Königs zu sein. Ihr habt mich als rechtmäßigen König von Koristan anerkannt - jetzt ist es an Euch, auch mein Recht anzuerkennen.«
Laibrin seufzte. »Wie Ihr wünscht, Alexander. Tatsächlich wollte ich euch nur das Gespräch erleichtern und Euch vor Verlegenheit bewahren, aber wenn Ihr darauf besteht…«
Jetzt legte Anders alle Königswürde in die Waagschale. »Über meine Verlegenheit habt nicht Ihr zu entscheiden, Laibrin. Wo und wie und ob ich sie nutze, obliegt mir allein.«
Auf der einen Seite war Halan erleichtert, dankbar, hinausgeschickt worden zu sein - das bewahrte ihn davor, Laibrin erklären zu müssen, daß man ihn auf keinen Fall mit Anders allein lassen durfte. Wenn Laibrin im falschen Moment das Falsche sagte und Anders in Zorn geriet, daß er alles und sich selbst vergaß… Es war noch nie vorgekommen, nicht seit sie hier waren, doch es konnte. Anders war in Gefahr, und Anders war eine Gefahr, für sich selbst wie für andere. Solange Halan dabei war, würde zumindest Laibrin nichts geschehen.
Aber auf der anderen Seite machte Anders es sich selbst nicht leicht mit seinem überheblichen Tonfall - hier war ein Mann, dem er etwas schuldete und der gerade bereit war, diese Schuld einzuklagen.
Laibrin machte ein ernstes Gesicht, und Anders’ Worte hatten sein Herz offenbar nur wenig erwärmen können. »Schaut, Alexander, ich weiß, daß es nicht einfach für Euch ist, aber bitte, hört Euch an, was ich zu sagen habe. Es ist auch für mich nicht leicht. Ihr wißt, ich habe Euch und eure Begleiter in mein Haus aufgenommen, vertraue Euch sogar weit genug, um Euch dieses Haus auch in meiner Abwesenheit zu überlassen, und wir haben nie über Geld geredet, und wir werden es auch jetzt nicht tun.«
Das wäre auch ein sinnloses Unterfangen gewesen; Halan und Anders waren mittellos, von ihrem Vermögen gänzlich abgeschnitten, und wieviel Aralee davon übriggelassen haben mochte, würde sich zeigen. Der einzige von ihnen, der Geld hatte, war Ember, aber Halan wollte nicht wissen, woher, und ebensowenig wollte er etwas davon abhaben.
Anders nickte wortlos und ließ Laibrin weiterreden.
»Dennoch dürft Ihr mir nicht verübeln, daß ich Euch nicht ohne Hintergedanken und einen Sinn für meine persönlichen Interessen helfe. Für das, was Ihr in Koristan für mich getan habt, bin ich noch immer dankbar, aber ebenso tief, wenn nicht noch tiefer, stehe ich seit jenem Tag in der Schuld Eurer Mutter, gegen die Ihr mich nun als Verbündeten zu gewinnen sucht - und so sollte für Euch deutlich sein, daß ich nicht nur aus vergänglicher Dankbarkeit handle.«
Wieder nickte Anders. »Ich verstehe Euch gut, Laibrin. Ich versichere Euch - uns zu helfen soll Euer Schaden nicht sein. Meine erste Amtshandlung nach Antritt meines Erbes wird selbstverständlich sein, Euch wieder als Botschafter Eures Landes einzuberufen, und Indiradin gebührt von allen Ländern die Position unseres wichtigsten und teuersten Verbündeten…«
Seine Stimme verebbte unter dem Blick Laibrins, der zu höflich war, um ihm ins Wort zu fallen, aber andere Mittel kannte, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Das ist es nicht, was ich mir vorstelle, Alexander«, sagte Laibrin kühl und ruhig. »Ich wäre ein Narr, nicht mehr zu fordern als eine Stellung, die mir von jeher zusteht. Aber was ich von Euer verlange, so befremdlich es Euch auch vielleicht zunächst erscheinen mag, wird Euch ebenso von Nutzen sein wie mir.«
Anders Geduld litt sichtlich unter Laibrins Wortreichtum. »Dann sagt, um was es geht, und redet nicht länger drumherum.«
Laibrin nickte bedächtig, sah erst zu Halan hinüber, nickte nochmals, und blickte dann wieder Anders an. »Das Schicksal hat mir keinen Sohn vergönnt, Alexander, aber so ich einen hätte, wäre er nun in Eurem Alter, und ich müßte lügen zu behaupten, daß es nicht Augenblicke gäbe, in denen ich von Euch denke wie von einem Sohn.«
Anders Fingerspitzen begannen ein Muster auf die Tischkante zu tänzeln. »Bitte, Laibrin, bitte - kommt zur Sache. Mein Vater ist lange tot. Wollt Ihr mich etwa adoptieren?« Sein Blick, spöttisch, sagte, daß Engelsgeborene nicht zur Adoption standen.
»Nein«, sagte Laibrin ohne Lächeln. »Ich möchte, daß Ihr meine Tochter zur Frau nehmt.«
Die tänzelnden Finger gruben sich klauengleich in die Tischplatte. Anders starrte den Indiradrim an, Nasenflügel geweitet, Haare gesträubt, sprachlos.
Halan machte sein leerstes Gesicht. Es war nicht an ihm, als erster auf diese Worte zu reagieren. Er mußte warten, reglos, bis Anders sagte: »Nein. Das ist nicht Euer Ernst.«
»Es ist mein Ernst, Alexander. Bitte nehmt Euch Zeit, darüber nachzudenken. Ich habe nie Begeisterung von Euch erwartet - aber denkt darüber nach. Mein Angebot steht. Es soll Euer Vorteil sein ebenso wie meiner.«
Es gefiel Halan nicht, daß der Mann dabei nie auch nur die Vorteile für seine Tochter in Erwägung zog - und bitte, welcher Vater konnte liebenden Herzens seine Tochter an Anders verheiraten?
Anders schnaubte sehr, sehr leise. »Die Vorteile kann ich mir denken, Laibrin. Wenn ich Nein sage, bedeutet es, daß wir uns nach einem neuen Verbündeten umsehen müssen, und auch nach einer neuen Unterkunft, nicht wahr?« Er lächelte sanft und verletzlich.
»Das habe ich nicht gesagt, Alexander«, erwiderte Laibrin. »Es geht mir nicht darum, Euch zu erpressen. Nein, es geht mir um echte, wahrhaftige Vorteile, die Euch meine Tochter bringen wird.«
Anders meißelte das Lächeln etwas tiefer. »So? Und welche, wenn ich fragen darf?«
Laibrin antwortete mit einem eigenen Lächeln. »Die öffentliche Bekanntgabe eines Verlöbnisses könnte Gerüchten über Euch ein Ende setzen, die sich ansonsten zu Eurem politischen Nachteil entwickeln können und werden.«
»Wenn es nur Gerüchte sind, muß ich sie nicht fürchten«, antwortete Anders eisig. »Kein Gerücht war jemals der Wahrheit gewachsen.«
Laibrin lächelte weiter. »Gerüchte müssen nicht zwangsläufig auf Lügen basieren, Alexander. Und Ihr könnt Euch denken, was man sich von Euch erzählt.«
Anders nickte. »Daß ich von meinem eigenen Engel verflucht wurde, ein Massaker unter heiligen Vögeln angerichtet und der gerechten Strafe für meinen Hochfrevel durch feige Flucht entgangen bin - oder habt Ihr etwas im Angebot, das meinem guten Ruf mehr schaden könnte?« Sein Lächeln wurde wölfisch. Man konnte fast glauben, er war auf diese Schuld auch noch stolz!
»Ja«, sagte Laibrin ungerührt. »Ich kenne Menschen, die darin eine Verquickung unglückseliger Umstände und falsch verstandenen Pflichten sehen - die aber zutiefst befremdet sind durch die Art« - hier senkte er Stimme und Blick, als könne er niemandem mehr in die Augen schauen - »in der Ihr Eurem… Neffen… zugetan seid.« Er schwieg, sichtbar verlegen. Aber er konnte nie und nimmer so verlegen sein wie Halan, der in diesem Moment tausend Tode starb.
»Und wer erzählt das?« fragte Anders, bewundernswert selbstbeherrscht. »Tratschende Diener? Eifersüchtige Feinde und Neider? Irgend jemand, dessen Meinung mir auch nur einen Deut bedeuten könnte? Und was soll ich fürchten?«
Laibrin schwieg. Halan wünschte sich, Anders würde einfach alles abstreiten - machten sie das sonst nicht immer? Lächeln, und leugnen, und alles war in Ordnung?
Dann sagte Laibrin: »Solche Gerüchte werden in Eurem Land vielleicht belächelt, aber Ihr sucht die Verbündung mit Indiradin. Wir sehen die Dinge hier anders. Eine solche Verbindung ist gegen die Natur.«
»Und weil Ihr verwerflich findet, wofür Euch Weisheit fehlt«, sagte Anders heftig, »muß ich jetzt Eure Tochter heiraten?«
»Ist es nicht vielmehr so«, jetzt hatte Halan einen Geistesblitz, der hinterher schoß und hinaus mußte, um den Spieß umzukehren, »daß man sich hier bei Hofe die gleichen Gerüchte von Eurer Tochter erzählt? Einer Tochter, die wir kennenzulernen bereits das Vergnügen hatten - ein Mädchen, an dem ein Knabe verlorengegangen scheint? Ist es das, was Ihr zu gewinnen hofft - weniger das Ansehen eines königlichen Schwiegervaters als mehr die Tilgung von Gerüchten, die Euch schwerer zu schaffen machen als alles, was man sich über uns erzählen mag?«
Laibrin stand auf. »Zieht keine vorschnellen Schlüssen und werdet nicht beleidigend, Harold! Nehmt Euch Zeit, über mein Angebot nachzudenken. Alexander - Ihr könnt nur gewinnen.«
»Ich muß nicht darüber nachdenken«, sagte Anders. »Die Antwort ist nein und bleibt nein« - aber da war Laibrin schon aus dem Raum.

Anders war außer sich, und Halan konnte es ihm nicht verdenken. »Was fällt dem Mann ein?« fauchte er. »Wer ist er, daß er über mein Leben bestimmen will?« Er schlug mit den Fäusten gegen die Wand. »Und wenn er mir tausend Jahre zum Überlegen gibt, die Antwort wird niemals anders lauten als Nein.«
Halan nickte. Anders’ Tonfall forderte Widerspruch; er wollte sich streiten, und mit Halans Verständnis war ihm kaum geholfen - er wurde nur zorniger und zorniger.
»Wenn er seine Tochter loswerden will, soll er sie doch an Ember verheiraten, der steht tiefer als ich in seiner Schuld!«
Angespannt blickte Halan zur Tür. Sie hatten sich zwar in Anders’ Zimmer eingeschlossen und betont, daß sie nicht gestört werden wollten - aber was half das, wenn Anders das ganze Haus zusammenbrüllte und jeder mithören konnte?
»Schrei mich nicht an«, sagte er leise. »Ich kann nichts dafür.« Er trat an Anders heran und versuchte ihn zu umarmen, doch Anders stieß ihn weg - ein ganz schlechtes Zeichen.
»Und wenn er sich auf den Kopf stellt« - Anders Augen irrten durchs Zimmer, suchten etwas zum Zerstören oder zumindest zum Werfen, aber die Gästezimmer in dan Sariv waren fast so spärlich eingerichtet wie die Quartiere in Tayellin - »ich werde seine Tochter nicht heiraten.« Als letzte Lösung packte er dann sein Kopfkissen und fing an, es gegen die Wand zu schlagen. »Nein! Nein! Nein!«
Halan ließ ihn gewähren, achtete nur darauf, nicht in Schlagweite zu stehen. Anders mußte sich jetzt abreagieren, und wenn er genug geschrieen und getobt hatte, konnten sie vielleicht in Ruhe miteinander über die Sache reden. Halan schloß die Augen, lehnte sich zurück und suchte nach Argumenten für Laibrins Position. Sie mußten beide Seiten abwägen, selbst wenn es schmerzte - und Anders war sicher nicht bereit, von sich aus auf Laibrin einzugehen.
Es brauchte eine Weile, bis Anders’ Schläge an Heftigkeit verloren und er sich schwer atmend auf der Bettkante niederließ, das geschundene Kissen immer noch wie eine Waffe in beiden Händen. Halan unternahm einen zweiten Versuch, ihn zu besänftigen, und diesmal ließ Anders die Berührung zu. Er lehnte sich an Halans Schulter, zitternd vor Wut.
»Ich will das nicht«, flüsterte er. »Alles was von jetzt an kommt - ich will das nicht.«
Halan strich ihm durch die völlig verstrubbelten Haare. »Ich weiß, daß du sie nicht heiraten willst, Anders, aber -«
»Kein Aber!« fiel ihm Anders ins Wort. »Und nicht nur sie! Es geht mir nicht um Laibrins Tochter - ich will auch keine andere!«
»Ich weiß«, wiederholte Halan und hörte nicht auf, ihm das Haar zu richten. »Ich weiß.«
»Koris ist mit deiner Mutter verheiratet worden, obwohl er sie nicht wollte«, fuhr Anders fort, und Halan mußte sein Herz schnell verschließen und trotzdem weitermachen, was ihm die Tränen in die Augen trieb. »Sie hat einmal im Leben etwas Gutes getan, indem sie dich geboren hat - aber sie hat Koris ins Unglück gestürzt. Alle Frauen tun das. Nimm Aralee.« Anders versuchte seiner Stimme einen Tonfall der Vernunft aufzuzwingen, doch es gelang ihm nicht - alles was Halan hörte waren Haß und Abscheu. »Ich will keine Frau«, sagte Anders, und nun wurde sein Klang sanfter: »Ich will dich.«
»Ich weiß.« Es gab nichts anderes, was Halan sagen konnte.
»Wenn ich eine Frau an mich heranließe, müßte ich alles verraten, was ich liebe: Dich, Koris, alles, mich selbst - ich lasse hier so vieles mit mir machen, was ich nicht will - hier muß ich eine Grenze ziehen, einmal sagen dürfen ‘Ich will nicht’.«
Halan sagte nichts mehr. Er nickte nur noch, während er ihm über Haare, Gesicht und Hände strich. Anders ließ es zu, doch er entspannte dabei nicht.
»Ich hasse alles an ihnen - wie sie sich bewegen, wie sie riechen, wie sich mich ansehen und mich begehren - eben alles.« Er schüttelte sich. »Wenn ich mir vorstelle, mit einer Frau schlafen zu müssen, wird mir schlecht.« Er drückte sich dicht an Halan und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich habe einmal mit jemandem geschlafen, der mich alle Selbstachtung gekostet hat - ich will das nicht noch einmal erleben müssen.«
Halan ging nicht darauf ein, tat lieber so, als sei dieser Satz nie gefallen - er hatte eine Ahnung davon, wen Anders meinte, und das war gar nichts, worüber Halan näher nachdenken wollte: Eine Vorstellung, bei dem ihm übler wurde als bei dem Gedanken, daß Anders sein Lager mit einer Frau teilte…
»Niemand verlangt von dir, sie zu lieben«, sagte er leise. »Niemand verlangt, daß du mich aufgibst oder verläßt oder verlierst. Es muß doch nur auf dem Papier bestehen, um den Schein aufrechtzuerhalten.«
»Aber ich will keinen Schein«, krächzte Anders, heiser, als ob ihm jemand die Luft abdrückte. »Ich will dich, und nur dich, und sonst niemanden. Ich will nicht mehr lügen und mich nicht mehr verstecken. Ich will sagen dürfen: ‘Seht her, das ist der Mann, den ich liebe - das ist mein Mann.’«
Halan küßte ihn schnell, obwohl ihm nicht danach war. Er brauchte dieses Versteckspiel, den Schein, die Masken - es war die letzte Sicherheit, die ihm noch blieb. Er küßte ihn noch mal, damit Anders seine Zweifel nicht spüren konnte.
»Das ist der einzige Grund, warum ich überhaupt noch König werden will«, sagte Anders atemlos. »Damit ich Gesetze machen kann; damit ich ein Gesetz machen kann, das mir erlaubt, dich zu heiraten. Mehr will ich nicht, im ganzen Leben nicht. Das Land, die Krone, das kann mir alles gestohlen bleiben. Ich will nur dich. Und wenn ich statt dessen diese Frau heiraten muß, oder irgend eine andere - was will ich dann überhaupt noch weiterleben?«
Diesmal sagte er das nicht als Drohung. Diesmal meinte er es ernst, und es machte Halan Sorgen, weil es sich so nahtlos in die Ängste des Winters einfügte. Manchmal fehlte Anders jeder Lebenswille, und das Schlimme daran war, daß dann auch Halan an seinem Leben zu zweifeln begann - war nicht sein Leben noch viel sinnloser als Anders’? In Anders setzten immerhin noch ein paar Leute ihre Hoffnungen - aber ohne Anders, was war dann Halan?
Er küßte Anders noch ein letztes Mal, dann stand er auf. »Ich werde mit Laibrin reden«, sagte er. »Ich werde ihm sagen, daß es noch zu früh ist, jetzt mit einer derartigen Idee zu dir zu kommen -«
Er war nicht schnell genug. Anders schoß hoch und ohrfeigte ihn.
»Du hast mir nicht zugehört!« schrie er. »Es ist nicht zu früh, es ist nie. Nie, hörst du? Nie, niemals.« Anders schlug nicht weiter auf Halan ein. Er ließ sich zurücksinken und begann zu weinen.
»Versteh doch, Anders«, sagte Halan, tröstete ihn nicht, noch rieb er sich selbst die geschlagene Wange. »Er soll es doch nur denken. Er soll uns Aufschub geben, damit er uns nicht aus seinem Haus wirft.«
Anders blickte auf, und seine Augen waren ebenso ernst wie gerötet. »Von mir aus darf er uns hinauswerfen. Er hat seinen Preis genannt, ich will ihn nicht bezahlen - es ist nur ehrlich, wenn wir gehen.«
»Und wohin sollen wir gehen?« Halan verfluchte sich, daß er Anders nichts von dem erzählt hatte, was während des Winters im Rest der Welt geschehen war: Daß er dafür gesorgt hatte, daß keine von Laibrins Depeschen jemals Anders erreichte - vom Ausgang des Krieges zwischen Loringaril und Doubladir, vom Ende von Vigilanders Haus und vom Sturz Vigilanders und von dem neuen Herrscher… Jetzt konnte er Anders nicht plötzlich sagen, wie wenig Welt nur noch für sie offenstand…
»Irgendwohin«, sagte Anders. »Und wenn es der Tod ist, solange wir nur gemeinsam dorthin gehen.«
Halan schüttelte den Kopf. Seine Hand lag schon auf dem Türgriff, und er wollte nicht vom Tod reden. Lieber, tausendmal lieber, teilte er Anders mit einer Frau - so wie er ihn schon jetzt mit anderen Männern teilen mußte, von denen der stärkste sein eigener toter Vater war - als mit dem Tod. Aber Anders war nicht in der Verfassung, jetzt so ein Gespräch ernsthaft zu führen. »Ich werde mit Laibrin reden«, sagte er. »Ich werde diplomatische Worte wählen, und ich werde ihm sagen, wie du entschieden hast.« Er fühlte sich zittern bei den Worten. Er log. Und wenn Anders merkte, daß er log…
Anders sträubte sich, wörtlich, sichtbar. »Ich werde selbst gehen«, flüsterte er. »Wenn ich ihm diese Entscheidung nicht selbst beibringen kann, wer soll mich dann jemals wieder ernst nehmen?«
Halan schüttelte den Kopf. »Du bleibst«, sagte er fest. »Ich gehe. Du bist noch immer voll Zorn - ich habe Angst, du verlierst die Beherrschung und tust Laibrin etwas an, oder schlimmer: Seiner Tochter. Muß ich dich daran erinnern, daß du schon einmal ein Mädchen an den Rand des Todes geprügelt hast - und heute bist du stärker als damals.«
»Aber ich muß doch -«, versuchte Anders es noch einmal.
»Vertrau mir«, sagte Halan. »Wenn du mich liebst, vertrau mir.«
Und weil er Anders liebte, mußte er ihn hintergehen.
Anders nickte unglücklich. Und Halan fühlte sich erbärmlich, als er zu Laibrin ging und ihm erklärte, Alexander sei nicht glücklich über den Vorschlag, doch er kenne seine Verpflichtung und wisse, was sein Land und die Welt von ihm erwarteten und daß immerhin der Fortbestand von Korisanders Haus auf dem Spiel stünde… Und daß er darum seine endgültige Entscheidung hinauszögern würde, bis er die Gelegenheit hatte, das gute Kind besser kennenzulernen, nur wollte er bis dahin nicht mehr vom Heiraten wissen, und wehe dem, der ihn in den nächsten Wochen noch einmal darauf ansprechen sollte…
Halan fühlte sich noch erbärmlicher, als er danach zu Anders zurückkehrte. »Laibrin ist sehr enttäuscht«, sagte er. »Doch er wird nicht mehr vom Heiraten sprechen.« Es war eine wahrheitsgemäße Zusammenfassung von dem, was sie geredet hatte, und doch Lüge durch alles, was er fortließ.
»Mehr nicht?« fragte Anders ungläubig und mißtrauisch. »Das kann doch nicht sein!«
»Glaub mir«, sagte Halan. »Vertrau mir.« Er sperrte alle Gefühle, die ihn verraten konnten, in sein Innerstes ein und legte einen Hauch von Liebe davor in der Hoffnung, Anders täuschen zu können. Ihm war übel - aber er durfte kein schlechtes Gewissen haben; wenn Anders wirklich mit Ember geschlafen hatte und Halan darüber angelogen, verdiente er selbst keine Ehrlichkeit. Anders konnte doch gar nicht gut von schlecht unterscheiden, auch jetzt nicht, nicht, wenn es um seine eigene Zukunft ging - so gefangen war er in Ängsten und Selbstsucht, daß ihm Halans kühle Weitsicht fehlte. Halan war gezwungen, diese Entscheidung für ihn ui treffen, nichts anderes hatte er getan - und daß ihm dabei immer noch übel war, sprach doch nur für ihn…
»Dann beweise es«, sagte Anders. »Schlaf mit mir. Bitte.«
Es war wieder Erpressung, doch diesmal hatte Halan keine Wahl; er mußte es tun, damit Anders keinen Verdacht schöpfte, damit Anders den Verdacht, den er schon längst hatte, wieder verwarf. Doch es war ein Fehler. Es war keine Liebe zwischen ihnen in dieser Nacht, es war nicht warm, es war nicht schön, und sie wußten es beide. Halan konnte sich nicht verstellen und gleichzeitig lieben. Nicht einmal sich lieben lassen. Am Ende schlief er ein, erschöpft und unglücklich, schmerz- und schuldverzerrt, Anders warmer Körper dicht an seinem wie ein drohendes Mahnmal.
Als er am anderen Morgen aufwachte, war Anders fort.

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