Drittes Kapitel

Der Waldboden war weich und angenehm, doch nur unter den Schuhsohlen. Für bloße Füße war er dagegen kalt und feucht, rutschig und glitschig, voller harter Stacheln, spitzer Nadeln und scharfer Kanten, die in dem trügerisch weichen Grund nur um so stärker auffielen. Alexander war barfuß, doch in dem Moment war es ihm egal, auch die Kälte, die um seine nackten Beine zog und unter sein zu kurzes Nachthemd. In Koristan war es im Frühling wärmer als in Indiradin, und im Bett wärmer als im Wald. Alexander war es egal. Wenn er hier draußen erfrieren sollte, kam der Tod eben schneller, und wenn er sich nur ein Fieber einfing, sollte es auch nicht mehr zu lange dauern. In dieser Nacht konnte das Leben Alexander nicht mehr locken.
Er stolperte tiefer in den Wald, blind und ziellos, er wollte nur weg, fort von diesem Haus, fort von diesen Menschen, an einen Ort, an dem ihn niemand finden konnte. An einen Ort, an dem niemand ihn suchen würde, Halan am Allerwenigsten. Halan, dessen Herz kälter war als die Nacht und schwärzer als der Wald, Halan, der seine Dornen auf der Innenseite trug wie der Waldboden, doch sie stachen und schnitten tiefer, hundertmal tiefer. Halan, der ihn verriet mit einem Lächeln auf den Lippen, Halan, der seine Liebe nicht verkaufen konnte, weil er noch niemals Liebe besaß außer der, die Alexander mit ihm teilen wollte, Halan, der so klug sein wollte und der doch so wenig verstand.
Es waren nicht die Lügen, an denen Alexanders Herz in dieser Nacht zerbrach. Für die Lügen konnte er Halan hassen und Halan schlagen, sie taten weh und durften nicht sein, doch sie waren nur Lügen, ein Zeichen von Schwäche und Angst wie alle Lügen, und Angst war verzeihlich, nicht sofort, aber eines Tages. Es war nicht der Verrat - Alexander wußte ganz genau, daß und wie Halan ihn an Laibrin verschachert hatte, als wäre er selbst dabeigewesen; wußte es von dem Augenblick an, als Halan das Zimmer ohne ihn verließ; der Verrat war geschehen, bevor auch nur das erste Wort von ihm gesprochen war: Aber das war nur ein Verrat, und Alexander war schon so oft verraten worden und würde noch so oft verraten werden, wenn er die Nacht überlebte. Das war nur der Preis, wenn man anderen vertraute - dieser Verrat wollte nur das beste, geschah nicht aus Haß, und hassen konnte man Halan vielleicht dafür, doch nicht für immer.
Aber was Alexander nicht verzeihen konnte, wollte und würde, war, daß Halan ihn nicht liebte. Nicht liebte, und nie geliebt hatte. Halan war sein Leben lang einsam gewesen, und einsam macht eigensüchtig - es war nicht Halans Schuld, aber er hatte niemals gelernt, an jemand anderen zu denken als sich selbst. Halan wollte geliebt werden, und er nahm hin, daß es durch Alexander geschah - es war kostbar für ihn, weil es neu war und fremd, doch er verstand seinen Wert nicht, und in Wahrheit bedeutete es ihm nichts, Alexander bedeutete ihm nichts, er verstand ihn nicht, konnte ihn nicht verstehen, konnte es noch nicht einmal versuchen. Halan hatte kein Interesse an Gefühlen, er verdiente sie nicht, und Alexander konnte sich selbst nur noch hassen und verachten dafür, daß er sein Herz an den falschsten der Falschen gehängt hatte. Wer nicht lieben konnte, den durfte man auch nicht lieben, so einfach war das. Es war Alexanders Fehler, aber ob mit oder ohne, er liebte Halan nun einmal, konnte ihn nicht ungeliebt machen - und so, wie es war, auch nicht mehr weiterleben. Alexander war bereit, alles für Halan aufzugeben. Und mehr Alles als sein Leben hatte er nicht.
Diesmal machte ihm die Dunkelheit keine Angst mehr. Was sollte er auch fürchten? Fast mußte Alexander lachen - nichts brauchte er mehr zu fürchten, nichts auf der ganzen Welt - dabei hatte er den halben Winter in Angst verbracht: Angst vor dem Dunkel, Angst vor der Einsamkeit, Angst vor der Kälte, vor dem Tod. Und hier hatte er das alles, alles auf einmal - und fürchtete sich nicht. Wenn Halan… nein, wenn Janek ihn jetzt hätte sehen können! Wieder kämpfte Alexander ein Lachen nieder - ihm war nicht nach lachen zumute, aber manches war so ernst, daß man nicht anders konnte als darüber lachen. Alexander wußte genau, wie Janek auf diesen Anblick reagiert hätte, Alexander, aufrecht und furchtlos im Dunklen Wald: Mit ein paar Ohrfeigen und dem schroff gebellten Befehl, sofort zum Haus zurückzugehen und sich bei allen Engeln etwas anzuziehen, aber schnell… Alexander wollte nicht, daß Janek ihn fand, denn er kannte sich zu gut, wußte, daß er dann gehorchen würde und am anderen Morgen zum Kampftraining erscheinen, als wäre nichts gewesen.
Aber Alexander wollte nicht zurück, er wollte keinen Unterricht mehr, auch wenn er es immer geliebt hatte, er wollte niemandem mehr wehtun müssen und nicht mehr kämpfen, nie wieder kämpfen, es gab nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnte…
Alexander strauchelte und fing sich wieder; die Beine schmerzten ihm von der seltsam stolpernden, tänzelnd-hüpfenden Art, mit der er seine Füße bewegte vor all den Stacheln und Steinen. So viele Dornen waren schon gegen seine bloßen Schenkel geschlagen und hatten sich in seine Zehen gebohrt, daß Alexander eine rechte Spur aus Blut hinterlassen haben mußte, der man folgen konnte - doch er wollte verdammt sein, wenn er jemals allein den Weg zurück finden sollte. Er wußte nicht, wie lang oder wie weit er gelaufen war. Egal in welche Richtung er blickte, der Wald war sternlos schwarz, und Alexander mußte sich mit ausgestreckten Armen vorwärts tasten, um seinen Bogen um die Bäume ziehen zu können. Es fühlte sich weit an, aber der Morgen war noch fern, die Luft schmeckte dunkelblau wie die Nacht, wie das Wappen von Koristan, wie der Abgrund selbst… Alexander wünschte sich den Abgrund herbei. Er verhieß mehr Trost als der Wald - er war ebenso tief, kalt, dunkel und unendlich, aber er versprach das Ende aller Schmerzen. Wenn hier ein Abgrund war, irgendwo, der bereit war, Alexander mit sich zu nehmen und die Ewigkeit mit ihm zu teilen…
Aber Indiradin hatte keinen Abgrund als den Wald. Der Wald war endlos. Man konnte tiefer und tiefer in ihn eindringen und laufen und laufen, es kam nur immer mehr Wald und Wald, die Welt war zuende und man merkte es nicht. Der Wald von Indiradin war eines der Enden der Welt, wie das Meer von Jelenandrea und die Berge von Elysir, Alexander kannte sie alle. Als kleiner Junge, auf Koris’ Schoß, den Finger auf der großen Weltkarte… Und was kommt hinter dem Wald? - Es gibt kein Hinter dem Wald. - Doch, gibt es wohl, du warst nur noch nie da… Wenn ich groß bin, fahre ich dahin und dahin und dahin… Wenn Alexander damals geahnt hätte, wie nah er dem Dahin einmal kommen sollte! Aber es war erst jetzt, mit der Erinnerung an Koris und an das Glück, wahrhaftig zu lieben und geliebt zu werden, daß Alexander die Augen heiß wurden und er über all der Schwärze blind war vor Tränen.
Das war das Ende. Eben noch war Alexander bereit, durch die Nacht zu irren und zu stolpern, bis er den Rand der Welt erreichte und es keine anderen Menschen mehr gab als ihn allein - aber nun konnte er nicht mehr. Er schaffte noch ein paar Schritte, dann fiel er hin, über einen Ast, eine Wurzel oder seine eigenen Füße, es war egal, und blieb auf Händen und Knien liegen, lautlos weinend. Er wußte nicht wie lange, er rührte sich nicht, außer um zu atmen, und er hörte nichts außer sich selbst - alle Geräusche des Waldes und der Nacht mochten weiter um ihn herumschwirren, aber für Alexander gab es nur noch ihn selbst und die Schatten der Vergangenheit - als er plötzlich das Gefühl hatte, nicht mehr allein zu sein.
Der Atem erstarrte Alexander, sein Körper fror ein, er wagte sich nicht mehr zu bewegen. All die Märchen kehrten zu Alexander zurück, die Geschichten, mit denen er den Winter über gegen die dunklen Träume angekämpft hatte - all die Wesen, die im Wald lebten… Alexander wußte, daß an jeder Sage ein wahrer Kern war. An diesem Tag hatte er bereits geglaubt, in Laibrins verdammter Tochter ein Waldkind erkannt zu haben, und mußte sich von Halan dafür verlachen lassen - aber das jetzt fühlte sich ganz anders an. Viel größer.
Alexander lauschte in die Nacht und fürchtete gleichzeitig, etwas zu hören - war das ein Lachen, wie von einem Kind? Oder doch nur ein Vogel? Durch Alexanders zusammengekniffene Augen drang Licht in seinen Kopf; eben noch war alles dröhnend schwarz - jetzt umgab ihn fremdes Blau. Die Kälte kroch in jede Faser seines Körpers und lähmte, was noch nicht lahm war. Wieder hörte er etwas wie ein Lachen - es bewegte sich dicht an ihm vorbei, war erst in dem einen Ohr, dann in dem anderen, und ganz sicher kein Vogel - und das Licht wurde härter, und blauer, und kälter. Plötzlich war Alexanders Kopf voll davon - und voller Bilder. Weiß wie das Licht, weiß wie Schnee, weiße Federn, scharfe Schnäbel. Alexander hatte die Schwäne nicht gerufen, aber sie kamen von selbst.
Früher kam die Angst mit den Schwänen. Jetzt kamen die Schwäne mit der Angst. Er sah sie vor sich, wirklicher und bedrohlicher als alles, was im Wald warten mochte. Er fühlte ihren Flügelwind, hörte ihr Fauchen, ungeduldig, sie warteten auf ihn. Alexander wußte genau, daß sie nicht da waren, daß sie nur ein Angstbild waren - aber gleichzeitig waren sie da, waren sie wirklich, und Wissen hatte weniger Macht als Fühlen, wenn es um Angst ging.
Er spürte jemanden hinter sich, hörte Lachen von mehreren Kindern, die wie Schwäne klangen, und dann, endlich, gelang es ihm, den Kopf zu heben und die Augen aufzureißen, dem Traum zu entkommen - kein Schrecknis des Waldes konnte es mit einem Schwan aufnehmen, keine Angst der Welt war größer als die, die aus seinem eigenen Innersten geboren wurde.
Vor Alexanders Augen war der Wald wie verwandelt - wo eben noch schwärzeste Finsternis herrschte, lag nun eine Lichtung. Vielleicht war sie immer schon da - aber nun war sie hell, wie vom Mittagslicht beschienen, und die Bäume standen in vollem Sommergrün. Kalt war es gleichzeitig, kälter noch als zuvor, aber das galt nur für Alexander - die Kinder, die auf der Lichtung spielten, nahmen sich in ihren leichten Kleidern nichts davon an. Sie waren ganz in ihr Spiel versunken, achteten nicht auf Alexander, aber vielleicht sahen sie ihn auch einfach nicht.
Wer sagte denn, daß Alexander gerade dort war, gerade wirklich war, daß es Nacht war und Frühling statt Tag und Sommer? Alexander starrte sie an, sprachlos, ungläubig - aber es war seine eigene Existenz, die er in diesem Moment anzweifelte, nicht die der Kinder. Wie schrecklich mußten ihre Märchen sein! Es liegt ein Wald außerhalb der Lichtung, kalt ist es dort und kahl, und ein Junge hockt dort und weint… Dann lieber lachende Kinder im Licht.
Alexander konnte es nicht genau sagen, ein Schleier lag vor seinen Augen, geboren aus Angst und Tränen, aber er zählte vier Kinder, alles Mädchen, im Alter zwischen vielleicht fünf und vielleicht zwölf, dreizehn Jahren - aber das war nur ihre Größe, ansonsten waren sie alle gleich alt, alle gleich Kind.
Ein kleines Mädchen mit schwarzem Haarhelm, weißes Kleid, vergnügtes Lachen, tanzte im Kreis. Größeres Mädchen, Haar auch kurz und schwarz, saß im Gras, verträumt, und flocht einen Kranz aus kleinen hellen Blumen, die ein dichtes Polster mit dem Gras bildeten. Mittleres Mädchen, stumpfblondes langes Haar, glanzlos im Licht, ritt ausgelassen und auf einem wilden unsichtbaren Pferd. Und das vierte Mädchen, mit leuchtendem rotblonden Haar, fing das Licht in ihren Händen, die Augen fest auf Alexander gerichtet. Sie war die Königin der Kinder, mit jedem Zoll ihres Körpers, auch ohne daß sich die anderen vor ihr verneigten. Und sie konnte Alexander sehen, so wie er sie sah.
Alexander versuchte zu lächeln - nicht für das Mädchen, sondern für sich selbst. Diese Kinder waren ein tröstlicher Anblick, und ein seltsam vertrauter. Einen Augenblick lang glaubte Alexander, oder versuchte es sich zumindest vorzustellen, daß er selbst einmal auf dieser Richtung gespielt hatte, als gebe es keine anderen Menschen, keine Welt, kein Morgen, und erst recht kein Gestern. Jetzt konnte er nur seinen eigenen Schatten sehen, ein kleiner Junge mit einem Helm aus schwarzem Haar, der am Rand der Lichtung stand, allein und verloren, und nicht mitspielen konnte. Hatte er damals auch dort gestanden? Oder war das auch seine Lichtung, wo er tollen und spielen durfte, kein Gefangener mehr sein mußte… Alexander schluckte. War er ein Gefangener? Ja, schon seit langem. Nicht erst, seit man ihn in den Kerker geworfen hatte, sondern schon viel, viel länger. Seit dem Tag seiner Geburt. Oder seit dem Tag seiner Zeugung. Alexander war ein Gefangener seines Blutes, und das würde er auf immer und ewig sein, solange sein Herz schlug. Nicht erst seit seiner Krönung dachte Alexander manchmal oder öfters daran, dem Ganzen ein Ende zu setzen, und jetzt, so sehr ihn dieser Anblick auch tröstete, wußte er, daß ihm wirklich keine andere Lösung blieb. Wenn er auf diese Lichtung wollte… Er mußte nicht in die Augen dieser Kinder blicken, um zu verstehen, daß sie nicht lebten, nicht mehr, nicht hier - er mußte keinen Schritt tun, um zu wissen, daß er die Lichtung nicht betreten konnte. Noch nicht.
Nur ein paar Schritt entfernt spielten die Kinder, aber zwischen ihnen und Alexander klaffte ein Graben, so weit wie Licht und Dunkel. Manchmal hatte Alexander das Gefühl, beobachtet zu werden, meistens von dem rotblonden Mädchen, aber manchmal auch von dem kleinen schwarzhaarigen - ihr Gesicht hatte etwas seltsam Vertrautes, aber er konnte es nicht einordnen: Wo immer er sie schon einmal gesehen haben mochte, diese Fröhlichkeit, die nun alles ausmachte, war so neu und fremd, daß es ihn von aller Erinnerung ablenkte. Alle anderen Orte, alle anderen Zeiten waren so weit weg, sie waren bedeutungslos. Alexander wollte nicht innehalten und grübeln, er wollte zusehen mit weit offenen Augen und keinen Moment dieses fremden Glücks versäumen.
Am Ende konnte er nicht einmal sagen, warum ihn dieser Anblick so berührte - aber vielleicht war es genau das: Weil es nur ein Anblick war, weil Alexander das Glück dieser Kinder sehen konnte und hören, doch nicht fühlen - seine Gefühle durften seine eigenen bleiben in diesem Moment, und das machte es für ihn so wahrhaftig. Er wußte, daß er selbst es war, in dessen Herzen sich etwas regte. So viele Gefühle mußte er teilen, daß seine eigenen ihm darüber manchmal fremd geworden waren: Aber wie auf der Lichtung jedes Kind nur für sich selbst spielte und keines wirklicher war als ein Traum, stand auch Alexander nur für sich selbst. Es tat weh, es ließ ihn die Einsamkeit stärker fühlen, doch es war er, und er war wahrhaftig.
Ein wenig fühlte sich Alexander selbst wie in einem Traum, doch er wußte, daß er wach war - er kannte seine Träume, er wußte, welche Gedanken er in ihnen fassen konnte und welche nicht: Es war kein Traum, nicht für Alexander. Vielleicht träumten die Kinder, vielleicht durfte Alexander daran teilhaben, doch er war wach und wollte es bleiben: Denn sobald er einschlief, mußte dieser Traum enden. Doch anders als ein Erwachen, das jäh ist und schmerzhaft, kam der Schlaf schleichend und ließ Alexander einnicken, bevor er es begriff.
Alexander schreckte hoch, versuchte seine Augen aufzureißen und das Blei aus seinen Knochen zu schütteln, ohne mit einer falschen Bewegung den ganzen Zauber zu zerstören. Aber die Müdigkeit war da, kroch langsam in ihm hoch, raubte das Gefühl aus seinen Händen und Füßen und ließ ihm Gedankenfetzen durch den Kopf ziehen - wieder so ein seltsames Gefühl der Vertrautheit, mit dem kleinen Mädchen, mit der Lichtung, mit all den Bildern und Geräuschen. Trotzdem mußte er dreimal wegdämmern und dreimal wieder hochschrecken, bevor er begriff, was es war. Das Mädchen war Amra.
Alexander blinzelte und zwinkerte, aber nun war das Gesicht nicht mehr wegzudenken. Amra spielte auf der Lichtung. Warum durfte sie, und Alexander nicht? Er zwinkerte nochmal. Das Mädchen blieb.
Sie sprachen nie über Amra. Am liebsten taten sie, als ob Amra gar nicht existierte, als ob sich die Krone in Luft aufgelöst hätte, als ob es nur Aralee gab und Aralee der Feind war. Amra gab es nicht, und doch spielte sie auf der Lichtung… oder gerade deswegen…
Alexander brauchte lange, bis er seinen Mund auseinander bekam, zu bleiern saß schon die Müdigkeit in allen seinen Gliedern, und als er rufen wollte, mußte er erst nur gähnen, dafür verachtete er sich und war froh, daß keines der Kinder ihn in diesem Augenblick zu sehen schien - dann, endlich, rief er: »Amra!«
Sah sie zu ihm hin? Sah sie ihn, oder blickt sie nur zufällig in seine Richtung? Er rief ihren Namen nochmals, doch sie reagierte nicht weiter.
»Amra!« Endlich gelang es Alexander, die Schwere abzuschütteln und vorwärtszustolpern, in die Lichtung zu treten - wie wollte er es wissen, wenn er es nie versuchte? »Amra!« rief er nochmals. »Du kannst die Krone behalten! Ich will sie nicht, ich habe sie noch nie -« In dem Moment berührte er das Licht. Und es wurde dunkel.

Als Alexander wieder zu sich kam, fühlte es sich an, als wäre nur ein Augenblick vergangen. Er hatte nicht geschlafen, nicht geträumt, und er fühlte sich weder wach noch erfrischt - doch als er die Augen aufschlug, war er an einem anderen Ort. Es war immer noch Nacht, es war immer noch Wald, doch Alexander spürte die Veränderung. Die Lichtung war fort, natürlich war sie das, wenn sie überhaupt jemals dagewesen war - aber sie hätte fort sein können und Alexander immer noch am selben Fleck sein, das war es nicht - aber er war jetzt nah am Haus. Die Lichtung hatte ihm eine Entscheidung abgenommen, die Alexander längst schon getroffen hatte, und anders.
Noch immer war der Wald um Alexander, aber es war nicht mehr der tröstliche tiefe Wald, dem alle Menschen fremd und fern waren - es war der Wald, in den Laibrin sein Haus gebaut, dem er sein Siegel aufgedrückt hatte, und der Wald wußte es. Alexander konnte nicht nur Menschen spüren, oder Tiere: Wo der Wald war und fühlte, da konnte Alexander ihn teilen. Es half ihm nicht, wenn er sich verlaufen hatte, es war nichts, womit Alexander viel Zeit verbringen wollte - aber er spürte den Unterschied zwischen Wald mit Haus und Wald ohne Haus. Halan hätte ihn dafür ausgelacht. Aber Halan war nicht da.
Vielleicht war er im Haus - dort konnte Alexander ein Licht brennen sehen. Aber er wußte nicht, aus welchem Fenster es kam, und es konnte nicht Halan sein: Der lag bestimmt im Bett und schlief, und selbst wenn er gemerkt hatte, daß Alexander fort war, würde er ihn nicht suchen gehen und erst recht niemand von den anderen wecken - er würde den Schein wahren, tun, als ob nichts passiert wäre, und warten, daß Alexander von allein zurück kam… Aber gerade deswegen konnte und wollte Alexander nicht zurück. So müde er auch war, so sehr er sich nach einem Bett sehnte - in seinem eigenen würde er keinen Schlaf mehr finden. Und überhaupt, es war nicht sein Bett, es war nur geborgt, wie alles bis hin zu den Kleidern, die er am Leibe trug. Selbst dieses Hemd war nicht sein eigenes…
Alexander zitterte und rappelte sich auf. Vorsichtig schlich er sich zum Haus zurück - um wieder in den tiefen Wald hinein zu laufen, reichte seine Kraft nicht mehr aus, er brauchte einen Platz zum Schlafen, sonst würde er hier draußen, ohne ein Versteck zu haben, das Bewußtsein verlieren. Also zurück zum Haus, dorthin, wo man ihm am allerletzten suchen würde. Nach kurzer Überlegung entschied er sich für die Remise - Laibrin war erst am Vortag in seiner Kutsche angekommen und würde nicht schneller wieder fahren, als Alexander brauchte, um am anderen Morgen sein Pferd zu satteln und sich davonzustehlen, irgendwohin, wo es keine Schwäne gab. Und in einer Kutsche konnte er versteckt schlafen und nicht einmal schlecht, wie in einer dunklen Höhle…
Seine Arme zitterten, als Alexander das Tor der Remise aufschob. Es klemmte, oder es war zu groß für ihn, und eine verkehrte Welt: Von Geburt an war Alexander derjenige, der in der Kutsche saß, dem sich Tore auftaten, nicht derjenige, der die Kutsche anschirrte oder das Tor öffnete - aber er sollte sich besser daran gewöhnen; wenn er bereit war, das alles aufzugeben, mußte er sich auch endgültig daran gewöhnen, seine Arbeit selbst zu verrichten. Aber jetzt reichte es nur für einen schmalen Spalt, durch den Alexander sich ins Dunkel der Remise schob, und das Tor danach wieder zu schließen, war noch schwieriger - es war nicht vorgesehen, daß sich jemand einschloß und die Nacht in einer Kutsche verbrachte.
Dann war es dunkel um Alexander, zu dunkel fast - Fenster gab es keine, das Tor war zu, alles Licht am Haus, bei den Sternen, ausgesperrt, und die Angst griff wieder nach Alexander, lähmte ihn, daß er am liebsten auf dem schnellsten Weg wieder hinaus gekrochen wäre. Es machte keinen Sinn, das wußte er, ein dunkles Kutschhaus war nicht schlimmer als ein helles, aber er konnte nichts dagegen machen - Dunkel war Dunkel, und mit dem Dunkel kamen so viele Dinge zurück, Dinge, die ihn heimsuchten, wie sie ihn schon so oft heimgesucht hatten. Kein Wald konnte so dunkel sein wie ein Haus ohne Fenster, und so beklemmend - Alexander hatte Angst im Dunkeln, seit er denken konnte, aber schlimm war es immer nur dann, wenn niemand da war, um ihn zu trösten… Aber allein würde er jetzt noch oft sein. Alexander atmete durch, lang und tief und oft, und tastete sich vorwärts, bis seine Augen sich an die Schwärze gewöhnten, und aus den Ritzen drang Licht herein, in dem sich unscharf die Umrisse der Kutsche abzeichneten. Aber erst, nachdem er sich hingetastet hatte und hinein geklettert war, sich in einer Ecke auf der Bank zusammenkauerte und die muffige, staubig-modrige Luft der alten Kutsche einatmete, ausatmete, einatmete, beruhigte sich sein hämmerndes Herz, ließ die Angst langsam von ihm ab, und irgendwann, als die Müdigkeit die Angst überwog und ihm die gekrümmte Haltung weniger ausmachte als das Blei in seinen Lidern, schlief er ein.
Er wußte nicht, wie lang er schlief - als er erwachte, war es immer noch dunkel um ihn, dämmrig dunkel, daß es jede Tageszeit sein konnte, nur keine Nacht mehr, aber es war Frühling, und die Sonne kam viel früher als noch vor ein paar Wochen. Alexander blieb zusammengekauert sitzen, wartete und lauschte - egal was Halan auch versuchte, früher oder später wußte das ganze Haus von Alexanders verschwinden, früher oder später würden sie ihn suchen gehen. Aber nicht hier - im Wald, nicht hier…
Alexander wartete und lauschte. Rief da jemand seinen Namen? Vielleicht, und was für eine Dummheit war das! Es mußte Halan sein. Konnten sie sich nicht denken, daß Alexander nicht gefunden werden wollte? Wer davonlief, kam nicht nur deswegen zurück, weil sich ein anderer an seinen Namen erinnerte. Oder dachten sie etwa, daß sich Alexander im Wald verlaufen hatte und nur dann heimfand, wenn er den Weg dahin auch hören konnte? Alexander hielt die Luft an und machte sich klein in seiner stickigen Kutsche - es machte kaum einen Unterschied, ob er atmete oder nicht, die Luft darin hatte er längst verbraucht, während er schlief. Vielleicht hatte ihn sogar das Rufen geweckt? Sie riefen Alexander, nicht Anders - das hieß, Halan war nicht allein… Dann hätte er es besser wissen müssen. Halan konnte rufen, soviel er wollte - solange niemand auf die Idee kam, ihn in der Kutsche zu suchen, würde Alexander auch nicht herauskommen.
Er wartete, bis sich die Stimmen entfernten, bis sie in den Wald hineinliefen, um ihn dort zu finden, wo niemand gefunden werden konnte. Dann erst, als es wirklich still um ihn war, wagte Alexander sich hinaus. Es reichte nicht, in den Stall zu kommen und sein Pferd zu satteln - vorher brauchte er etwas anzuziehen, er konnte schlecht nackt in die Welt reiten, also erst ins Haus und dann in den Stall - das war gefährlich: Zu einfach, jemandem in die Arme zu laufen, und wenn es ein Bediensteter war.
Aber er hatte Glück. Alexander hatte gute Ohren, und weil er wußte, daß Halans Ohren noch besser waren, mußte er sich lautlos bewegen - aber das konnte er, das hatte er schon vor langem lernen müssen, damit niemand Verdacht schöpfte, daß Koris und er einander liebten. Lautlos ins Haus, wo niemand mehr war - Dummköpfe alle, die ihn im Wald wähnten, und dann, mit seinen Sandalen an den Füßen, mit Tunika und fremden Hosen, die er nur trug, weil Indiradin so ein kaltes Land war, daß man Hosen tragen mußte wie eine Frau, schlich er sich zu den Stallungen. Wenn jetzt die Pferde nur still blieben! Wenn sie ihn nur nicht verrieten, laut wieherten, daß Halan es hörte und zurücklief, bevor Alexander aufgesessen war und davongaloppierte, in die Freiheit, in den Tod, an irgendeinen anderen Ort, wo er er selbst sein durfte. Und wenn es der Tod war, wenn er stürzen und sich den Hals brechen sollte - dann war es so, dann war es recht, und die Lichtung wartete noch immer auf ihn. Nur lautlos in den Stall schleichen…
»Schscht«, sagte Janek und schloß die Tür hinter ihm. »Ich wußte doch, daß du früher oder später hier aufschlagen würdest.«
Alexander erstarrte mitten in der Bewegung und verfluchte sich selbst. Natürlich wußte der Krüppel es besser, als blindlings in den Wald zu rennen! Er kannte Alexander gut genug, um zu wissen, daß der früher oder später ein Pferd brauchen würde! »Wartest du schon lange?« fragte er nur.
»Ja«, sagte Janek. »Aber nicht auf dich.« Er stand nicht auf, um Alexander zu begrüßen, und blieb auf der Futterkiste sitzen. Er durfte das. Es gab nicht viele, denen Alexander das erlaubt hätte. Halan und Janek. Eigentlich nur Janek. Halan wäre aufgestanden.
»Bist du hier, um mich aufzuhalten, oder um dich zu verabschieden?« fragte Alexander - aber was er eigentlich wollte in diesem Moment war reden, nicht davonreiten. Trotzdem, er mußte es tun -
»Weder noch«, sagte Janek. »Wenn du hier vorhast, heute aufzubrechen, komme ich mit.«
»Nein«, erwiderte Alexander. »Ich reite allein.«
Janek schüttelte den Kopf, belustigt. »Was glaubst du schon wieder, mir Vorschriften zu machen? Du kannst mich nicht davon abhalten, den gleichen Weg zu haben wie du.«
Alexander biß sich auf die Unterlippe. Wenn Janek ihn begleitete, war es das Beste, was nur passieren konnte. Ein Freund - jemand zum Reden - einer, der kämpfen konnte und es ihn lehrte - aber es ging nicht. Alexanders neues Leben wollte, daß er es ganz allein suchen ging. Auch wenn es wehtat. »Ich kann nicht«, sagte Alexander mit nicht mehr ganz so harter Stimme. »Ich fange von vorn an, irgendwo, wo mich niemand kennt.«
Janek zuckte die Schultern. »Das kannst du von mir aus - aber sag mir, welchen Grund ich habe, in dieser vedammten Einöde herumzusitzen, wenn du nicht mehr da bist?«
Fast hätte Alexander ihm jetzt zugestimmt, aber da er so oder so keine Möglichkeit hatte, Janek aufzuhalten - außer, indem er ihm davonrannte - konnte er ebensogut sein Gesicht wahren und bei seiner Weigerung bleiben. Oder das Thema wechseln. »Warum sitzt du dann überhaupt noch hier herum?« Es tat weh, das zu sagen. Janek hatte ihm über den Winter geholfen und ihm Beschäftigung gegeben, als Alexander an seinen eigenen Abgründen zu ersticken drohte.
Janek lachte nur. »Du hast mir mal gesagt, du brauchst mich. Und ich sehe nichts, das mich jetzt vom Gegenteil überzeugen würde.«
Alexander überlegte, zumindest schon einmal mit dem Satteln anzufangen, um nicht zuviel kostbare Zeit zu vertrödeln, und verschob es doch auf später. Er konnte Janek vor den Kopf stoßen, aber er durfte ihn nicht ignorieren. »Jetzt brauche ich dich jedenfalls nicht mehr«, sagte er kalt, aber ihm zitterte die Stimme.
Janek lehnte sich zurück und streckte sich. Die Krücke lag neben ihm auf dem Boden - es war anders, als er nur seinen Gehstock dabeihatte. Die Krücke machte ihn zu einem alten Mann. »Du brauchst mich mehr denn je.« Er konnte noch ein Söldner sein mit dem Gehstock, vielleicht, aber nicht mit einer Krücke. Wohin sollte Janek jetzt gehen, wenn nicht mit Alexander? Der Krieg würde ihn nicht mehr nehmen. Oder nicht für lang. Janek brauchte Alexander, nicht umgekehrt, das war die Wahrheit, und sie wußten es beide.
Durch das schmutzige kleine Fenster fiel Licht herein, doch selbst im Sonnenschein sahen Janeks Haare nicht mehr so rot aus wie früher, es war Grau darin, zuviel grau - als sie sich zum ersten Mal trafen, war keine einzige graue Strähne in Janeks Haar. Alexander mochte das Gefühl, älter zu werden, kein Kind mehr zu sein und nicht wie eines behandelt zu werden, aber bei anderen Leuten machte es ihm Angst. Er mußte an Koris denken, der immer so jung aussah und der so plötzlich sterben mußte - Koris hatte niemals auch nur ein graues Haar. Wie Halan. Halan durfte auch niemals älter werden…
»Du hörst mir nicht zu«, sagte Janek abrupt.
Und Alexander hatte keine Lust, sich zu verteidigen. »Ich muß dir nicht zuhören«, erwiderte er. »Du sagst ohnehin immer nur das gleiche.«
»So? Was habe ich denn gesagt?«
»Daß ich auf dich angewiesen bin.« Hatte Janek gesagt. Bis dahin war Alexander ihm auch gefolgt - was danach kam, konnte nicht viel anders gewesen sein.
»Ich habe dich gefragt, wohin du reiten willst.« Ein klein wenig verärgert klang Janek schon. Wieviel hatte er denn noch gesagt? »Du hast vielleicht ein Pferd, aber nichts zum anziehen. Du hast kein Geld. Du hast nichts zu essen. In Koristan darfst du dich nicht blicken lassen, wenn du es überhaupt bis dahin schaffen solltest. Du hast keinen Plan, und wenn doch, taugt er nichts.«
Alexander antwortete nicht. Es war ihm egal, wohin er ritt. Er wollte nirgendwo hin. Er wollte nur fort. Den Ort, nach dem er sich so sehnte, gab es doch nirgendwo, und wenn doch, war er verboten wie die Lichtung. Und wenn er in den Tod ritt - er wollte dieses Leben nicht mehr, mit allem, was daranhing. Vielleicht fand er ja auch das Glück. Und das Glück widersetzte sich jedem Plan.
»Ich brauche keinen Plan«, sagte er trotzig.
Janek erhob sich, etwas unsicher. War das nur sein kaputter Fuß, oder hatte er getrunken? Alexander roch nichts, und Janek war anders, wenn er betrunken war, lauter und ungeduldiger. Er mußte der Fuß sein. Vielleicht schmerzte er jetzt mehr als früher? Es war nichts, worüber sie redeten. »Du brauchst einen Plan«, sagte Janek, und in seiner Stimme war dieses bestimmte Grollen, das Alexander mehr liebte als fürchtete. »Du willst den Tod? Den hättest du haben können, letztes Jahr schon, an diesem Tag auf der Landstraße, da hättest du ihn haben können. Jetzt nicht mehr. Du schuldest mir dein Leben. Ich habe einen zu hohen Preis gezahlt, damit du lebst.«
Alexander fragte nicht. Er konnte sich nicht an seine Befreiung erinnern, und das war sicher das Beste, was es darüber zu sagen gab - Janek machte manchmal Andeutungen, aber dann hörte Alexander weg. Er wollte es nicht wissen -
»Ich habe einen Mann umgebracht, damit du lebst.« Am liebsten hätte sich Alexander die Ohren zugehalten. Er hatte nicht darum gebeten. »Wenn du schon nicht daran denkst, was du mir schuldest, dann ihm.« Alle wollten ihn erpressen, jeder auf seine Art. Halan mit Liebe - Ember mit Scham - Janek mit Schuld - an jedem Tag erpreßten sie ihn, jeder auf seine Weise - Laibrin mit seiner Tochter war jetzt auch nur einer unter vielen… Alexander konnte nicht mehr atmen. Es roch nach Stroh und Pferd, nach Holz und Mist, nicht nach Luft. »Ich erlaube dir nicht, daß du stirbst«, sagte Janek.
»Ich will auch nicht sterben«, sagte Alexander lahm, nur damit er Ruhe gab. Am liebsten hätte er ihm jetzt endlich alles erzählt, von Halan, von der Lichtung, um es loszuwerden, um es hinter sich zu haben - aber was Träume anging, war Janek ebenso schlimm wie Halan; er lehnte sie nicht ab, aber sie waren ihm egal, und er fand keine Bedeutung in ihnen. Alexander wußte nicht, ob Janek träumte, und wenn ja, von was, außer von seiner Rache.
»Was du willst oder nicht«, sagte Janek leise, »ist mir egal. Aber ich lasse dich nicht planlos in den Tod ziehen.«
Alexander nickte. Sollte der seinen Plan machten, wenn es ihm dann besser ging. Es war Alexander egal. Pläne konnten scheitern… »Wenn du einen Ort weißt, wohin wir gehen können » - er sagte wir mit bedacht - »dann sag es mir.« Damiander. Sie konnten zu Damiander gehen und für alle Zeit dableiben, das war so nah an der Lichtung, wie es für Alexander irgend ging.
»Ich mache mir Gedanken«, entgegnete Janek ebenso ruhig wie unverbindlich. »Bleib bis dahin ruhig, überstürz nichts, schlag niemanden tot, und halte Laibrin eine Weile hin - du wirst seine Tochter schon nicht innerhalb des nächsten Monats heiraten müssen.«
»Ich werde sie nicht heiraten«, sagte Alexander, und dann kam ihm eine Idee, sie war schäbig, aber er mußte es fragen: »Würdest du mir einen Gefallen tun, Janek?«
»Wenn du so fragst: Nein.« Janek schüttelte den Kopf und stützte sich schwer auf seinen Krückstock. »Und ich sage dir seit Wochen, nenn mich Jurik. Ich hab meine Tarnung aufgegeben, als ich dich befreit hab, also bleibt es jetzt dabei.«
»Du weißt noch nicht mal, worum ich dich bitten will.« Alexander kämpfte den trotzigen Tonfall nieder, um nicht wieder als kleines trotziges Kind dazustehen. »Und du nennst mich auch immer noch Anders.«
»Ich nenne dich Anders, seit du ein Wickelkind warst.« Wenigstens ritt Janek jetzt nicht mehr auf der Befreiung herum. »Und sag mich, welchen Gefallen du meinst, damit ich Nein sagen kann.«
Eigentlich hätte Alexander jetzt besser nichts mehr gesagt, er wußte, daß es ein großer Fehler war, und sagte es trotzdem: »Laibrins Tochter. Würdest du…« Fast schaffte er es, doch noch rechtzeitig abzubrechen, aber so, wie Janek ihn ansah, war es bereits zu spät, viel zu spät. »Würdest du mit ihr schlafen?« redete Alexander weiter, und dann weiter und weiter: »Wenn sie keine Jungfrau mehr ist - wenn das bekannt wird - dann kann Laibrin unmöglich mehr daran denken, sie mit mir zu verheiraten…« Endlich verebbte seine Stimme.
»So wie damals, meinst du?« fragte Janek kalt. »Als ich deine Tante beschlafen sollte, damit dein Bruder sie loswerden konnte?«
Alexander konnte nicht einmal mehr den Kopf schütteln geschweige denn sich entschuldigen, sagen, daß er es nicht so gemeint hatte - er hatte es so gemeint, das war es eben, der Gedanke war ihm wirklich so gekommen, ernsthaft, und darum hatte Janek ein Anrecht, von diesem Gedanken zu wissen. Alexander wußte, wie sehr der Mann diesen Vorschlag hassen und daß er niemals darauf eingehen würde. Es stimmte nicht, daß Alexander andere immer nur mit Freude verletzte. Manchmal mußte er es auch tun, weil er es ihnen oder sich selbst schuldig war. Alexander wollte nichts hinter Janeks Rücken versuchen, oder hinter Halans, oder sonst jemandens. Janek sollte das wisse. Darum. Er blickte auf seine Füße, als Janek seine Krücke packte und zur Tür humpelte. Keine Erklärung. Keine Entschuldigung. Nichts, außer Haß. Sie haßten Alexander, beide.
Wortlos stieß Janek die Tür auf, so heftig, daß sie auf der anderen Seite gegen die Wand schlug. Alexander ließ ihn gehen und wartete mit Bauchschmerzen, bis Janek das Haus erreicht hatte - jetzt war seine letzte, seine einzige Gelegenheit, sein Pferd zu satteln und sich wirklich davonzumachen, aber das konnte er nicht mehr, er wollte nicht gehen, bevor er sich bei Janek entschuldigt hatte, und das konnte er frühestens in ein oder zwei Tagen versuchen. Er war leer, es war kein Zorn mehr in ihm und keine Liebe, nichts, was ihn am Leben hielt - am liebsten wäre Alexander zurück in den Wald gelaufen, hätte auf die Nacht gewartet und darauf, daß seine Lichtung wieder zurückkehrte - aber statt dessen wartete er nur, bis von Janek nichts mehr zu hören und nichts mehr zu sehen war, und schlich sich dann selbst zurück zum Haus, zu seinem Zimmer, wo er mit allen Kleidern in sein Bett kroch, sich die Decke über den Kopf zog und darauf wartete, daß die Welt und sein Leben endeten.

Alexander blieb den Rest des Tages über in seinem Zimmer wie ein stiller Geist. Jene, die ihn gesucht hatten wußten wohl, daß er wieder aufgetaucht war - ob von Janek oder sonstwoher - einmal öffnete auch jemand Alexanders Zimmertür, gab sich aber mit einem Blick zufrieden, und Alexander rührte sich nicht, stellte sich schlafend unter seiner Decke, oder tot, und das genügte. Niemand kam herein, niemand außer Halan hätte es gedurft, und Alexander war zufrieden mit der Stille. Er war noch nicht bereit, wieder mit Halan zu reden, und wenn Halan selbst es nicht für nötig hielt, sich zu entschuldigen, zu sehen, ob Alexander unversehrt war, ob es ihm gut ging, zu sagen, daß er sich Sorgen gemacht hatte, oder ihn anzuflehen, niemals wieder nachts im Wald zu verschwinden… Wenn Halan ihm noch nicht einmal die Möglichkeit gab, ihn abzuweisen und ihm kalte Verachtung zu zeigen, dann wollte Alexander ihn auch nicht sehen.
Es machte ihm wenig aus, daß er nichts zu essen hatte; das war nichts Ungewöhnliches, Alexander hatte oft keinen Hunger und verzichtete aufs Essen. Manchmal fühlte er sich am Tag darauf geschwächt, aber meistens machte es ihm nichts aus. Es mußte ein Überbleibsel aus der Zeit im Kerker sein - da hatte er seine Nahrung nur im äußersten Notfall angerührt, erst aus Protest, vielleicht auch aus Angst, sie könne vergiftet sein, und später, weil es ihn allein bei der Vorstellung ekelte. Eigentlich mußte es auch für ihn möglich sein, ganz aufs Essen zu verzichten - Elysanders Nachkommen lebten seit der ersten Generation von nichts als Licht, und es schien ihnen nicht zu schaden; auch wenn Alexander noch keinen von ihnen getroffen hatte und auch wenn Korisander nicht Elysander war: Dann wollte sich Alexander eben in Zukunft von Weisheit ernähren, ohnehin schien das eine gute Idee, lesen statt essen - machte Halan das nicht ebenso, wann immer ihn nicht die Gesellschaft dazu zwang? Und hatte es Halan jemals geschadet? Schlank waren beide, vielleicht sogar sehr schlank, aber wann hatte je einer von ihnen über Hunger geklagt?
Aber Durst hatte Alexander, den er mit der Hand aus der Waschschüssel stillte, mehr schlecht als recht, weil er keinen Becher hatte. Er verzichtete darauf, sich zu waschen - ihm war kalt, das Wasser war kalt: Was Alexander gebraucht hätte, wäre ein heißes Bad gewesen, aber das war in diesem Haus schwer zu bekommen. Dies war Indiradin, wo niemand Holz hacken ließ, um ein Feuer zu schüren - nur bestimmtes Holz durfte verbrannt oder verarbeitet werden, wenn der Wind es herunterholte oder bestimmte Rituale vollzogen wurden, aber ein starker, lebender Baum durfte nicht gefällt werden und mußte wachsen, bis seine Blätter die Elomaran selbst in die Nase stachen. In Indiradin war es eigentlich immer kalt.
Fast rechnete Alexander damit, den ganzen Tag wirklich für sich zu haben, als es irgendwann, es mußte schon gegen Abend gehen, doch noch leise an seiner Tür klopfte.
Alexander sagte nicht Herein, er wartete nur. Wenn es Halan war, würde er trotzdem eintreten, und wenn es nicht Halan war, wollte Alexander ihn nicht sehen. Er saß nur still und wartete.
Es dauerte einen Moment, bis die Tür leise geöffnet wurde. Alexander hielt die Luft an, legte schon Worte zurecht, mit denen er Halan klar und deutlich sagen wollte, daß eine Entschuldigung keinen Sinn mehr machte, daß es zu spät war für ihre Liebe - doch es war nicht Halan, der sich verstohlen in Alexanders Zimmer schob. Es war Ember von Valon.
Alexander wandte den Kopf ab und setzte sich aufrecht hin. »Ich wünsche nicht gestört zu werden«, sagte er kalt, aber sein Herz begann zu hämmern. Ein Besuch von Ember, wenn er unter vier Augen stattfand, verhieß nie etwas Gutes und entbehrte aller Speichelleckerei, mit denen Ember ihm sonst aufwarten mochte.
»Dem stimme ich zu«, sagte Ember leise. »Es wäre doch sehr… unerfreulich, wenn jetzt noch jemand hinzukäme.« Er schloß die Tür hinter sich - abschließen konnte er sie nicht; alle Türen im Haus hatten Schlüssel bis auf diese, weil Halan ihn fortgenommen hatte - allzu oft hatte sich Alexander in ihrer ersten Zeit im Haus in seinem Zimmer eingeschlossen und niemanden hereingelassen, daß Janek beinahe die Tür aufgebrochen hätte… Jetzt war Alexander froh darum: Es war schlimm genug, mit Ember allein zu sein, aber dabei nicht weglaufen zu können…
»Ich will Euch nicht sehen, Ember«, sagte Alexander fest. »Was immer Ihr heute mit mir vorhabt, Ihr werdet mich nicht im Geringsten kooperativ finden.« Warum hatten sie es nur den ganzen Winter nicht geschafft, den Mann loszuwerden? Wer hatte Alexander auf den Gedanken gebracht, die Unterstützung eines Erpressers wäre besser als gar keine? Jetzt war es an der Zeit, dem Spiel ein Ende zu bereiten. Was für ein Ärger, daß Ember zwar leicht zu beleidigen war - aber unmöglich zu verletzen!
»Und was für einen Unterschied soll das machen?« fragte Ember vorwurfsvoll. »Wo kooperiert Ihr denn derzeit überhaupt einmal? Erwartet Ihr, daß ich Eurem Neffen glaube - daß Ihr Euch schlafwandelnd im Wald verirrt habt? Wirklich, ich bin enttäuscht von Euch, Alexander… schwer enttäuscht.« Seine Stimme zischte noch mehr, als es bei ihm üblich war, während er sich neben Alexander auf die Bettkante setzte, so dicht, daß der Geruch seines Haarschmalzes Alexander fast den Atem nahm. Ember benutzte nur edles, parfümiertes Schmalz - aber das war schlimm genug, aufdringlich in vollster Absicht.
»Was erwartet Ihr von mir?« fragte Alexander und rückte etwas ab. »Ich habe Euch noch nicht in den Abgrund gejagt - mehr könnt Ihr im Moment nicht verlangen.«
»So haben wir nicht gewettet«, sagte Ember scharf.
»Wir haben gar nicht gewettet«, entgegnete Alexander. »Ihr erpreßt mich zwar seit Monaten, aber davon bin ich noch kein König geworden - und mehr als im Moment werde ich nicht für Euch tun.«
»Und genau das ist das Problem.« Ember rutschte näher heran und plazierte eine Hand wie zufällig dicht hinter Alexanders Steiß. »Ich bin mir genau darüber im Klaren, daß Ihr im Moment wenig bis gar nichts dafür tut, Eure Krone zurückzugewinnen - und daß Ihr Herrn Laibrins in jeder Weise großzügiges Angebot ausschlagen wollt. Euer Weigern… gefällt mir nicht.«
Alexander lachte, auch als die Hand ihn berührte. Am liebsten hätte er sich direkt übergeben. »Ihr könnt mir keine Angst mehr einjagen, Ember. Eure Erpressung funktioniert bei mir nicht mehr. Wir haben miteinander geschlafen, es gibt weniger, das ich mehr bereue als das - aber es ist nicht mehr in Eurem Interesse, daß es bekannt wird. Wenn Laibrin davon erfährt, ist es aus mit dem Verlöbnis - da seid Ihr mir tatsächlich einmal nützlich.« Wenn Janek das hätte hören können - daß Alexander nicht darauf angewiesen war, daß Janek oder sonstwer mit dem Mädchen schlief, wenn er ebensogut seinen eigenen Ruf in die Waagschale werfen konnte… Und Halans Liebe und alles andere mit dazu - dann hatte alles ein Ende, auch die Erpressung… Das war es beinahe schon wert. Ember sollte ihn besser nicht unterschätzen! »Wie ist es - wollt Ihr gleich zu Laibrin gehen und es ihm sagen, oder soll ich es tun?«
»Nichts davon werdet Ihr«, antwortete Ember. »Unser kleines… Techtelmechtel ist nicht länger von Interesse, und Euer ständiges Aufgreifen dieses Themas kann ich mir bestenfalls damit erklären, daß Ihr… an einer Wiederholung interessiert seid -«
Hinter Alexander Stirn barst die Welt in einem roten Feuer. Es war überall, es brannte, es durchflutete ihn, riß ihn mit. Es war gut. Jeder Muskel seines Körpers war Stärke, wie Lorimander selbst sie nicht kannte, jede Faser war unbesiegbar.
Zeit stand still. Alles war gleichzeitig - Embers Hand beiseitestoßen, eine Faust in sein Gesicht schlagen, ihn von der Bettkante reißen und auf den Boden schmettern, wieder und wieder, ein Schlag heftiger als der andere, endlos weitermachen - in dem Moment war es das größte Glück. Kostbar das Gefühl, Macht, Stärke, Unbesiegbarkeit, Leben und Tod, alles in Alexanders Hand. Selten das Glück, selten und kostbar - nur ein paarmal in seinem Leben, vielleicht zu einer Handvoll Gelegenheiten, hatte Alexander dieses Gefühl zorniger Allmacht spüren dürfen. Es war, als lenke eine fremde, eine große Macht seine Bewegungen, und doch war er ganz er selbst, und nur er selbst. Der zornige, der wahre Alexander, sonst verdammt, in einem dunklen Winkel seiner Seele zu schlummern - jetzt gehörte dieser Körper ihm. Jeder Schlag begleitet von einer Welle roten Feuers, so gut, so gut, er hätte Ember schon längst töten müssen, warum hatte er so lange gezögert, warum diese lähmende Starre nicht schon viel früher abgeschüttelt? Dies war nicht wie die steifen Übungskämpfe, dies war die Wirklichkeit, Alexander brauchte kein Schwert, um zu töten, nur seine Hände, es war Musik in ihm, Musik in seinen Bewegungen und ein Lied in seinem Feuer, das vom Töten sang, und töten wollte er, und töten, töten, töten -
Zeit stand still. Alles war gleichzeitig. Ein Lied, ein Traum vom Töten. Feuer traf auf Eis, und Eis traf auf Feuer. Ein Hauch von Kälte an Alexanders Kehle, starr, kalt, kaum zu spüren und zugleich von einer alleserdrückenden Gegenwart. Eine kalte Stimme, die von weither kam, von irgendwo her, ebenso kalt, ebenso gegenwärtig. »Laßt mich los, sofort, oder ich schneide Euch die Kehle durch.«
Den Schmerz fühlte Alexander nicht, nur die Kälte, und dann war es zu spät. Das Eis hatte das Feuer erstickt. Alexander erstarrte mitten in der Bewegung, sein Verstand kehrte zu ihm zurück, der Zorn verließ seine Muskeln - dieser Moment war der Schrecklichste. Er dachte wieder, alles war fort, ihm schmerzten die Hände, und Ember war noch am Leben, lebte noch und blutete kaum und hielt die Klinge seines Dolchs gegen Alexanders Kehle gepreßt. Ihre Gesichter berührten sich beinahe. Embers Augen waren weit, aber seine Furcht war fort, seine Furcht, die eben noch Alexanders Zorn genährt hatte wie Öl das Feuer.
Als Alexander langsam nach hinten zurückwich, folgte ihm die Klinge, blieb an seinem Hals, während Ember sich unter ihm aufrichte. Er zischte etwas, aber Alexander konnte ihn nicht verstehen, er hörte nur sein eigenes Blut rauschen. Dann war Alexander auf seinen Knien, und Ember war hinter ihm, und die Klinge war immer noch an seiner Kehle, erstarrte Eile, schnitt sich starr und kalt in Alexanders Haut ein, daß es schmerzte und ihm der Atem stockte, bis Ember ihn wegstieß.
»Wagt es nicht noch einmal!« fauchte Ember. »Nächstes Mal lasse ich Euch nicht am Leben.« Er zitterte, die Hand mit dem Dolch immer noch ausgestreckt - aber Alexander konnte nicht einmal sagen, wo der Mann die Waffe so plötzlich hergenommen hatte. War nicht Alexander die ganze Zeit über in der Oberhand?
»Ich bringe Euch um«, flüsterte Alexander heiser, aber es waren nur noch Worte. Wohin immer dieser strahlende, blinde Zorn verschwunden war - Alexander konnte nichts mehr von ihm fühlen.
Ember schüttelte den Kopf und zitterte noch immer - war das vor Wut? Wenn es das war, wenn er Alexanders Zorn gestohlen hatte… »Ihr werdet mit kein Haar krümmen«, sagte er leise. »Glaubt nicht, ich wäre jemals so dumm, mit unbewaffnet in Eure Nähe zu begeben; ich wußte, daß Ihr früher oder später die Kontrolle verlieren würdet… Wie ein Tier, das keinen Verstand hat, wirklich, Euer Blut hätte sich Eurer geschämt.« Mit fahriger Geste, linke Hand, denn die Rechte hielt immer noch den Dolch, tastete er nach seinem Hinterkopf. Alexander wußte es nicht mehr, aber hatte er ihn nicht mehrmals auf den Boden geschlagen? Oder war das alles nur Einbildung, der Triumph nur erträumt, Alexander Zorn von kalter Klinge entmannt, ehe er auch nur den ersten Schlag tun konnte? Embers Hände waren blutig, wo Alexanders es nicht waren. Wessen Blut?
»Verschwindet«, sagte Alexander. Ihm tat der Hals weh, plötzlich, es war nur Einbildung, die Klinge hatte seine Haut nicht einmal geritzt. Wenn Ember den Dolch nicht so still gehalten hätte - wenn er ihm wirklich die Kehle aufgeschlitzt hätte… Alexander beherrschte sich, um nicht zu zittern. »Verschwindet, bevor ich mich wirklich vergesse«, sagte er tonlos. »Nicht nur aus meinem Zimmer - aus meinem Leben.«
Ember, schwer atmend, setzte sich wieder auf die Bettkante. Den Dolch umklammerte er immer noch. Wenigstens auf Alexander jetzt am anderen Ende des Zimmers. »Das werde ich nicht«, erwiderte er. Kein Zittern in seiner Stimme, kein Zischen. »Von heute an spielen wir nach neuen Regeln.«
»Wir spielen nicht, Ember.« Alexander versuchte ein Lachen. »Das hier ist kein Spiel. Wollte Ihr mir mit Waffen drohen? Dann wartet, bis ich mein Schwert geholt habe.«
Ember schüttelte den Kopf. Er war blasser als sonst. Alexander hoffte, daß er ihn vielleicht doch erwischt hatte, wo es wehtat; daß Ember tot umfallen würde, sobald er nur wieder auf seinem eigenen Zimmer war. Schläge auf den Kopf töteten einen Mann nicht sofort. »Ich habe keine Drohungen mehr nötig«, sagte Ember. Endlich ließ er den Dolch sinken. »Vergeßt das Messer, ich brauche es nur, um mich gegen wilde Tiere wie Euch zu verteidigen. Ich brauche keine Waffen, um Euch das Fürchten zu lehren - oder Euch zu zerstören.« Als hätten Alexanders Schläge Embers letzte Maske zerbrochen, saß dort ein neuer Feind. Einer, der keine Versprechungen machte oder von einem Nutzen für beide Seiten sprach. Einer, den man hassen durfte und mußte und ihm dabei noch einen Gefallen tat. Einer, der es Alexander in Zukunft einfacher machen würde. »Von heute an werdet Ihr tun, was ich sage.«
»Nein«, sagte Alexander. »Nein, Ihr werdet jetzt gehen. Ihr geht, oder ich gehe. Oder wir gehen beide, in unterschiedliche Richtungen.« Was redete er für einen Unsinn? Hatte Ember die Schläge auf den Hinterkopf bekommen, oder Alexander? Jetzt, wo es zwingend Zeit war für klare Worte, fühlte Alexander sich ganz wirr. Aber wovor hatte er Angst? Oder worum? Er versuchte es noch einmal von vorn. »Ich weiß jetzt, was ich will, ich nehme es mir, und wenn einer mich nicht mehr aufhalten kann, dann seid Ihr es.«
Es war zu spät. Den Preis mußte er bezahlen. Eber drohte nicht mehr, das verstand Alexander schmerzlich - Ember jetzt trotzen hieß Halan verlieren. Aber hatte er den nicht schon längst verloren? Vielleicht konnte er auf die Dauer etwas Neues dafür finden. Selbstachtung, zum Beispiel.
»Ich sehe, Ihr versteht mich nicht.« Ember sprach leise und stützte den Kopf in die Hände. »Ich muß deutlicher werden, um bis zu Eurer… Weisheit durchzudringen.« Er machte eine Pause, aber er tat Alexander nicht den Gefallen, ohnmächtig zu werden. »Ihr glaubt, wenn Ihr diesem Haus den Rücken kehrt und Euch davonmacht, seid Ihr mich los. Glaubt Ihr, ich brauche Eure Anwesenheit, um Euch zu brechen? Wißt Ihr nicht, woher ich stamme? Ich habe mein Handwerk in Loringaril gelernt, aber geboren bin ich in Doubladir. Ich werde Euch lehren, meine Rache zu fürchten, mehr als alles, was Ihr jemals gefürchtet habt.«
Alexander atmete durch. »Den Gefallen werde ich Euch nicht tun«, sagte er leise und fürchtete doch, was nun kommen würde – Ember war nicht dumm, und wenn er drohte, dann niemals grundlos. »Ich hätte Euch eben den Schädel brechen sollen, aber wer weiß, vielleicht habe ich es ja doch – also redet, solange Ihr noch könnt.«
Ember lächelte. Alexander wagte es nicht, seine Gefühle zu teilen – vermutlich mußte man sich davon übergeben. »Euer Neffe«, sagte der Mann dann gedehnt, als genieße er jedes Wort, »und der größte Schatz von ganz Loringaril. Das Heilige Horn befindet sich noch immer in meinem Besitz… Ihr hießet mich es verstecken, und das habe ich getan, besser als Ihr es jemals suchen könnt… Aber man wird es finden, wenn Ihr geht, bei Eurem Neffen, dafür werde ich sorgen, und wenn ich ihn zerstöre… ich weiß, dann zerstöre ich Euch.«

Es war vorüber. Ember war fort, aber sein Gifthauch hing noch im Raum, daß Alexander dran zu ersticken glaubte. Ember… Warum lebte Ember noch? Warum lebte er schon so lange? Alexander saß auf seinem Bett und zitterte. Er konnte nicht mehr weglaufen - nicht einmal in den Tod, wenn er wollte, daß es Halan gut ging. Wo war das Horn? Wenn Ember seine Drohung wahr machte… Es konnte nicht sein, niemand würde ihm Glauben schenken, Halan war über jeden Verdacht erhaben, Ember war ein Dieb, jeder wußte das, Halan rührte niemals an, was nicht sein war, Halan war ehrbar und rechtschaffen, jeder wußte das… Und doch. Allein die Drohung, daß ein Verdacht auf Halan fallen könnte, lähmte Alexander. Ember handelte, wenn ihm nach Verrat war. Er hatte in Loringaril gehandelt, als er seinen König verriet, für eine Tasche voll Gold und den größten Schatz des Landes - und nun tat er das gleiche mit Alexander. Er nahm kein Gold, diesmal, wo Alexander war, gab es nichts zu holen - aber Halan war der größte Schatz, den Alexander besaß. Ember wußte das. Ember wußte zuviel. Ember lebte schon zu lange…
Schon so oft hatte Alexander sich vorgestellt, Ember zu töten, aber das war immer ein ferner, kühler Gedanke, ein Was-wäre-wenn. Nun aber dachte er anders davon, plante tausend Tode, tausend Morde mit eigener Hand, tötete Ember im Geiste so oft, bis auch in der Wirklichkeit nicht mehr viel von ihm übrig bleiben konnte. Warum hatte er gezögert, als sich ihm die Gelegenheit bot? Warum hatte er sich durch ein Stück kaltes Eisen davon abbringen lassen, die Sache zu einem Ende zu bringen? Ember dankte es ihm, indem er seine vergiftete Klinge über Halan schweben ließ wie das Beil eines Henkers. Wenn Alexander ihn nur getötet hätte, damals, als Ember mit dem Horn ankam, ihn getötet hätte, bevor er auch nur seine erste Erpressung versuchen konnte - selbst wenn er jetzt starb, war es schon zu spät. Noch später durfte es nicht werden. Länger durfte Ember nicht mehr leben. Sollte das Horn verschwunden bleiben auf alle Zeiten, es konnte Alexander egal sein, niemand war mehr am Leben, der es brauchen konnte. Sollte Ember das Geheimnis mit in den Abgrund nehmen, solange er nur starb, endlich und endgültig und sofort.
Aber es reichte nicht, einen Mord zu planen. Man mußte ihn auch ausführen. Und Alexander wußte nicht, wann oder wie. Ganz zu schweigen davon, daß er dann einen toten Ember am Hals hatte, dessen Schicksal es zu erklären galt - aber das war es wert, und das mußte sein. Solange Ember nur Alexander gedroht hatte… Wenn Halan auf dem Spiel stand, sah es anders aus. Alexander durfte nicht länger untätig bleiben. Ember mußte sterben.
Alexander betete nicht mehr, nicht zu seinem Engel. Korisander hatte ihn verlassen, und dafür verließ Alexander ihn. Und wenn es zehnmal sein Blut war, Alexander ließ sich nicht von seinem Engel für dumm verkaufen. Wenn Korisander Anbetung wollte, sollte sie ihm geben wer lustig war - der einzige Engel, zu dem Alexander noch zu beten bereit war, war Damiander. Und der konnte ihm hier auch nicht helfen. Man konnte um vieles zu Damiander beten - ein klarer Kopf gehörte nicht dazu.
Der klarste Kopf, den Alexander kannte, gehörte Halan - undenkbar, mit ihm darüber zu reden. Oder über sonstwas. Halan durfte nicht wissen, in welcher Gefahr er sich befand - sonst würde er versuchen, nach einer Lösung zu suchen, oder besser noch, gleich nach Lorimanders Horn, und dann war es nicht mehr ein Problem, sondern ihrer zwei. Das Horn konnte im Haus versteckt sein oder im Wald oder sonstwo, und da sollte es bleiben. Manche Dinge blieben besser im Verborgenen. Nein, mit Halan konnte Alexander nicht reden.
Blieb Janek. Janek war die Rettung. Mit ihm konnte Alexander über alles sprechen, Janek behielt selbst im Suff einen klaren Kopf - wenn nicht noch schärfer, zumindest für seine Zunge galt das - und Janek hatte weder Skrupel, noch ein Herz für Ember. Janek konnte helfen - außer, daß Alexander ihn eben noch tödlich beleidigt hatte. Das war nicht getan mit ein paar kleinlauten Entschuldigungen und dann weiter im Protokoll. Alexander kannte Janek gut genug, um zu wissen, wie seine Reaktion ausfallen würde…
Und sein Rat? Konnte Alexander sich den nicht auch denken? Sagte Janek nicht meistens genau das, was Alexander von ihm erwartete? Wenn er jetzt zu ihm ging… Wenn er einmal davon ausging, daß es keinen Streit zwischen ihnen gegeben hatte - dann konnte Alexander es ungefähr so anfangen: »Kann ich dir vertrauen?«
Nein, das war nicht so gut, eine Feststellung sollte genügen: »Du liebst mich nicht, Janek. Dir kann ich vertrauen.« Diese Unterhaltung fand nur in Alexanders Kopf statt - da konnte er sich zumindest die langen Erklärungen sparen. Er wußte ja, wie er es meinte.
Und Janek würde auch nur den Kopf schütteln und sagen: »Wenn das dein einziger Knackpunkt ist, müßtest du ziemlich vielen vertrauen.« Aber er verstand ihn, Alexander war sich sicher.
Er warf die Decken und Kissen vom Bett und machte sich daran, das Laken abzuziehen. In der Truhe war frische Bettwäsche, und wenn er dafür die schmutzige hinein stopfte, dauerte es eine Weile, bis das auffiel. Alexander hatte gelernt, sein Bett selbst zu machen, es war keine Kunst, dann mußte er es auch selbst beziehen können, und sonst hatte das Zimmer nichts, was er mit eigenen Händen machen konnte. Seine Hände brauchten etwas zu tun, wollten etwas zerstören, zerreißen, zerschlagen, oder noch besser: Ember töten - statt dessen kämpfte Alexander mit seinem Bettzeug. Ember hatte darauf gesessen, es sogar mit seinem Blut besudelt, undenkbar, daß Alexander noch darin schlafen konnte. Es war nur wenig Blut, das an Embers Hand geklebt hatte, aber der Geruch dieses Mannes war es, was Alexander wirklich um die Ruhe bringen würde.
Zurück zu Janek, der Alexander nicht liebte und der ihn auch nicht verraten würde wie Halan. »Das ist etwas anderes bei dir«, konnte Alexander sagen, und dann, vielleicht: »Verachtest du mich?«
»Gelegentlich«, antwortete Janek dann. »Manchmal ist es schwer, nicht zu -« Aber so genau wollte Alexander es gar nicht wissen, nicht in dieser Unterhaltung, die nur in seiner Einbildung existierte. Und diese Antwort kannte er auch so. Es war nicht Janeks. Es war seine eigene.
Besser zum Thema kommen. Alexander stemmte die Truhe auf, wo reine Laken fein säuberlich gefaltet lagen. Er nahm zwei heraus und legte die alten an ihren Platz, irgendwie, sie waren ihm zum Falten zu groß. »Weißt du, daß ich mit Ember geschlafen habe?« Und wie gut, daß Janek ihn nicht wirklich hören konnte!
»Warum erzählst du mir das?« Jetzt würde Janeks Stimme unwirsch. »Willst du, daß ich ihn für dich umbringe?«
Da, endlich, war Alexander am Ziel und mußte noch nicht einmal das heilige Horn erwähnen! »Würdest du das tun?«
»Wenn er mit mir geschlafen hätte - dann ja.«
Alexander schüttelte den Kopf, während er das erste Laken auf dem Bett ausbreitete. Er kannte Janek einfach schon zu gut. Wäre es nur nach seiner Vorstellungskraft gegangen, Janek hätte einfach Ja gesagt. Vielleicht konnte er es anders versuchen? »Aber du hast mit Damiander geschlafen.«
Jetzt mußte Janek lachen. »Damiander ist kein Mann. Für dich, vielleicht, für mich ganz sicher nicht. Es war nur einmal. Und sie ist ein Engel.«
Alexander hatte mehr als nur einmal mit Damiander geschlafen und wußte, daß er keine Frau war, aber in dem Moment hatte Janek Recht, bei einem Engel war alles andere egal. Damiander war wahrhaftig. Alexander schöpfte ein bißchen Hoffnung, so konnte er vielleicht sogar darüber in der Wirklichkeit sprechen!
»Dann glaubst du an die anderen Engel?« fragte er, atemlos in seinem eigenen Kopf und von den Versuchen, ein ständig davonrutschendes Laken festzuzurren.
»Andere? Damiander ist der einzige Engel, den ich überhaupt jemals begegnet bin.« Vielleicht würde Janek das so sagen. Alexander war sich an dieser Stelle nicht sicher. Aber es bedeutete auch nicht mehr so viel.
»Es gibt noch andere Engel«, sagte er laut. »Und einer von ihnen wohnt in diesem Wald. Nicht Kaliander. Ein anderer.«
Ein fremder Engel, dem ein Wald im Wald gehörte und eine Lichtung auf einer Lichtung. Ein Engel, dem Alexander schon einmal begegnet war, zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben, in einem anderen Traum, der sein eigener war. Damianders Bruder, der Engel der Träume. Dies war sein Reich. Sein Name war Eomander.
Alexander würde ihn finden. Und einen Weg, die Lichtung zu betreten, lebend. Nicht, weil er leben wollte, sondern weil er nicht sterben durfte, für Halan, für Ember. Eine Lichtung, ein Leben. Bis dahin würde Alexander bleiben.
Und Ember töten, vielleicht. Und Halan zurückgewinnen, vielleicht. Oder alles tun, was man von ihm erwartete, und wenn es ihn selbst brach, solange nur Halan nichts geschah, solange es nur ihn selbst brach… Ember wieder töten. Halan wieder lieben. Und am Ende dem Engel der Träume endlich einmal gegenüberstehen, von Angesicht zu Angesicht. Eomander.

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