Der Tag begann mit
Schmerzen. Natara erwachte mit einem Ziehen in der Brust - ein
fremdes Gefühl, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie konnte
einatmen und ausatmen, daran lag es also nicht, aber ihre Brust tat
dabei weh, als ob sie einen Gurt darum gespannt hatte… Nein,
nicht ihre Brust. Ihre Brüste. Da waren zwei kleine
Huppel, die vorher noch nicht da waren, nicht größer als
Knöpfe. Als Natara sie anfaßte, taten sie weh - sehr weh,
wenn sie darauf drückte, und zumindest noch ein bißchen,
wenn sie leicht mit der Fingerspitze darüberfuhr. Trotzdem
konnte Natara nicht anders, als immerfort nachzufühlen. Sie
konnte das nicht glauben. Sie war ohne Brüste schlafen gegangen,
und nun waren da diese beiden Knospen…
Wenn sie schon so
weh taten, wenn sie klein waren, wie schlimm war das dann erst für
die ausgewachsenen Frauen? Mit plötzlichem Mitleid mußte
Natara an die Frauen denken, die sie kannte - Aralee hatte noch
Glück, deren Brüste waren ja ziemlich klein, und bei Lyda
konnte man unmöglich sagen, ob sie überhaupt welche hatte,
unter diesen unförmigen Kitteln, die sie immer trug, konnte man
ihren Körper nur erahnen - aber die arme Roveen! Natara mochte
Roveen nicht besonders, sie war ihr immer irgendwie unheimlich, und
auch die erste Begegnung mit dieser Frau würde sie so schnell
nicht vergessen: Aber nun tat sie Natara leid. Und vielleicht trug
sie immer deswegen Kleider, bei denen man soviel von ihren Brüsten
sehen konnte, weil sie etwas, das so weh tat, nicht auch noch
verstecken mochte? Wenn Frauen schwanger wurden, zeigten sie das ja
auch… Natara wußte, daß sie auf diese Frage keine
Antwort bekommen sollte. Denn ganz sicher würde sie die niemals
stellen. Nicht an Roveen, zumindest.
Natara wurde sich
länger und ausgiebiger als sonst - irgendwie hatte sie das
Gefühl, daß die neuen Brüste sehr ausführlich
gewaschen werden mußten, und das kalte Wasser tat gut gegen das
Ziepen. Dann zog sie sich vorsichtig an und starrte an sich hinunter.
Konnte man die Brüste jetzt noch sehen? Natara versuchte es vor
ihrem kleinen Spiegel. Wenn sie die Schultern ganz eng zusammenkniff
und die Brust dabei rausstreckte und sich auch noch ganz lang machte
- dann konnte man die Brüste unter dem Kleid immer noch nur
erahnen. Das war nicht gerecht! Wenn Natara sich jetzt schon fühlen
mußte wie eine richtige Frau, wollte sie auch, daß man es
ihr ansah. Das war ein besonderer Tag in Nataras Leben, besonderer
als alle, seit sie ins Schloß gekommen war, denn zum ersten
Mal passierte etwas aus Natara heraus und nicht, weil irgendwelche
Fremden das so bestimmt hatten. Und niemand würde wissen, was
für ein besonderer Tag das war.
Natara seufzte.
Eines Tages würde man ihre Brüste bestimmt noch sehen
können. Bis dahin mußte sie diese Schmerzen eben allein
ertragen.
Sie tastete noch ein
letztes Mal nach ihren Brüsten, stellte fest, daß sie
immer noch da waren, und machte sich dann auf den Weg zu Aralee, um
ihre Aufgaben für den Tag zu erfragen.
Das Leben als
Chronistin war eigentlich wirklich interessant, jetzt, wo Natara sich
daran hatte gewöhnen dürfen und nicht mehr jede Woche etwas
völlig Neues zu tun bekam. Als Chronistin konnte sie Orte sehen,
die sie sonst niemals hätte sehen können, und Leute
treffen, von denen konnte der Bürgermeister nur träumen,
und niemand scheuchte sie aus dem Zimmer, weil sie doch noch und nur
ein Kind war - Natara hätte sich das vor einem Jahr ganz
bestimmt nicht so vorgestellt, da wußte sie ja noch nicht
einmal, daß sie mit ihrer Tanzschule auf die Krönung
durfte, aber sie mochte ihr Leben, und sie mochte Amra.
Aralee lächelte,
als Natara in ihr Zimmer trat, doch sie wirkte besorgt und
angespannt. Eigentlich kannte Natara sie nicht anders. Manchmal war
sie fröhlicher - wenn Amra dabei war, dann blühte sie immer
auf - aber meistens waren ihre Augen bekümmert. Oder streng.
Jetzt war sie streng. »Du bist spät dran, Natara. Hast du
verschlafen?«
Schnell schüttelte
Natara den Kopf. »Nein - es tut mir leid!« Sie wollte
Aralee nicht mit ihren Brüsten belästigen. Aralee reagierte
sehr empfindlich, wenn sie fühlte, daß man ihr die Zeit
stahl. Wenn sie es nicht von selbst merkte und Natara dann darauf
ansprach, würde die jetzt auch kein Thema daraus machen.
»Mit Leidtun
ist es nicht getan, das weißt du«, sagte Aralee. »Es
richtig machen ist die einzige Antwort, die ich zulasse. Wenn du
heute Nachmittag ebenfalls zu spät erscheinen solltest, kann das
fatale Folgen haben - nicht nur für dich, nicht nur für
mich und Amra, sondern für das ganze Land.«
Natara nickte
schnell. Sie hatte keine Ahnung, was am Nachmittag sein sollte - aber
es machte ihr jetzt schon Angst.
»Du bist
Chronistin, kein Kindermädchen«, fuhr Aralee fort. »Heute
bist du als Chronistin gefordert, sonst nichts. Du wirst bei einer
sehr wichtigen Besprechung Protokoll führen, und dabei sind
Fehler genauso schlimm wie Unsicherheit.«
Wieder nickte Natara
und bemühte sich um ein selbstbewußtes Gesicht. »Ja,
Aralee. Ich werde mein Bestes geben.«
Aralee schnaubte.
»Ob es dein Bestes ist oder nicht, ist mir egal - mach es
einfach richtig. Und verdammt -« Jetzt dachte Natara fast,
Aralee wolle sie ohrfeigen - »hör endlich auf, an dir
herumzuzuppeln!«
Das Blut schoß
Natara ins Gesicht. Sie hatte noch nicht mal gemerkt, daß ihre
Hände schon wieder zu ihren Brüsten gewandert waren…
Schnell verschränkte sie die Arme hinter dem Rücken, aber
es war schon zu spät. Sie konnte nur noch hilflos stammeln. »Es
tut mir leid - ich wollte nicht - ich habe nur heute morgen -«
»Das
interessiert mich nicht!« fauchte Aralee. »Erzähl es
mir morgen, oder erzähl es sonstwem - aber nicht jetzt! Nicht,
solange dieser Mann im Gästequartier nur darauf wartet, unser
Land zu zerstören.«
In dem Moment waren
Nataras Brüste und alles vergessen. Ihr wurde kalt. »Zerstören?«
Sie formte das Wort stumm aus tauben Lippen. Sie hatte schon wichtige
Leute getroffen, den Richter, die Grafen - keiner von ihnen war
wichtiger als Amra oder Aralee. Und keiner von ihnen wollte Koristan
zerstören. Wie zerstörte man ein ganzes Land?
Aralee nickte,
grimmig, zornig, besorgt. »Er stand heute Nacht vor unseren
Toren, Ansgar, der Kriegsbotschafter von Doubladir.«
»Was ist ein
Kriegsbotschafter?« hörte Natara sich fragen. Immerhin,
was Doubladir war, wußte sie. Und auch, was Krieg. Beide hatten
eines gemeinsam: Sie waren immer weit weg.
»Der
Kriegsbotschafter kommt nicht zum Verhandeln«, sagte Aralee.
»Er nimmt seinen Titel wörtlich: Er überbringt eine
Botschaft, sonst nichts. Und seine Botschaft lautet Krieg.«
»Aber warum?«
Nataras Stimme war leise und zitterte etwas, aber sie schluchzte
nicht - etwas gab Natara die Sicherheit, daß in dieser
Situation jeder Angst haben konnte, und durfte, und sollte. »Was
haben wir getan? Wir haben doch nichts getan!«
»Das ist
wahr«, sagte Aralee, plötzlich ganz ruhig. »Und das
werde ich diesem Mann auch sagen. Doubladir darf uns keinen Krieg
erklären - auch wenn sich dort die Ereignisse überschlagen
haben und ihr neuer König noch seltsamer ist als Amra, sind sie
doch immer noch an die Gesetze der Rache gebunden. Keine Rache, kein
Krieg. Und hier gibt es nichts zu rächen.«
Natara bemühte
sich aufzuatmen, doch es war falsch und gespielt, ganz wie die Worte:
»Vielleicht ist es nur ein Irrtum?«
Aralee schüttelte
den Kopf. »Es wäre das erste Mal, daß sich ein
Kriegsbotschafter im Land geirrt hätte.« Aber sie folgte
Nataras Beispiel und setzte ein Lächeln auf. »Solange er
in Koristan ist, hat er sich an unsere Regeln zu halten. Unsere
Regeln verlangen einen Kronrat, und den werden wir ihm bieten.«
Vielleicht war das Lächeln auch echt?
Natara nickte.
Kronrat, das war nicht ganz neu für sie, immerhin. »Also
Ihr, Amra, ich, der Botschafter, der Richter -«
»Kein
Richter«, unterbrach Aralee sie. »Dieses Land wird von
Frauen regiert, und darum wird Ansgar auch nur auf Frauen treffen.
Roveen wird dabei sein, und vielleicht sogar Gaell, ich bin noch
unentschlossen - es ist ein billiger Versuch, vielleicht, aber wenn
es so funktioniert…«
»Weil man
keinen Krieg gegen Frauen führen darf?« fragte Natara und
fühlte, daß ihre Brüste wieder stachen und kniffen.
Aralee lachte.
»Schön wär’s. Nein, es ist anders - dieser
Mann lebt nur für den Krieg. Er kann nur mit anderen Männern
umgehen, Frauen überfordern ihn, vor allem, wenn es vier auf
einmal sind.«
»Vier?«
fragte Natara. »Wer denn noch?« Selbst wenn Roveens
Freundin dabeisein sollte, waren das immer noch nur drei…
»Für
heute«, sagte Aralee, »zählst du als Frau. Er wird
dich ernst nehmen. Frag Roveen, wie du das anstellen sollst,
verstanden?«
In diesem Augenblick
begriff Natara begriff Natara etwas: Nämlich, daß sie zu
alt war, um immer nur dümmlich zu nicken und verlegen
herumzustottern. Und das nicht erst seit heute. Wie sollte Ansgar sie
ernst nehmen, wenn sie das nicht einmal selbst tat? So nickte Natara,
aber auf eine ganz andere Weise. Selbstverständlich. Beiläufig.
»Zählt mich zu den Frauen«, sagte sie. »Und
nicht nur für heute.« Niemand in diesem Schloß
brauchte ein schüchternes kleines Mädchen, wenn draußen
der Krieg vor der Tür stand. »Wenn ich das heute tue, tue
ich es richtig. Vielleicht nicht gut, aber richtig.«
Es war ein ganz
neues Gefühl, das sie durch die Gänge trug, hin zu der
Unterkunft von Roveen und Gaell. Natara klopfte an, bevor sie
eintrat. Aber sie wartete nicht mehr auf ein ‘Herein’.
Eigentlich mußte
Natara zugeben, daß sie lieber in Roveens Räumen war als
in Aralees. Es roch hier anders - nach süßem Parfum, wie
Nataras Mutter es benutzte, nur viel intensiver. Es roch nach zuhause
- nach einem Ort, an dem Natara seit so vielen Monaten nicht gewesen
war, daß er den Namen längst nicht mehr verdiente. Und
ebensolang hatte sie ihre Eltern nicht mehr gesehen. Doch das
bedeutete nie und nimmer, daß Natara sie vergessen hätte!
Und wenn sie in Roveens Zimmer trat und das Parfum roch, war es immer
ein Erinnern. Ein trauriges, aber schönes Erinnern. Natara
mochte das Parfum. Bei Aralee roch es immer nur nach Kräutern -
es paßte zu Aralee, es war streng und fremd. Aber das hier…
Das konnte Natara gefallen. Sie war nur selten hier, und noch
seltener für lang, aber wenn, dann roch sie hinterher für
den Rest des Tages selbst so. Wie früher, wenn sie sich heimlich
mit dem Duftwasser ihrer Mutter betupfte, nur daß sie niemand
dafür schalt oder ohrfeigte. Jetzt ohnehin nicht mehr. Jetzt war
Natara alt genug für solche Dinge.
»Guten
Morgen«, sagte Natara laut, als sie niemanden sah, blieb stehen
und wartete. Wenn Roveen und ihre Freundin - Gaell, das unangenehmste
Stück Frau, das Natara sich denken konnte - noch nicht
aufgestanden waren oder sich gerade erst ankleideten, mußte
auch eine zur Frau gereifte Natara da nicht gleich reinplatzen. Die
beiden Frauen hatten keine Aufgaben, die sie wie Natara zu zeitigem
Aufstehen gezwungen hätten - eigentlich wußte Natara nicht
einmal, ob sie überhaupt Aufgaben hatten.
Roveen war am
ehesten so etwas wie eine bessere Zofe, und eine Freundin von Aralee,
wenn diese überhaupt so jemanden hatte. Und Gaell war eben da
und bewohnte die gleichen Räume wie Roveen - erst das
Gefangenenquartier, jetzt, seit ein paar Monaten,seit der Krönung,
eine schöne, größere Zimmerflucht. Natara wollte gar
nicht wissen, wie viele ungenutzte Räume es hier im Palast gab,
leer und verlassen bis auf die Möbel darin. Es hatte sein Gutes
- wenn jemand plötzlich vor der Tür stand, so wie dieser
Kriegsbotschafter, war sofort ein Zimmer für ihn bereit. Aber
unheimlich war es trotzdem.
»Guten
Morgen«, sagte Natara noch einmal, lauter. »Roveen? Seid
Ihr auf?«
Aber da trat Roveen
schon durch den Vorhang aus dem Nebenzimmer, bekleidet mit einem
blauen Ding, das ein Morgenmantel sein mochte und vorne offen stand,
und einem spitzenbesetzten hellen Ding darunter, das wie ein
Nachthemd aussah. Aber für den Augenblick konnte Natara nicht
anders, als der Frau auf die Brüste zu starren, und dann an sich
selbst hinunter, und dann wieder auf die Brüste.
»Natara,
Liebes, so früh am Tag!« Roveen eilte nicht nur auf Natara
zu, sondern deutete sogar eine Umarmung an - das war doch ein
himmelweiter Unterschied zu den Begrüßungen, die sie von
Aralee erwarten konnte! Eigentlich war Nataras Abneigung gegen Roveen
unverdient, aber Natara hatte ein gutes Gedächtnis für
Kränkungen, und vor allem wollte sie gar nicht erst wissen, was
diese Frau hinter ihrem Rücken über Natara redete - oder
über Aralee, was das betraf. Aralee war schroff und streng, aber
sie lästerte nicht und tratschte nicht. »Aralee schickt
dich, nicht wahr?«
Natara nickte. »Es
geht um den Kronrat.«
»Ach, das habe
ich mir schon gedacht.« Roveen lachte. »Was soll’s
denn sein? Ein paar Runden mit dem Lockeneisen und schöne
Wollsocken ins Hemd?« Sie tätschelte Natara die Wangen.
Aber Natara
schüttelte den Kopf und machte einen Schritt rückwärts.
Sie hatte jetzt die Wahl: Sie konnte fragen, woher und seit wann
Roveen vom Kronrat wußte, wenn sie doch tat, als sei sie gerade
erst aufgestanden - oder aber mit stolzgeschwellter Brust sagen:
»Nein, Roveen, ich brauche dort keine Socken mehr.«
Natara entschied sich für die wichtigen Dinge im Leben. Und was
Roveen mit Aralee besprach, ging sie ja auch nichts an.
»Hm«,
sagte Roveen belustigt. »Nein? Wie kommt’s?«
»Ich bin ab
heute eine Frau«, antwortete Natara und kam sich doch ein klein
wenig albern dabei vor. »Dann will ich mich nicht mehr als eine
verkleiden müssen.«
Roveen schüttelte
den Kopf. »Deine Mühen in Ehren, Kleines - aber wo nichts
ist, da muß man der Natur auf die Sprünge helfen.«
>Und
jetzt, endlich, hatte Natara die Gelegenheit zu sagen: »Nicht
nichts.«
Obwohl Roveen, so im direkten Vergleich, sicher Recht hatte. Aber
Roveen verstand den Wink sofort, und sie
lachte auch nicht. Statt dessen zeigte sie ein erfreutes Lächeln.
»Na, endlich!«
Natara nickte. Wenn
Roveen jetzt nur nicht fragte, ob sie die mal sehen dürfte!
Doch Glück
gehabt: »Na, da bist du sicher aufgeregt«, sagte Roveen
und ließ Natara die Erleichterung, wieder nur zu nicken. »Tut’s
weh?«
Wieder nickte
Natara, diesmal nicht ohne das Gefühl des Errötens. Also
stimmte es. Roveen war eine Frau, die sich auskannte.
»Ach, mach dir
nichts draus«, sagte Roveen. »Ich kann dir gleich eine
Salbe geben, die ist sehr gut. Denk daran - das sind deine Schätze,
du mußte sie hegen und pflegen, damit sie nicht eines Tages
hängen wie die Euter an einer Kuh.« Auch wenn da noch
nichts zum Hängen war - auch wenn es noch nicht mal zum Stehen
reichte - Natara nickte, begierig, noch vor dem Kronrat jedes
Geheimnis des Frauseins zu entschlüsseln. Das waren immerhin
angenehmere Gedanken als der, daß ein Krieg vor der Tür
stand!
Und Roveen - die
sicher auch von der Bedrohung wußte - hörte gar nicht mehr
auf zu strahlen. »Oh, da wird sich Gaell aber freuen, daß
es etwas zu feiern gibt!«
>»Wie
- freuen?« fragte Natara verwirrt. »Wieso freut sich
Gaell über meine
Brüste?« Sie wußte genug über Gaell, um sich da
zu wundern.
Und Roveen
schüttelte auch schon den Kopf. »Nein, natürlich
nicht! Gaell interessiert sich nicht für deine Brüste -
ohne dich jetzt verletzen zu wollen, aber für das, was da jetzt
an dir wächst, würde Gaell sicher nicht mal das Wort
‘Brust’ verwenden. Brüste fangen für Gaell da
an, wo das Kleid nicht mehr zugeht. Was das angeht, hat sie sogar
Mitleid mit mir, weil ich so flach bin.«
Die Höflichkeit
verbot es Natara, jetzt Roveens Busen zu kommentieren - aber flach…
Man mußte blind sein, um das für flach zu halten! »Aber
- warum soll sie sich dann freuen?« fragte Natara.
Roveen lachte und
tätschelte Natara nochmal. »Dummerchen, Gaell freut sich
über jeden Anlaß zum Feiern.«
Natara verstand
immer noch nicht. »Wie - Feiern? Wir können doch kein Fest
veranstalten wegen meinen -« Sie brach ab. Roveen wollte sie
nur zum Narren halten, und wieder war Natara auf sie hereingefallen!
Wütend biß sie die Lippen zusammen.
Wieder lachte
Roveen. »Kein großes Fest, nicht mit dem ganzen Hofstaat
und so - nur wir drei, hier auf dem Zimmer. Gaell würde sich
natürlich über ein paar Männer noch mehr freuen, aber
wir müssen deine neuen Schätzchen nicht gleich den Löwen
zum Fraß vorwerfen, nicht wahr?«
Natara antwortete
nicht. Sie wollte sich nicht zum Narren halten lassen. Hier war es
viel zu eng zum Feiern. Und selbst wenn der Platz gereicht hätte
- ohne Musik konnten sie nicht tanzen. Es machte keinen Spaß.
»Ihr redet Unsinn«, sagte Natara dann. »Und hier
kann man nicht feiern.«
Roveen kniff sie in
die Wange. »Du mußt viel lernen, das sehe ich schon.
Gaell und ich feiern hier regelmäßig. Wir suchen uns einen
Grund und machen eine Flasche Wein auf.«
»Das ist doch
kein Feiern!« Jedenfalls nicht das, was Natara darunter
verstand. »Und ich trinke auch keinen Wein«, setzte sie
schnell hinterher, bevor Roveen auf die Idee kommen konnte, ihr
welchen anzubieten. Doch genau das hatte die Frau vor.
Roveen seufzte.
»Willst du nun lernen oder nicht?«
Natara erwiderte
ihren Blick fest. »Ich will lernen, was ich tun muß,
damit mich der Kriegsbotschafter ernst nimmt.«
Roveen verdrehte die
Augen. »Komm, setz dich erst mal hin«, sagte sie und
deutete auf die beiden hübschen Sesselchen, die sie am Fenster
stehen hatte, weich, bequem und mit Blick in den Park. »Und
dann sagst du mir alles, was du über Doubladir weißt.«
Natara gehorchte.
Wenn Roveen sie jetzt über Doubladir unterrichtete, mußte
Natara das wenigstens nicht alles nachschlagen gehen! »Es ist
ein großes Land, das nördlich von uns liegt«, sagte
sie. »Nordöstlich. Sie verehren dort den Engel der Rache,
Vigilander. » Und Doubladir hatte einen neuen König - oder
war das doch Loringaril? Natara sagte es lieber nicht, um es nicht
durcheinanderzubringen. »Und sie wollen uns den Krieg
erklären.«
»Ja«,
sagte Roveen. Einen Moment lang merkte man, daß auch sie sich
Sorgen machte, auch wenn sie es nicht so offen zeigte wie Aralee.
»Aber du bist noch nie einem von ihnen begegnet, oder?«
Natara schüttelte
den Kopf. Höchstens auf der Krönung - da waren so viele
Leute. Aber danach - oder separat - nein.
»Sie trinken
den ganzen Tag«, sagte Roveen. »Männer, Frauen,
Kinder - das ist da normal. Das Land ist kalt und häßlich,
und sie haben nicht viel zu tun, außer Krieg zu führen.
Wenn du keinen Wein trinkst, wird Ansgar dich niemals ernst nehmen.
Zumindest wird er dich nicht wie eine Erwachsene behandeln.«
Natara schluckte.
»Aralee läßt mich nie Wein haben, und Amra bekommt
natürlich auch keinen.« Und daran sollte auch der
Kriegsbotschafter nichts ändern.
»Oh, Amra ist
auch ganz und gar zu jung«, antwortete Roveen entschieden.
»Aber du bist alt genug, zumindest ein Glas wirst du trinken
müssen. Keine Angst, es ist nicht schlimm. Trink nicht zuviel
und tu so, als ob es nichts besonderes wäre, und er wird nichts
merken.« Roveen lachte. »Er wird kein Wetttrinken mit dir
machen, keine Sorge. Du darfst nur nicht das Gesicht verziehen, sonst
verrätst du dich.«
Das klang alles so…
dumm. Man sollte meinen, wenn der Mann ein Kriegsbotschafter war,
mußten ihm ganz andere Dinge wichtig sein als ob jemand Wein
trank! Und so wollte Natara schon mit Vehemenz widersprechen, als sie
der Hafer stach. »Dann bringt es mir bei«, sagte sie,
auch wenn ihre Stimme dabei zitterte. »Tun wir so, als würden
wir… meine Brüste feiern, und Ihr zeigt mir, wie man
nicht das Gesicht verzieht.«
Roveen strahlte.
»Das ist mein Mädchen! Irgendwann kommt für jeden von
uns der Moment zum Erwachsenwerden, und wenn wir damit warten, bis du
blutest, ist das unschön - und ich suchte doch die ganze Zeit
noch Gründen, um den Übungswein aufzumachen Dann will ich
mal Gaell wecken und ihr sagen, daß es heute etwas zum Feiern
gibt.« Sie beugte sich zu Natara hinunter und setzte hinzu,
leise, als ob Gaell doch schon wach war und hinter dem Vorhang
lauschte: »Unter uns, sie hat hier sonst nicht mehr zu tun als
die Leute von Doubladir, wenn die gerade keinen Krieg haben.«
Natara verstand
nicht so recht, was Roveen meinte, aber sie fragte nicht nach. Sie
wollte Dinge lernen, über Doubladir und Wein und das Leben als
Frau - aber für das, was Gaell über den Tag so trieb,
fühlte sie sich doch noch zu jung. Dann doch lieber: »Was
ist ein Übungswein?«
Doch Roveen lachte
nur und verschwand im Nebenzimmer. Als sie nach einer Weile
zurückkam, hatte sie nicht Gaell dabei - die erschien erst einen
Augenblick später, noch im Nachthemd, mit losem Haar und
herzhaft gähnend - sondern ein silbernes Tablett mit einer
Karaffe und drei Kelchen. Nataras Herz klopfte heftiger. Insgeheim
hatte sie sich immer gewünscht, bei so einem festlichen Empfang
einmal dabei zu sein und nicht nur am Rand zu stehen - und doch war
es immer so, daheim bei ihren Eltern wie auch hier. Tochter und
Chronistin waren Berufe, die eines gemein hatten: Sie standen immer
im Schatten. Einmal wollte Natara dazugehören. Im Mittelpunkt
stehen. Teilhaben statt nur beobachten. Jetzt.
Sie vergaß,
daß sie Gaell nicht ausstehen konnte und Roveen nur so halb.
Hinter dem Rücken der beiden konnte sie hinterher immer noch
schlecht reden. Aber jetzt sollte es ein Vormittag werden, den sie
nie vergessen würde - als Vorbereitung für den grausigsten
aller Nachmittage. Sie wollte feiern, daß es noch kein Krieg
war.
Vielleicht würde
diese Gelegenheit niemals wiederkommen.
»Ach, ich
nenne ihn nur Übungswein«, sagte Roveen, »weil er
nicht so stark ist wie normaler Wein. Er ist nicht aus Trauben,
sondern aus Holunderbeeren, und die sind kleiner. Darum.«
»Dieses
Mädchen sitzt in meinem Sessel«, beschwerte sich Gaell.
Roveen fuht ihr mit
der Hand durch die zerzausten Locken. »Oh…«,
machte sie mit gespieltem Mitleid. »Armes Hascherl… Du
wirst es überleben.«
>Gaell
schnaubte, »Ja, ich weiß, ich habe nichts mehr zu melden,
seit du so dick bist mit der Sirahë.«
Roveen fuhr damit
fort, die blonden Strähnen der anderen Frau zu wickeln. »Oh,
Astarka… Wenn ich nicht so dick wär mit der Sirahë,
hättest du überhaupt keinen Sessel, und es gäbe heute
auch keinen Wein, also…«
Gaell zog sich und
ihre Haare weg. »Und wenn schon.«
»Und du darfst
dich heute an einen richtigen Mann ranmachen.«
Roveen seufzte, und
Gaell seufzte auch. »Ein Doubladai… Was stellt sich die
Sirahë vor? Der Mann ist unser Feind, und selbst wenn nicht - er
ist über und über behaart!« Ohne auch nur zu fragen,
langte sie nach der Karaffe, füllte sich einen Kelch und leerte
ihn.
Fragend blickte
Natara zu Roveen, unsicher, ob sie sich auch selbst bedienen durfte
oder sollte. Aber da nahm Roveen schon selbst die Karaffe und
schenkte ein: Einen vollen Kelch für sich selbst, und einen
halben für Natara.
»Bitte sehr -
dann probier mal. Es wird dir nicht schmecken, aber das kommt noch.
Nur ausspucken darfst du es nicht - wir machen so ungern sauber.«
Natara lachte
verlegen - sie wollte jetzt nichts dazu sagen, daß die beiden
Frauen angeblich keine Dienstmägde hereinließen, noch
nicht mal zum Putzen, und daß eine entsprechende Unordnung
herrschte. Sie mußte hier schließlich nicht wohnen, und
wenn die beiden sich hier wohlfühlten… Natara nickte,
nahm den Kelch, und probierte vorsichtig. Und da sie es durfte,
verzog sie das Gesicht. Roveen hatte Recht. Es schmeckte Natara
nicht. Noch nicht, zumindest.
Roveen lachte. »Na,
nun stell dir mal vor, der Kriegsbotschafter säße hier,
und du müßtest das alles austrinken, ohne mit der Wimper
zu zucken, hm?«
Natara nickte
wortlos und nippte nochmal an ihrem Wein. Der Geschmack war fremd -
nicht scheußlich, nur fremd. Süß, sauer, bitter -
Natara konnte es nicht sagen, es war etwas von allem, und sie war
froh, daß ihr Kelch nur halbvoll war. Aber zumindest mußte
sie beim zweiten Schluck nicht mehr so grimassieren - also mußte
ssie auch nicht mehr fürchten, sich beim Kronrat zu blamieren!
»Weißt
du, worauf du achten mußt?« fragte Roveen.
Natara blickte sie
fragend an, einen Moment lang unsicher, ob nicht doch Gaell gemeint
war - diese füllte ihren Kelch zum zweiten Mal nach und
verschwand damit wieder im Nebenzimmer, worüber Natara froh war.
»Na, du,
Kleines«, sagte Roveen. »Glaubst du, du kannst
aufpassen?«
»Auf - wen?«
fragte Natara vorsichtig. »Auf Gaell? Oder auf den
Botschafter?« Sie mußte immer auf alles und jeden
aufpassen. Das gehörte zu ihrem Amt als Chronistin -
»Auf dich,
Dummchen!« Roveen stupste sie auf die Nase. »Trink nicht
zu schnell, trink nicht zuviel - du weißt, was sonst passiert?«
Hastig schob Natara
den Kelch von sich weg. »Man… man wird betrunken?«
sagte sie leise. Und was das bedeutete, wußte sie - Leute, die
sich betranken, endeten als Bettler, denen man nichts geben durfte,
weil sie alles sofort vertranken…
»Genau«,
erwiderte Roveen. »Und das wollen wir bei dir noch nicht, nicht
heute, zumindest.«
Natara hatte schon
Betrunkene gesehen. Sie fielen immerzu hin und riefen unanständige
Sachen - so wollte Natara keineswegs enden!
»Du kannst das
ruhig austrinken«, sagte Roveen. »Von dem bißchen
hier passiert dir nichts. Du mußt nur aufhören, wenn du
merkst, daß dir schlecht wird. Verstehst du? Danach wird es
gefährlich. Vorher mußt du dir keine Sorgen machen.«
»Und das«,
fragte Natara und runzelt unwillkürlich die Nase, »ist
alles?« Wenn es so einfach war, nicht betrunken zu werden,
warum passierte das dann immer noch so vielen Leuten?
Lachend schüttelte
Roveen den Kopf. »Das ist alles. Aber das kann für manche
Leute ganz schön schwer sein - hast du meine süße
Gaell gesehen? Die gehört zu denen, die weitertrinken, auch wenn
ihr schlecht wird - und hinterher hat sie dann das Schlamassel. Aber
du bist vorsichtig, ich kenne dich doch.« Sie nahm Natara den
Kelch weg. »Fein, du hast ausgetrunken, ich auch - ich will
nicht, daß Gaell den Rest hier auch noch trinkt; wir brauchen
sie schließlich noch. Wollen wir uns das hier noch teilen?«
Natara zögerte.
Sie wußte nicht, wieviel das in der Karaffe noch war, und sie
fühlte in sich hinein. Was sagte ihr Bauch? Ihr Bauch sagte
nichts. »Wieviel ist das denn noch?« fragte sie dann.
»Ein guter
Kelch für jede«, antwortete Roveen. »Und damit hast
du nicht halbsoviel wie Gaell - und der geht es auch noch gut. Will
nur, daß es auch so bleibt.«
»Dann ist es
gut«, sagte Natara. Und als sie dann mit kleinen Schlucken
ihren Wein trank, mußte sie zugeben, daß er nicht mehr
ganz so fremd schmeckte wie der erste, und auch nicht mehr ganz so
schlecht.
Als sie sich kurz
vor Beginn des Thronrats noch einmal mit Aralee traf, sagte ihr
Natara nichts von dem Wein - das interessierte die Frau doch ohnehin
nicht, nicht so kurz vor so einem wichtigen Ereignis. Natara war
herausgeputzt, mehr als sonst, geschminkt, gelockt, sogar ein wenig
parfümiert - aber das wichtigste war, es ging ihr gut. Sie war
ruhig, selbstsicher, nicht nervös oder aufgeregt, und darauf kam
es an.
Und Aralee lächelte.
»Ich sehe, Roveen hatte ihr Vergnügen mit dir?«
Natara lächelte
zurück. »Es gefällt mir so«, sagte sie. Ihr
Spiegelbild, auf den ersten Blick eine Fremde, wirkte so viel
erwachsener - aber wenn es nach ihr ging, durfte es von jetzt an
jeden Tag so aussehen.
»Das freut
mich«, sagte Aralee. Sie wirkte schon wieder etwas abwesend -
nicht verwunderlich, natürlich. Sicher waren ihre ganzen
Gedanken bei der anstehenden Sitzung, bei der drohenden Gefahr - und
Natara bekam wieder ein schlechtes Gewissen für das Lachen und
Scherzen mit Roveen, für die Freude daran, geschminkt und
herausgeputzt zu werden angesichts eines drohenden Krieges.
Plötzlich wurde
es Natara ganz flau, aber sie kämpfte das Gefühl nieder.
Dafür war Zeit, wenn der Kriegsbotschafter wieder fort war.
»Dann ist ja
alles in Ordnung«, sagte Aralee. Und es war ein Befehl. »Und
jetzt zur Sitzordnung.«
»Soll ich die
auch aufschreiben?« fragte Natara und versuchte, ihre
Unsicherheit wie Geschäftstüchtigkeit klingen zu lassen.
»Alles«,
sagte Aralee. »Schreib heute alle auf. Jedes Wort, das heute
fällt, kann über Krieg und Frieden entscheiden. Also, Amra
sitzt am Kopf der Tafel -«
»Natürlich!«
Natara nickte, schrieb, und merkte erst dann, daß sie in ihrem
Arbeitseifer Aralee das Wort abgeschnitten hatte. Erschrocken schlug
sie sich mit der Hand vor den Mund. »Entschuldigung!«
Aralee ignorierte
es. »Ansgar setzen wir ihr gegenüber, an den Fuß.
Rechts von Amra sitze ich, links sitzt du, mir gegenüber. Neben
dir sitzt Roveen, zu Ansgars Linken sitzt Gaell - die beiden kommen
am besten damit zurecht, wenn der Mann seine Hände nicht bei
sich halten kann.«
Natara mußte
lachen über ihre eigene Fragen und stellte sie dann trotzdem:
»Das - das muß ich auch aufschreiben?«
»Nein«,
sagte Aralee. »Nur wenn er es tut.«
Natara biß
sich auf die Lippe, um nicht weiterzulachen - denn es war ja in
Wirklichkeit gar nicht so lustig - aber was sollte sie dann ins
Protokoll schreiben? ‘Dann griff der Kriegsbotschafter nach
Roveens Brüsten’? Und was sollten dann die Leute denken,
die das lasen? Sie schüttelte sich. Noch war es ja nicht
passiert. Aber sie hatte jetzt schon eine klare Vorstellung davon,
war für eine Art Mann sie da erwartete… Hoffentlich würde
sie bei seinem Anblick nicht loslachen!
Aber als es dann
endlich soweit war und der Mann hereingepoltert kam, war Natara
plötzlich gar nicht mehr zum Lachen zumute.
»Was wird hier
gespielt?« dröhnte der Kriegsbotschafter. »Man hat
mir einen Kronrat versprochen - keine Frauenrunde!«
Aralee ließ
sich nicht einschüchtern. Ohne das Gesicht zu verziehen, deutete
sie auf Amra. »Unsere Krone ist anwesend, wie Ihr seht. Wo ist
Eure?« Und, als der Mann darauf nicht antwortete, setzte sie
hinterher: »Dann verhaltet Euch so, wie es die Anwesenheit
einer Königin gebührt.«
In diesem Moment
hätte Natara fast laut losgelacht, doch sie biß sich auf
die Zunge und blieb ruhig: Das war, als sie erkannte, daß
Aralee die Stühle im Ratszimmer ausgetauscht hatte. Sonst
standen hier ehrfurchtserbietende riesige Möbel aus dunklem
Holz, auf deren viel zu großer Sitzfläche sich Natara
immer ganz verloren fühlte und sich fragte, wer in diesem Land
wohl einen so großen Hintern haben sollte, um so große
Stühle zu rechtfertigen, wo doch die Engelsgeborenen selbst alle
von der schlanken Sorte waren. Aber nun standen um den Tisch herum
zierliche Stühle mit gepolsterten Sitzen und geschwungenen
Beinen - auch am Fuß der Tafel, wo der Kriegsbotschafter Platz
nehmen sollte…
Und auf genau diesen
Stuhl deutete Aralee nun mit gnadenloser Höflichkeit. »Bitte,
Ansgar, setzt Euch. Unserer Königin, Amra, seid Ihr ja bereits
begegnet. Bei den anderen Anwesenden handelt es sich um Natara, ihre
Chronistin, sowie Gaell und Roveen, die Friedensbotschafterinnen von
Loringaril und Indiradin.«
»Friedensbotschafterinnen?«
Jetzt kannte Natara kein anderes Wort, um die Stimme des Mannes zu
beschreiben, als ‘Brüllen’. »Es gibt keine
Friedensbotschafterinnen!«
»Es gibt sie
an diesem Hof«, sagte Aralee sanft, »wo die Weisheit
regiert - oder möchtet Ihr andeuten, daß ich lüge?«
»Wenn Ihr
glaubt, Ihr könnt Eure Spielchen mit mir spielen«,
schnaubte Ansgar, »dann irrt Ihr, Aralee! Und selbst wenn es so
wäre, selbst wenn Ihr glaubt, diese Frauen sind für was Ihr
sie ausgebt -«
Dieser Satz war
Natara zu schwierig. Kein Mensch konnte gleichzeitig schreiben und
versuchen, einen solchen Satz zu verstehen. Natara ließ die
Feder sinken und hörte lieber zu. Aufschreiben konnte sie den
Satz immer noch, hinterher, wenn der Mann wieder still war.
»Indiradin hat
hiermit nichts zu schaffen, noch nichts, und wenn, dann werden wir es
dort und mit allen, die es angeht, klären, nicht hier. Und was
Loringaril angeht -« Hier lachte Ansgar, dreckig, laut und
schallend. »Ihr wißt ebensogut wie ich, daß
Loringaril keinen eigenen Botschafter mehr hat, weder für den
Krieg, noch für den Frieden.« Er machte eine kurze Pause,
aber die war wirklich zu kurz für Natara, um diesen langen Satz
aufzuschreiben. »Ihr wißt, wie Loringaril geendet ist«,
sagte Ansgar dann. »Und ich hoffe, Ihr seid wirklich zu weise,
um selbst ebenso zu enden.«
»Also wollt
Ihr uns drohen?« fragt Aralee und nickte Natara zu,
ausgerechnet. »Für das Protokoll - ja oder nein?«
»Nein«,
sagte Ansgar. »Das war eine Warnung. Doubladir droht niemals.«
Aber das Schlimme
war geschehen - Aralee hatte den Kriegsbotschafter auf Natara
aufmerksam gemacht. Bei der Vorstellung eben war der Mann ja bei
Roveen und Gaell hängen geblieben, aber jetzt blickte er Natara
so direkt an, daß sie am liebsten im Boden versunken wäre.
»Chronistin?«
schnaubte er. »Dieses halbe Kind soll eine Chronistin sein?«
Er lachte kurz und bellend.
Das Blut schoß
Natara ins Gesicht - dabei war sie solche Sätze doch eigentlich
längst gewöhnt. Aber dann schaffte sie es zu sagen: »Wenn
ich ein halbes Kind bin - für was haltet Ihr dann die andere
Hälfte?« Sie richtete sich auf und machte sich so groß,
wie sie das im Sitzen konnte, und dann blickte sie den Mann so
herausfordernd an, daß es gut war, schon errötet zu sein.
Sonst hätte sie das jetzt bei dem bloßen Gedanken daran
gemußt.
Ansgar ging nicht
darauf ein - das war schon einmal ein Sieg für Natara.
»Chronistin, so?« fragte er nur und schaute doch lieber
wieder zu Aralee hin. »Weiß sie, welche Verantwortung Ihr
ihr da aufbürdet?« Seine Stimme klang fast mitleidig, was
Natara nicht gefiel. Nahm er sie immer noch nicht für voll? Das
mußte sich noch ändern. Das, oder Natara würde in
dieser Nacht vor Scham sterben.
»Sie weiß
es«, antwortete Aralee gelassen. »Die Gesetze dieses
Landes verlangen nicht ohne Grund nach einem Chronisten, und nicht
ohne Grund wurde für dieses Amt Natara ausgewählt und und
niemand anderes. Jede einzelne Person an diesem Hofe ist handverlesen
und versteht ihr Handwerk, und Natara macht dort keine Ausnahme.«
Für dieses Lob
würde ihr Natara später noch danken. Jetzt mußte sie
sich statt dessen diesen Worten in der Praxis gewachsen zeigen und
endlich versuchen, die Worte des Kriegsbotschafters aufzuschreiben -
nicht das, was er über sie selbst gesagt hatte, das ging kein
Protokoll der Welt etwas an, aber das davor, das mit dem
Warnen-aber-nicht-Drohen.
»Solange Ihr
wißt, was Ihr tut…«, sagte Ansgar grimmig. »Sie
könnte gerade noch meine Tochter sein - niemand soll sagen, ich
hätte Euch nicht gewarnt. Wir nehmen keine Rücksicht, auch
nicht auf Kinder, wenn es um die Heilige Rache geht.« Meinte er
damit jetzt Natara oder doch Amra?
>»Ich
wüßte nicht, was uns wen es hier für Euch zu rächen
gibt«, sagte Aralee. »Ihr werdet mich sicher gleich aus
dieser Unwissenheit befreien - aber erlaubt mir zunächst, meinen
Pflichten als Gastgeberin nachzukommen und euch zu bewirten.«
Ansgar schnaubte.
»Ich sagte doch, ich bin nicht hier für ein Damenkränzchen
-« Er brach ab, als Gaell einen silbernen und nicht gerade
kleinen Weinkelch vor ihn hinstellte. Offenbar hatte er mit
zierlichen Teetäschen gerechnet, so wie Nataras Mutter sie immer
ihren eigenen Damen vorsetzte? Oder er war zu sprachlos damit
beschäftigt, auf Gaells Brüste zu starren, als sie sich
vorbeugte, um ihm einzuschenken? Es waren bemerkenswert große
Brüste, aber jetzt, wo Natara ihr Geheimnis kannte, machte ihr
der Anblick zumindest keine Angst mehr.
»Herzchen, die
tun doch nicht weh! Ganz weich sind die, willst du mal anfassen?«
Innerlich schüttelte sich Natara noch immer bei dem Gedanken an
dieses unschickliche Angebot und war froh, es ausgeschlagen zu haben,
obwohl… Neugierig war sie ja schon… »Natürlich
sind sie am Anfang hart und drücken.« Roveen kicherte
wenigstens nicht wie Gaell bei diesen Erklärungen, an diesem Tag
nahm sie Natara einfach nur zum Anhimmeln ernst. »Sie sind zu
so kleinen Knubbeln zusammengepreßt, wie eine Rosenknospe - und
Rosen werden ja auch schön weich, wenn sie aufblühen.«
Das war es. Natara wollte aufblühen, so schnell wie möglich
und am liebsten sofort - oder sofort wenn Ansgar weg war, Natara
wollte nicht, daß er sie mit diesem
Blick ansah…
»He,
Träumerle, schlaf nicht ein!« Roveen stieß sie von
der Seite an, und Natara schreckte hoch.
»Ich -«,
wollte sie schon als Entschuldigung für ihren abwesenden
Gesichtsausdruck stammeln, oder dafür, daß sie auf Gaells
Brüste gestarrt hatte, doch Roveen legte schnell einen Finger an
Nataras Lippen.
»Schsch. Keine
Bange, ich foppe dich doch nur. Aber daß du dich nicht wunderst
- du bekommst jetzt einen großen Weinkelch wie wir anderen,
aber ich mache ihn dir nur halbvoll. Du weißt schon.«
Natara nickte und
versuchte, gleichzeitig nicht zu Aralee hinzusehen und es irgendwie
doch zu tun, aber ohne dabei zu schielen. Wenn Aralee wirklich nichts
dabei fand, Natara Wein zu geben…
Aber
Aralee achtete überhaupt nicht auf Natara und erst recht nicht
auf Nataras Weinkelch. Ihre Augen waren fest auf Ansgar gerichtet,
und alle Sorgen, die Natara am Vormittag darin aufgefallen waren,
fehlten nun - Aralees Blick war ebenso hart und klar wie Ansgars,
forsch, fordernd, kalt. Manchmal war es, als ob es zwei Aralees gab,
die einander fremd waren - und Natara fürchtete beide auf
ihre Weise.
»Wenn Ihr Euch
von der Vorstellung erholt habt«, sagte Aralee, »der
einzige Mann am Tisch zu sein - seid Ihr dann auch bereit, Anstalt
walten zu lassen und mich einen Tischsegen sprechen?«
»Ich werd Euch
schon nicht davon abhalten«, brummte Ansgar, »aber ich
rate Euch, unterschätzt mich nicht. Einen Kriegsbotschafter
ködert Ihr nicht mit schönen Frauen oder schönen
Worten.«
»Dann bitte
ich um Vergebung«, erwiderte Aralee spitz, »aber unsere
schönen Männer sind zur Zeit unabkömmlich.«
Einen Moment lang
blickte Ansgar, als wolle er ihr schon für diese Worte den Krieg
erklären, und alles, was ihn davon abhielt, war Gaells leises
aber vernehmliches Seufzen. So entschied sich der Mann dann doch
gegen das kopfabschlagen und für ein höhnisches Lachen.
Auch dieser Teil,
beschloß Natara, gehörte nicht in die Chronik.
»Dann sprecht
jetzt Euren Segen«, sagte Ansgar, »auf daß er nicht
Euer letztes Gebet werde und wir endlich zum Anfang kommen können.«
Aralee,
unbeeindruckt, lächelte und hob ihren Kelch. Aus den
Augenwinkeln sah Natara, daß Roveen es ihr gleichtat, und das
tat sie dann schnell auch, bevor man sie wieder hätte anstupsen
müssen. Der Kelch war nicht halb so schwer, wie er aussah -
Roveen hatte Wort gehalten und wirklich nur einen Schluck Wein
hineingegossen. Natara hielt ihn mit der linken Hand - zu ihrer
rechten lag das Schreibzeug, und das durfte sie auf keinen Fall
bekleckern - und wartete, daß Aralee fertig gesprochen hatte.
Das alles konnte man am Ende
zusammenfassen mit ‘Dann sprach Aralee, die Königswitwe,
einen Tischsegen’.
»Korisander,
Engel der Weisheit«, sagte Aralee laut, »fülle
unsere Köpfe mit Verstand, unsere Herzen mit Frieden und unsere
Zungen mit Beredsamkeit, damit alles gesagt werden kann, was gesagt
werden muß und niemand von uns diesen Tag an einem anderen
reuen möge.« Dann hob sie ihren Kelch erst noch höher,
als wolle sie mit einem Engel unter der Zimmerdecke anstoßen,
und trank dann - und da sie Nataras Kelch gesehen hatte und nichts
dagegen gesagt, bedeutete es, daß auch Natara jetzt trinken
durfte. Sollte. Mußte. Was auch immer.
Natara war froh, daß
Roveen mit ihr geübt hatte, sonst hätte sie sich in diesem
Moment verschluckt, wenn nicht an dem seltsamen Geschmack, dann vor
Aufregung. Es schmeckte nicht halb so gut wie Roveens Beerenwein,
aber auch wieder nicht halb so scheußlich wie Medizin. Man
konnte es trinken - mußte es nicht mögen, aber trinken
ging, ohne größere Probleme. Als Natara ihren Kelch wieder
absetzte, merkte sie, daß sie einen Fehler gemacht hatte - sie
hatte ihn ausgetrunken, aber Aralee hielt ihren Kelch wieder vor
sich, nickte Ansgar zu und sagte: »Wenn Ihr mögt, ist es
an Euch, zu erwidern.«
Das Blut schoß
Natara in den Kopf, und einen Augenblick lang geriet sie in Panik.
Sie stieß Roveen unter dem Tisch an: Was sollte sie tun, wenn
Ansgar jetzt selbst einen Segen sprechen wollte und das von Natara
als persönliche Beleidigung empfand? »Was soll ich
machen?« flüsterte sie. »Ich hab ihn leergetrunken!«
Roveen
schenkte ihr nach, nicht ohne zu schmunzeln. »Sei nicht
so gierig«, wisperte sie zurück. »Ich habe dich
gewarnt.«
Wieder errötete
Natara, diesmal vor Scham. Es fühlte sich an, als ob ihr ganzer
Kopf glühte, und sie hoffte, daß es niemandem auffiel -
sah nicht ausgerechnet Amra sie da ganz seltsam an? Diesmal war es
ausgerechnet Angar, der sie erlöste.
»Tischsegen -
firlefanz!« Er setzte seinen Kelch mit so unwirscher Wucht vor
sich ab, daß etwas hinausgeschwappt wäre, wenn nicht auch
er seinen Wein ausgetrunken hätte - also war nicht nur Natara
ein kleiner Gierschlund! »Vigilander segnet keine Tische!«
Natara
mußte fast loslachen, dachte aber gerade noch daran, die Hand
vor den Mund zu nehmen, und beugte sich dann schnell über ihr
Schreibzeug. So ein Satz mußte ins Protokoll. Vigilander
segnet keine Tische…
»Ich bin nicht
zum Vergnügen hier«, sagte Ansgar, »und mir scheint,
Ihr wißt nicht, wie ernst es um Euch und Euer Land steht.«
Aralee schüttelte
leicht den Kopf. »Wir wissen, daß wir keinen Grund dazu
haben. Koristan hat sich nichts zuschulden kommen lassen, nicht
gegenüber Doubladir, nicht gegenüber sonst jemandem. Amra
ist eine Königin des Friedens.«
Eigentlich,
aber das sagte Natara nicht, war Amra gar keine Königin. Sie saß
zwar immer dabei, immer schön gekleidet, immer am Kopf der
Tafel, manchmal sogar auf dem Thron, aber sie war immer ganz ruhig,
döste vor sich hin und wurde hinterher ins Bett gebracht, wo sie
dann sofort und ohne zu quengeln einschlief - aber alles andere, und
alles reden, machte immer nur
Aralee. Vielleicht, wenn Arma einmal groß war… Aber das
war noch so lange hin.
»Friedlich,
so?« fragte Ansgar höhnisch. »Und was war vor Eurer
Kindskönigin?«
Aralee verzog kein
Gesicht. »Seit jeher ist Koristan ein friedliches Land. Wir
waren nie in einen Krieg verwickelt, und so wird es auch bleiben.«
Ansgar lachte. »Ich
sehe, Ihr braucht Eure Chroniken, um Euer Gedächtnis
aufzufrischen - sprecht von Friedlichkeit, und sprecht kein Wort von
dem Mordaufruf -«
»Es war ein
Engelsurteil!« Für einen Augenblick klang Aralees Stimme
schrill. »Und Doubladir hat nichts damit zu schaffen.«
Wieder lachte
Ansgar, und diesmal klang es fast mitleidig. »Engelsurteile
sind Engelsurteile, und Mordaufrufe sind Mordaufrufe. Glaubt nicht,
daß wir den Unterschied nicht kennen - oder wollt Ihr sagen,
daß bei diesem Urteil, von dem Ihr sprecht, etwas nicht mit
Rechten Dingen zugegangen ist? Mich deucht, Euer Engel hat dem Urteil
vorgegriffen und der Kandidat ist aus seinem Gefängnis
verschwunden, und erfreut sich bester Gesundheit?«
Der
Triumph in seiner Stimme machte Natara Bauchschmerzen. Sollte es
nicht eigentlich umgekehrt sein und Ansgar ganz kleinlaut? Natara
wollte gerne zu Aralee rüberschauen, ihr Gesicht sehen, aber sie
wollte nicht starren. Schließlich griff sie nach ihrem Kelch,
hinter dem ihr Gesicht halb verschwand, und schielte heimlich über
den Rand zu Aralee hin. Sie mußte ihn dafür wieder fast
austrinken, damit der Wein sie nicht völlig übergoß,
aber dafür konnte sie
Aralee sehen - angespannt und wachsam, aber wenigstens nicht
ängstlich. Solange Aralee keine Angst zeigte, war alles in
Ordnung. Dann gab es auch keinen Krieg… Fast hätte sich
Natara an ihrem Wein verschluckt. Beim Schielen hatte sie die Augen
zu weit zur Seite gedreht, und jetzt rauschte es in ihren Ohren, und
sie dachte an all die Warnungen ihrer Mutter - daß ihr die
Augen dabei stehenbleiben konnten und das, anders als der Krieg,
machte Natara einen Moment lang wirklich Angst. Aber sie schluckte,
und prustete nur fast und sowieso hinter dem Schutz ihres Kelches,
und danach waren auch ihre Augen wieder da, wo sie hingehörten,
in Nataras Kopf. Nur das Brutzeln in ihren Ohren blieb da noch eine
Weile.
»Chronistin!«
Natara schrak
zusammen, als Ansgar sie plötzlich aufrief, hörte ihr Herz
rasen und wußte nicht wovon - verglichen mit der Art, wie er
mit Aralee sprach, klang der Kriegsbotschafter jetzt ihr gegenüber
richtiggehend nett.
»Ja…?«
würgte Natara hervor, und dann riß sie sich zusammen.
Dieser Mann hatte ihr gar nichts zu sagen, und zurechtweisen durfte
er sie erst recht nicht. »Was wünscht Ihr?« fragte
sie hinterher, tausendmal würdevoller.
»Ich will, daß
Ihr Euch das hier anseht.«
Wieder fühlte
sich Natara erröten, als ihr Ansgar einige Bögen Pergament
zuschob. Er hatte sie geihrchzt! Sie! Zum ersten Mal in ihrem Leben!
Selbst der Richter sagte noch ‘Du’ zu ihr, und der
ihrchzte sonst doch alle am Hof, wenn er da war, sogar Amra…
»Jetzt
nehmt es schon!« Ansgars Stimme wurde schroffer, aber das war
gut, sein Mitleid wollte Natara nicht, sollte er
sie ruhig behandeln wie die anderen. »Und sagt mir, was es
ist.«
»Könnt
Ihr denn nicht lesen?« platzte es aus Natara heraus, und hätte
nicht Roveen schützend zwischen ihr und dem Mann gesessen,
Natara wäre eine schallende Ohrfeige sichergewesen.
»Lest es!«
fuhr Ansgar sie an. »Und sagt Eurer Herrin, welches Zeugnis Ihr
da vor Euch habt.«
Mit
Fingern, die plötzlich zitterten, griff Natara nach dem
Pergament. Es waren einfach beschriebene Bögen, genauso groß
wie jene, die neben ihr lagen und auf denen irgendwie erst drei oder
vier Sätze standen, und das meiste davon war Einleitung und das
Wort Protokoll. Auch
Ansgars Bögen fingen mit Protokoll
an, in einer Handschrift, die Natara schon sehr, sehr oft gesehen
hatte und die ihr als Vorbild für ihre Schönschreibübungen
diente - so perfekte Buchstaben, alle Zeilen gleich hoch, alle Bögen
mit dem gleichen Schwung, und nirgends auch nur ein einziger
Tintenklecks…
»Was soll das
sein?« fragte Aralee.
Fast hätte
Natara ihr die Papiere gegeben, aber wenn selbst der
Kriegsbotschafter meinte, daß dies Nataras Sache war, wollte
sie auch selbst weitermachen. »Ein Protokoll«, sagte sie,
und dann las sie vor: »Anwesende: Alexander von Korisanders
Blute, Zweiter König der siebzehnten Generation. Harold von
Korisanders Blute, Chronist, Protokollant. Vertretend Land und Krone
Loringarils -«
»Gib es mir!«
sagte Aralee schroff.
Ansgar
hob die Hand, und Natara hielt instinktiv die Bögen fest, jetzt
würde sie sich das nicht mehr wegnehmen lassen!
»Das, wenn
sonst nichts, ist Chronistensache«, sagte Ansgar. »Oder
warum laßt Ihr die Kleine sonst hier mit am Tisch sitzen? Eure
Königin braucht keine Spielkameradin.«
»Was unsere
Königin nicht braucht«, entgegenete Aralee giftig, »sind
Drohungen aus Doubladir.« Sie legte eine Hand auf Amras, die
mit ausdrucksloser Ruhe Ansgar gegenüber saß und ihn so
starr anblickte wie eine Puppe, daß es gruselig aussah. Natara
war an den Anblick gewöhnt, und selbst sie hatte manchmal Angst
davor. »Gib mir die Papiere, Natara«, sagte Aralee dann
etwas sanfter. »Du sollst sie nachher wiederhaben, aber erst
muß ich sie sehen.«
Fast schon
widerwillig schob Natara ihr die Bögen über den Tisch, und
danach blickte nur wieder ihre eigene Seite sie fast leer und ganz
vorwurfsvoll an. Natara ärgerte sich darüber und mehr noch
über sich selbst, weil sie in diesem Moment Ansgar mehr mochte
als Aralee - Ansgar gab ihr immerhin etwas zu tun. Aralee wollte nur
jemanden, der den Schreibkram erledigte.
»Hm«,
sagte Aralee nur, während sie die Seiten überflog,
zwischendurch »Hm«, und am Ende nochmal, vielleicht, weil
es sonst zu still war.
Ansgar nickte. »Ich
sehe, Ihr erkennt die Schrift?«
»Woher habt
Ihr das?« fragte Aralee.
»Mittel und
Wege.« Ansgar lächelte. »Mich deucht, dieses
Protokoll blieb im Anschluß an diesen sogenannten Kronrat
unbeachtet zurück, und niemand schenkte ihm mehr Beachtung, bis
-«
»Ihr habt es
gestohlen!« platzte es aus Natara heraus, bevor Aralee das
gleiche sagen konnte.
Ansgat lachte. »Ich
ganz sicher nicht. Aber er fand seinen Weg nach Doubladir, und nun,
in meiner Hand, findet es nach Koristan zurück. Es gehört
uns ebenso wie Euch - die Doubladai sind darin festgehalten.«
Natara hatte sich noch nie gefragt, wem Protokolle gehörten -
ihr selbst jedenfalls nicht, selbst wenn sie sie geschrieben hatte.
Aber was wollte man auch hinterher damit? »Ihr erkennt es also
als echt an?«
»Das habe ich
nicht gesagt.« Aralee schob die Bögen wieder säuberlich
zusammen. »Und das werde ich auch nicht sagen ohne eine
ausführliche Prüfung.«
»Diese
Gelegenheit werden wir Euch selbstverständlich bieten.«
Ansgar lehnte sich zurück und ließ sich von Gaell seinen
Kelch füllen. »Niemand soll uns nachsagen, daß wir
einer Fälschung aufgesessen sind.«
Aralees Augen
blitzten, als sie Natara das Protokoll zurückgab. »Lies es
nur vor«, sagte sie. Wenn Ansgar sie unruhig oder verschreckt
sehen wollte, war er nun weit davon entfernt. »Es ist die Tinte
nicht wert, mit der es geschrieben ist.«
Natara schluckte.
Ihr Mund war plötzlich ganz trocken, die Zunge klebte vor Durst
oder vor Aufregung. »Jetzt?« fragte sie und wünschte
sich nichts mehr als einen Becher Wasser. »Aber ich habe es
doch noch gar nicht vorbereiten können…« So viele
fremde Seiten - wie sollte sie die jetzt alle auf einmal richtig
betonen?
»Jetzt«,
sagte Aralee. »Du bist Chronistin. Was du leise liest, kannst
du auch laut lesen.«
Natara
nahm einen Schluck von ihrem Wein in den Mund, nur um dieses klebrige
Gefühl loszuwerden - sie ahnte, daß sie besser
nicht noch mehr davon trinken sollte, denn jetzt fühlte sie sich
seltsam flau, das konnte von der Aufregung kommen, aber wer wußte
das jetzt schon so genau? Aufhören, bevor ihr schlecht wurde,
denn das war das letzte, was sie in diesem Moment brauchen konnte!
Natara schluckte, ihr Mund klebte jetzt noch stärker als vorher
und wollte gar nichts mehr vorlesen, und alle starrten sie an…
Sie biß sich auf die Unterlippe, atmete ganz tief durch und
starrte auf die schönen fremden Worte. Dann blinzelte sie und
fing wieder an zu lesen:
»Protokoll
Kronrat am Krönungstage Alexanders, des zweiten Königs der
Siebzehnten Generation, im Jahre -« Natata stockte, versuchte
im Kopf die Jahreszahl zusammenzurechnen, die gar nicht so wollte wie
sie.
»Spar dir
diesen Teil, von mir aus«, sagte Aralee. »Es war im
vergangenen Jahr, das wissen wir alle. Und anwesend waren außer
Alexander und Harold noch ein Vertreter von Lorimanders bedauerlicher
Sippe nebst Berater; Laibrin, der damalige Botschafter Indiradins,
sowie Selmar von Caer Diuree als Vertreter von Doubladir. Auch das
ist bekannt.«
Natara
nickte, dankbar, daß Aralee ihr all die schweren langen Namen
ersparte, und schämte sich gleichzeitig vor Ansgar - aber warum
schämte sie sich eigentlich? Wenn sie den Text hätte
vorbereiten können, wie sie es gewöhnt war… Mit dem
Finger suchte sie die Stelle, wo es weiterging. Namen, alles Namen,
und dann kamen gar keine richtigen Sätze mehr, wer was sagte,
nur noch Abkürzungen und Doppelpunkt - daß Protokolle so
aussahen, wußte Natara nicht. In der bebundenen Chronik sahen
sie immer ganz anders aus, eben wie richtiger Text. Ob Harold das
immer alles nochmal
abgeschrieben hatte? Natara wußte es nicht. Zu diesem Alexander
hatte die Bibliothek keine Chronik, nicht einmal für den einen
Tag, an dem er König war… Plötzlich tat er Natara
leid, sie konnte gar nichts dagegen machen und bekam einen Kloß
im Hals davon. Der arme Alexander! Und der arme Harold, der
Protokolle schrieb für eine Chronik, die es nie geben sollte!
Natara schluckte und dachte gerade noch rechtzeitig daran, nicht die
Nase hochzuziehen.
»Alexander«,
las sie dann. Da stand nur ‘Al’, aber es mußte
Alexander heißen, und es gehörte sich nicht, einen König
Al zu nennen, auch
wenn sie dann Am
schreiben konnte für Amra und Ar
für Aralee und An
für Ansgar - daß aber auch alle Namen mit A anfangen
mußten! »Wir haben uns hier veras - versammelt«,
sie verbesserte sich schnell, das hatte sicher niemand bemerkt, »um
heraus-zu-finden, wessen schurkischen Plans der Versuch entsprungen
ist, mich um meine Krone zu bringen - also, das sagt Alexander, nicht
ich«, erklärte sie schnell, bevor irgend jemand denken
konnte, daß sie selbst irgendeinen Anspruch auf die Krone
erheben könnte - »und um klarzustellen, daß ich in
jedem Fall der König von Koristan bin - Alexander natürlich
- nicht nur der rechtmäßige, sondern auch der
tatsächliche.«
Natara
starrte auf das Pergament und wagte nicht mehr aufzublicken. Es
fühlte sich an, als ob sie in jeden Satz mehr Fehler einbaute,
als er Wörter hatte! »Lomirander: Ein König, der kein
Horn hat, ist kein König! Em -« Wofür stand
Em noch gleich? Natara schwitze
vor Angst, aber besser einfach weitermachen, als erst oben zu suchen
und dann die Stelle nicht mehr wiederzufinden… »Em: Er
bezieht sich damit auf Eure
Krone, Engels- Engelsgeschenk wie Lorimanders heiliges Horn. Sel:
Verkauft uns nicht für dumm, das wissen wir auch so. Überlegen
wir lieber, was wir tun können, um Al…exander jetzt zu
helfen. Em: Helfen? Warum helfen? La: Haltet Euch zurück, Em.
Laßt Alexander reden.«
Natara las
schneller, als sie atmen konnte. Ihr war schlecht. Alles was sie
jetzt noch rettete, war, daß dieser Harold wohl die schönste
Schrift von ganz Koristan hatte. Ob es wohl auffiel, wenn sie ein
paar Seiten übersprang? Bei so vielen Seiten kam es doch auf ein
paar Sätze nicht an…
»Alexander:
Ihr wäret nicht zu meiner Krönung erschienen, wenn Eure
Länder mich nicht als König akzeptiert hätten - und
was die restlichen Länder betrifft, die heute nicht vertreten
sind, so seien sie wegen ihrer weiten Anreise entschuldigt. Nicht
jeder hält es für nötig, eine Botschaft zu unterhalten
- ich danke also Euch, die Ihr hier erschienen seid, in jedem Fall,
doch kann ich Euren Sinneswandel nicht nachvollziehen.«
Natara las nur noch
ein Wort nach dem anderen, machte sich nicht mehr die Mühe,
einen Sinn darin finden zu wollen. Nur Wörter, und viel zu viele
davon…
»Em: Fragt
lieber nach dem Sinneswandel Eures Engels! Al: Es ist, wie der
Richter gesagt hat. Meine Ahnen haben mich als rechtmäßigen
Erben anerkannt. Wollt Ihr den Obersten Richter in Frage stellen?
Wollt Ihr an den Worten des höchsten Menschen in diesem Land -«
Natara
verschluckte sich an ihrer Zunge, mußte husten und würgen
gleichzeitig. Roveen klopfte ihr sachte auf den Rücken,
aber mit jedem Schlag sah Natara Sterne.
»Geht es
noch?« fragte Roveen leise, Natara antwortete lieber nicht.
Solange sie den Mund geschlossen hielt, gelang es ihr, die Übelkeit
wieder unter Kontrolle zu bekommen. In ihrem Mund sammelte sich
Spucke, die sie nicht zu schlucken wagte und die für den Moment
die Klebrigkeit nahm. Mit glühenden Wangen starrte Natara durch
die Tischplatte und wünschte sich, der Abgrund möge sich
auftun und sie ein und für allemal erlösen…
»Ich bitte
meine Chronistin zu entschuldigen«, sagte Aralee kühl, und
Natara versuchte lieber gar nicht erst, Tadel aus ihrer Stimme
rauszuhören. »Aber ich denke auch, daß es eine
rechte Zeitverschwendung für uns alle wäre, sie den
gesamten Text dieses Protokolls vorlesen zu lassen, vor allem, da der
überwiegende Teil nichts zur Wahrheitsfindung beiträgt.
Ohnehin bedarf es ausführlicher Prüfung, die Echtheit
dieser Dokumente zu bestätigen - und da die besagten Ereignisse
mehr als bald ein ganzes Jahr zurückliegen, sehe ich nicht,
warum in diesem Punkt Hast der Gründlichkeit überlegen sein
sollte.« Ohne Natara auch nur anzublicken, nahm sie das
Protokoll an sich - Natara fühlte sich etwas befreiter, nur ihr
Magen schien nichts davon mitbekommen zu haben.
»Ihr werdet
mich nicht hinhalten, Aralee«, erwiderte Ansgar leise. »Wir
wissen, daß dies Eure bevorzugte Taktik ist - aber Doubladir
wartet nicht auf den Tag, an dem Eure Königin großjährig
ist.«
Aralee seufzte. »Das
müssen wir aber wohl, wenn Ihr uns nichts an die Hand gebt, Eure
Anschuldigungen zu beweisen.«
»Ihr
habt das Protokoll gelesen«, sagte Ansgar. »Auch die
letzte Seite. Ich habe Euch
beobachtet. Ihr wißt, wovon ich rede.« Plötzlich
lächelte er. »Sonst könnte es Euch egal sein, ob
diese Dokumente echt sind oder falsch.«
»Die letzte
Seite«, antwortete Aralee, »enthält ebensoweing
einen Mordaufruf wie der Rest des Textes - neben einigen wüsten
Ausfällen Eures Botschafters Selmar und verschiedenen
unüberlegten Ausfällen des Prinzen Lorimander nichts, was
Ihr Koristan ankreiden könntet.«
»Bis zu dem
Moment, wo Alexander sagt -«
»Und wenn er
zehnmal gesagt hat ‘Schlagt Euch die Schädel ein’ -«
»Hätte er
es nicht gesagt, hätte Lorimander ihn nicht beim Wort genommen.«
»Es war kein
Mordaufruf, und Alexander nicht Lorimanders Hüter.«
Natara vergrub das
Gesicht in den Händen. In ihren Ohren rauschte es. Alles drehte
sich, mehr in ihr als um sie heurm. Sie wollte nur, daß es
aufhörte - ihr war egal, wer was sagte, Botschafter,
Mordaufrufe, Kriegsdrohungen, das alles trat in den Hintergrund, wenn
einem schlecht war.
»Es ist ein
Mordaufruf, wenn solche Worte aus dem Mund eines Königs kommen,
erst recht, wenn er die Weisheit -«
»Alexander war
kein König. Er wurde nicht gekrönt, und darum -«
»Selmar hatte
ihn als König anerkannt. Aus Doubladirs Warte war Alexander in
diesem Moment der König von Koristan. Darauf kommt es an.«
»Für
Doubladir ist es so einfach?«
»Der
König von Koristan hat den Tod des Botschafters von Loringaril
verursacht. Nichts davon ist zweifelhalt. Selmar ist
tot, und es ist an uns, Rache für ihn zu fordern.«
»Dann fordert
sie bei Alexander - wenn er für Euch der rechtmäßige
König ist, was belästigt Ihr dann Amra?«
Natara konnte nicht
sagen, ob es weiterging, oder wie. Oder wie es ihr gelang,
aufzustehen und die Tür zu erreichen - daß sie allein auf
die Idee kam, war eigentlich schon zuviel verlangt, aber sie mußte
raus, raus an die Luft: Entweder sie, oder nur ihr Magen.
»Natara?«
Vielleicht fragte das Aralee, als Natara an ihr vorbeihastete.
Vielleicht hoffte Natara auch nur, daß jemand sie bemerkte und
sich Sorgen machte. Oder daß niemand sie bemerkte und es keinen
Ärger gab… »Ist alles in Ordnung?«
»Mir ist
schlecht«, quetschte Natara zwischen den Zähnen hindurch,
gerade als sie die Tür erreichte. Aufriß.
Hindurchstolperte. Und dann ging sie, in der kühlen Sicherheit
des Flures, ergriffen von ihrem eigenen Elend, zu Boden.
Natara wußte
nicht, wie lange sie dort kauerte. Solange es ihr gelang, sich nicht
zu übergeben, durfte es beinahe eine Ewigkeit sein, und doch
hoffte sie zugleich, daß es schnell vorüber sein sollte.
Alles war elend, alles war schrecklich, und Natara wußte nicht
warum. Roveens Warnungen, mit dem Wein aufzupassen - nichts anderes
hatte Natara doch getan, wieso wurde ihr dann trotzdem schlecht? Es
war so ungerecht, Natara hätte heulen mögen, wäre ihr
nicht schon sowieso zum Heulen zumute gewesen…
»Na, du machst
ja Sachen, Kleines«, sagte Roveen und packte Natara bei der
Schulter. »Was sollen denn jetzt alle von dir denken?«
»Mir ist
schlecht«, murmelte Natara nur und schluckte. Immer noch lief
ihr Mund mit Spucke voll, immer wieder, daß sie kaum mit dem
Schlucken hinterherkam. Was die Leute jetzt dachten, war ihr egal,
solange sie sich bloß nicht übergeben mußte…
»Na komm
schon, steh auf«, sagte Roveen. »Mußt ja nicht
gleich wieder da reingehen, aber hier sitzenbleiben kannst du
zumindest auch nicht.«
Mit der einen Hand
hielt sie Natara an der Schulter fest, mit der anderen packte sie ihr
unter die Achselhöhle und zog sie hoch. Es tat zu jäh weh,
als daß Natara hätte Widerstand leisten können.
»Nun komm
schon«, sagte Roveen. »Mach dich nicht so schwer, du
kannst noch gut genug selbst stehen und gehen, ich weiß das -
tragen werd ich dich nicht, ich trag noch nicht mal Gaell, und für
die würd ich wirklich eine ganze Menge tun, oder hätt ich
zumindest früher…«
Natara ließ
sie reden und war froh, selbst nichts sagen zu müssen. Sie hörte
nur mit halbem Ohr zu. Jetzt stand sie wieder auf ihren Füßen,
und das hieß, wieder drehte sich alles um sie - wenigstens
konnte sie sich an Roveen festhalten, aber besser machte es das
nicht.
»Aralee
meinte, ich soll dich auf dein Zimmer bringen, das wirst du doch wohl
noch finden, oder? Ich weiß von hier aus nicht genau, wo das
ist - die Treppe hoch, dann sehen wir weiter. Treppensteigen kannst
du auch noch, glaub mir, das ist ganz einfach…«
»Hm?«
machte Natara nur - wirklich, ihr war alles egal, solange nur die
Übelkeit wegging, und jetzt gerade, wegen der plötzlichen
Bewegung, ging es ihr schlechter als vorher. Da half auch der frische
Luftzug auf dem Gang nicht, alles drehte sich…
»Komm schon,
mach schöne kleine Schritte, wie eine richtige Dame, du kannst
das, ist auch nicht mehr weit!«
Natara gehorchte,
eine Wahl hatte sie ohnehin nicht - schon nach der ersten Abzweigung
fehlte ihr jede Orientierung. Roveen hielt und stützte sie, aber
laufen mußte Natara selbst, auf wackligen Beinen, die ihren
eigenen Willen hatten und die ganz von selbst wegknickten. Wie in
ihren ersten Tanzstunden, als Natara lernte, auf Zehenspitzen zu
laufen - nur waren es damals Schmerzen in den Füßen, die
Natara fast umbrachten, und jetzt im Bauch. Und damals hatte sie ein
Ziel, auf das es hinzuschmerzen lohnte: Tanzen. Jetzt wollte Natata
nur noch ihr Bett, und ihre Nachschüssel.
»Und jetzt
aufgepaßt«, sagte Roveen. »Auf geht’s, die
Treppe hoch.«
Natara blinzelte und
begriff, daß sie im Treppenhaus standen. Aber sie sah nicht die
Treppe nach oben - sie sah nur die Treppe nach unten, kalt und böse
und und hungrig wie der Abgrund selbst. Ihre Füße gruben
sich vor Schreck in den Boden. Roveen zog und schob sie vorwärts
- und in dem Moment, in dem Natara das Gleichgewicht verlor und
vorwärtskippte, erkannte sie erst die Falle. Falle. Falle.
Falle. Sie konnte das Wort gar nicht oft genug mehr denken, dafür,
daß sie es den ganzen Nachmittag über so wenig gedacht
hatte. Es ging überhaupt nicht um Ansgar, oder um das Protokoll.
Es ging nur um Natara, um den Wein, und um die Treppe. Mit all diesen
Warnungen sorgte Roveen doch nur dafür, daß Natara auch
wirklich genug von dem Wein trank, bis ihr schlecht wurde - und wenn
sie dann auf der Treppe fiel und einen Unfall hatte, konnte niemand
mehr hinter Aralees Geheimnis kommen. Natara wußte zuviel, und
Aralee wußte das. Arglos, auf der Treppe, wie Hester…
Hester, deren letzter bekannter Weg sie in Roveens Zimmer geführt
hatte… Roveen, die jetzt mit Natara am Treppenabsatz stand…
Mit bemerkenswerter
Klarheit begriff Natara, daß sie hier, auf dieser Treppe,
jetzt, sterben würde. Und während sie vorwärts
stürzte, nahm Natara ihre letzte Kraft zusammen, und schrie und
schrie und schrie wie am Spieß.
Natara schrie immer
noch, als sie auf ihren Knien auf dem obersten Treppenabsatz kauerte
- sie lebte noch, aber die Angst war da; sie stürzte nicht, aber
Panik schüttelte sie. Natara schrie und zitterte und fürchtete
sich, unfähig, auch nur wieder aufzustehen, und ganz sicher
unfähig, auch nur noch einen Schritt in diesem Treppenhaus zu
tun.
»Natara!«
Roveens Stimme hallte von irgendwo aus weiter Ferne in ihr Ohr.
»Natara!« Die Stimme konnte von ganz oben kommen oder
ganz unten oder überall, aber Roveens Hand war ganz nah, an
Nataras Schulter, konnte sie halten oder stürzen. Sie hielt.
»Was machst du für Sachen, hör auf zu schreien!«
Hilfe,
durchzuckte es Nataras Kopf. Sie mußte um Hilfe schreien, um
nicht zu sterben. Wenn sie laut genug schrie, dann ging die Angst.
Und vielleicht, wenn sie laut genug schrie, wer kam dann, um sie zu
retten? »Ich kann nicht«, flüsterte Natara und
merkte erst dann, daß sie nicht mehr schrie, nur noch wimmerte.
»Du willst
nicht durchs Treppenhaus, ich versteh ja nicht warum, aber seh ich
das richtig?« Langsam, vorsichtig zog Roveen Natara rückwärts
von der Treppe weg, ehe sie auch nur versuchte, sie wieder auf die
Beine zu bringen. »Wirklich, Kleines, das ist nur eine Treppe!
Die tut dir nichts, wenn du nicht mit dem Kopf zuvorderst
runterspringst - und wir wollen doch rauf!«
Wie auf Befehl
zitterte Natara stärker. »Nein«, flüsterte sie
nur. Die Angst war größer als die Übelkeit, aber
besser machte es das nicht.
»Also,
du läßt mir wirklich keine Wahl.« Roveen zerrte
Natara wie ein schlaffes Bündel über die Bodenkacheln, als
ob sie weder Beine noch Knochen besaß. Die Strümpfe wurden
ihr schmutzig, zerrissen vielleicht sogar, aber für Natara
bedeutete es in dem Moment nur, daß sich Lyda über ihre
schmutzigen aufgeschürften Beine würde wundern können
- ihre toten
schmutzigen aufgeschürften Beine… »Ich sag doch,
ich trag dich nicht, und erst recht keine Treppe hoch. Wirklich, du
bist schlimmer als Amra, wenn sie nicht ins Bett will - hast du sie
mal erlebt, wenn sie einen Koller schmeißt?« Aber ihre
Worte waren mit ihrem freundlichen aufmunternden Klang verloren für
Nataras Ohren, in denen immer noch das rauschende Rufen der Treppe
angstvoll nachhallte. »So, und jetzt hoch mit dir, ich bin
nicht dazu da, den Boden zu wischen und du erst recht nicht - dann
kommst du eben nicht in dein Zimmer. Macht auch nichts.«
Endlich
stand Natara wieder auf ihren Füßen, keuchend und mit
einem Dröhnen im Kopf, das nicht mehr und nicht weniger wurde
und niemals wieder gehen wollte. Die Tränen ließenihr
ganzes Gesicht brennen, aber wenigstens mußte sie nichts mehr
sagen, Roveen stellte keine Fragen, und wenigstens hatte ihr Geschrei
doch niemanden angelockt - das mußte man doch durch den ganzen
Palast gehört haben! Natara konnte nicht mal bei der Vorstellung
lächeln, als sie Roveen mit trippeligen, kleinlauten Schritten
über den Flur folgte. Sie fühlte sich so unglaublich dumm
und hilflos, aber ein anderer Teil von ihr wußte, daß es
ihre weiseste Entscheidung des Tages gewesen war, das todbringende
Treppenhaus zu meiden.
Roveen seufzte. »In
die Besprechung setze ich dich nicht zurück, so wie du jetzt
aussiehst - und schlecht ist dir auch immer noch, oder?«
Die Augen verschämt
am Boden, nickte Natara mit so wenig Kopfregung wie möglich.
Wenn Aralee sie jetzt so sah… Wenn sie das Schreien gehört
hatte und eine Erklärung verlangte… Aber genau diesen
Gedanken mußte Roveen gelesen haben.
»Ich bringe
dich in Aralees Zimmer«, sagte sie. »Das ist das einzige
auf dieser Ebene, für das ich einen Schlüssel habe, also
spar dir den Protest, du hast keine Wahl - immer noch besser, als
wenn hier auf dem Gang jemand über dich stolpert.«
Unter anderen
Umständen hätte Natara vielleicht gefragt, wie es kam, daß
Roveen einen Schlüssel für Aralees private Gemächer
besaß - so war sie gerade eben wachsam genug, um sich darüber
zu wundern. Und ein bißchen neidisch zu sein - Natara hatte
noch nicht einmal einen Schlüssel für ihr eigenes Zimmer…
Ganz kurz schauderte sie bei dem Gedanken an Schlüssel, mußte
an den einen denken, den sie in den Nilomar werfen wollten…
Sie hatte nie gefragt, was Lyda mit ihm gemacht hatte - wollte es gar
nicht wissen, Lyda wußte es, und das war gefährlich genug…
Natara stolperte.
»Nicht
hinfallen, Kleines«, sagte Roveen und hielt sie beherzt etwas
fester - Nataras Angst schwoll an, weglaufen konnte sie jetzt nicht
mehr, selbst wenn sie wollte, kein Stückweit. »Wir sind ja
gleich da - und ich bin mir sicher, Aralee hat auch etwas gegen
Übelkeit.«
»Ist…
ist sie denn da?« würgte Natara hervor; es war Furcht, die
ihr die Kehle zuschnürte, aber vielleicht war das auch ganz gut
so - mit diesem zusammengedrückten Hals konnte sie sich
wenigstens auch nicht mehr übergeben.
Roveen lachte. »Und
hat Angsgar gleich mitgenommen? Nein, Kleines, so schell kommen die
da heute nicht raus, und wenn alles gutgeht, kann Gaell heute Ansgar
haben und ich meine Ruhe.«
Natara fragte nicht,
was Gaell mit Ansgar wollte - sie fühlte sich alt genug, um
schon zuviel Ahnung von der Antwort zu haben. »Aber…«,
fragte sie nur.
»Heilkräuter«,
sagte Roveen nur. »Aralees Steckenpferd, weißt du nicht?«
Und da waren sie auch schon bei der Tür angekommen, die Natara
nur zu gut erkannte. Während Natara sich erschöpft an der
Wand abstützte und sich fragte, warum sich dieser Weg so lang
angefühlt hatte, wenn er doch eigentlich ganz kurz war, mühte
sich Roveen mit einem kleinen Schlüsselbund ab - es waren nur
drei Schlüssel daran, und von mindestens einem davon hatte
Natara keine Ahnung, wozu er gehörte, aber Roveen brauchte
trotzdem mindestens fünf Versuche, bis sie endlich den passenden
hatte.
Natara hörte
sich immer lauter atmen und ihr Herz hämmern und ihr Blut
rauschen; mit jedem Atemzug wogte sie oder die Welt auf und ab, und
was war, wenn hinter der Tür doch Aralee wartete?
»So,
geschafft«, frohlockte Roveen ein wenig zu triumphierend für
ein einfaches Türaufsperren, »dann mal hinein mit dir!«
Und bevor Natara noch protestieren konnte, wurde sie schon in Aralees
Zimmer geschoben - und als hinter ihr die Tür wieder ins Schloß
fiel, klang das sehr endgültig und auch ziemlich bedrohlich.
Das Zimmer wallte an
Natara vorbei, und dann fand sie sich plötzlich in einem anderen
Zimmer wieder, das dahinter lag und in dem Natara noch nie war -
vielleicht Aralees Schlafzimmer, Natara fühlte sich wie ein
Eindringling, und das Gefühl von Übelkeit und
zusammengezogener Kehle nahm ihr allen Atem.
»Na, was sag
ich dir, sie ist nicht da.« Roveen lud Natara in einem kleinen
Sessel ab, zündete die Lampen an und streckte sich. »Dann
wollen wir mal sehen…« Sie ging vor einem kleinen
Schränkchen auf die Knie und öffnete seine Türen.
Natara beugte sich
vor, daß sie fast aus dem Sessel rutschte, und sah blinzelnd,
daß darin Fläschchen an Fläschchen stand. »Medizin?«
fragte sie vorsichtig. Nicht, daß das jetzt Gift war…
Aber wer sollte soviel Gift auf einmal brauchen?
»Medizin«,
wiederholte Roveen halb zufrieden, halb unsicher. »Weißt
du, Kleines, du bist ja nicht die Einzige, die Unsinn treibt. Ich
habe mich mal bei einem Essen mit Aralee so sinnlos betrunken, das
war keine Freude mehr. Aralee hat mir etwas gegen Übelkeit
gegeben, das war ein wahres Wunder, hier aus diesem Schrank - aber
hier sind soviele Flaschen, und alle sehen gleich aus bis auf die
Zettelchen…«
»Es geht
schon«, log Natara - ehe ihr Roveen irgend etwas
verabreichte, war Natara lieber einfach nur schlecht.
»Lüg
nicht«, sagte Roveen, ohne sich umzudrehen. »Du bist ganz
und gar grün um die Nase, ich kenne das doch - aber wenn ich das
finde, bist du im Handumdrehen wieder auf den Beinen, wir machen dich
sauber, und dann geht es zurück in die Sitzung, ehe da auch nur
einer sich fragt, was aus uns geworden ist…«
Natara wußte
nicht, ob sie sich das wünschen oder fürchten sollte. Wenn
sie wieder zurückkehrte, war es für sie sicher das Beste,
um für die Zukunft um eine Strafe herumzukommen… Aber
jetzt wieder Aralee und Ansgar unter die Augen zu treten…
»Aber ich bin
ja so dumm!« Roveen federte hoch. »Du kannst mir, oder
dir, was das angeht, helfen. Du kannst ja lesen!« Sie zog
Natara aus dem Sessel und hin zu dem geheimnisvollen Schränkchen.
»Hilf mir mal suchen.«
»Was denn?«
fragte Natara - sie konnte kaum etwas erkennen, es war dämmerdunkel
im Schrankinneren, und selbst wenn sie die Fläschchen
herausnahm, mußte sie schielen, um die verschwimmenden
Buchstaben auf den kleinen Zettelchen in eine sinnvolle Reihenfolge
zu bringen.
»Es war ein
Frauenname, das weiß ich noch«, antwortete Roveen. »Und
es hat scheußlich geschmeckt… Irgendwas wie Martha,
Hilda… nein, Ilse, das war es. Ilsenkraut.«
»Ilsenkraut«,
wiederholte Natara matt und griff nach der nächsten Flasche. Sie
hatte noch nie davon gehört, und der Schrank auch nicht - aber
nach einigem Suchen brachte sie tatsächlich eine kleine braune
Flasche ans Licht, auf der fast das richtige stand. »Ich habe
hier Bilsenkraut«, sagte Natara, »mit B.«
»Genau!«
rief Roveen. »Ilsebilse, das war es! Ich fand das damals
unglaublich lustig.« Sie nahm Natara die Flasche aus der Hand,
zog den Korken und roch daran. Dann schüttelte sie sich. »Puh,
das ist es, kein Zweifel. Den Geruch vergesse ich im Leben nie.«
Sie nahm ein
silbernes Becherchen vom Tisch und goß etwas hinein, goß
noch ein wenig nach, dann hielt sie es Natara hin. »Augen zu,
Kleines, Nase zu, runter damit.«
Natara gehorchte zu
schnell - sie hatte die Flasche selbst gesucht und entdeckt und
keinen Gedanken mehr daran verschwendet, daß es doch Gift sein
konnte - es stand nichts von Gift darauf, aber was hieß das
schon? Zu spät kam sie die Idee, an Roveens Worten zu zweifeln:
Da hatte Natara den Becher schon geleert, und ein stechendes Brennen
machte ihr Hals und Mund ganz warm und lahm… Natara erschrak,
aber nur kurz und auf seltsam stumpfe Weise. ‘Was das Gift?’
wollte sie noch fragen, aber schon in ihrem Kopf klang das mehr
neugierig als besorgt - aber dann begriff sie, daß ihr nicht
mehr übel war. Kein bißchen. Nur noch warm und etwas
flauschig, und eigentlich ganz angenehm.
»Wunderbar«,
sagte Roveen und umarmte sie. »Du siehst schon gleich viel
besser aus. Dann setz dich noch einen Moment in den Sessel und warte,
daß es dir auch wirklich wieder gut geht und wir uns auf den
Rückweg machen können.« Sie lächelte und strich
Natara mit dem Finger erst über die Wange, dann über die
Nasenspitze, bis Natara schielen mußte. »Und dann…
möchtest du mir vielleicht noch etwas erzählen? Von dir
vielleicht, oder von Aralee?«
Natara kam nicht einmal mehr auf die Idee zu lügen.
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