Lydas Hände zitterten noch
immer, auch lange, nachdem sie die Botschaft zur Seite gelegt
hatte. Auch als es an ihrer Tür pochte, sah sie nicht auf. Es
war mitten in der Nacht, und ein Klopfen an der Tür einer
Totenmagd hatte nie etwas Gutes zu bedeuten - aber schlimmer konnte
es nun nicht mehr werden.
Das Klopfen an der Tür ging weiter, schnell und
ängstlich - niemand klopfte aus Vergnügen an ihrer
Tür, und wer dort stand, konnte nicht anderswo erneut sein
Glück versuchen. Totenmagd war Totenmagd, und Tod war Tod.
Lyda versuchte noch einen Moment lang, sich zu sammeln, ehe sie
endlich aufstand und, die zitternden Hände hinter ihrem
Rücken verborgen und mit so verkrampft reglos gehaltenem Kopf,
daß schon der erste Anblick verraten mußte, daß
etwas mit ihr nicht stimmte. Aber solange sie noch in diesem
Schloß war, gab es sonst niemanden, der ihre Arbeit tun
konnte. Später… Später würde sich zeigen,
aber das war nicht mehr Lydas Aufgabe.
Sie öffnete, fühlte wie die Kälte des
Türgriffs durch ihren ganzen Körper kroch, und machte
schnell einen Schritt zurück in die Schatten ihrer Kammer.
»Benötigt Ihr -«, ‘meine Dienste’,
wollte sie fragen, aber dort draußen stand niemand, der einen
Toten zu beklagen hatte. Statt dessen schoss ein kleines
Mädchen herein und riß im nächsten Moment die
Tür wieder hinter sich zu.
»Bitte, Lyda, bitte, bitte, bitte, Ihr müßt mir
helfen!« Lyda brauchte einen Moment, um das Kind zu erkennen
- es war Natara, Aralees Mündel, die königliche
Chronistin und was immer sie auch noch sein sollte, es war lange
her, daß Lyda sie zuletzt gesehen hatte, und sie war froh
darum. Aber jetzt war das Mädchen völlig aufgelöst,
das Gesicht schwarz verschmiert von viel mehr verlaufener Schminke,
als an ein so junges Kind gehörte. Eine Wolke von Parfüm
überdeckte nur unzureichend den säuerlichen Geruch von
Alkohol, und weiter kam Lyda nicht dazu, sich Natara anzusehen,
denn sie fiel ihr förmlich um den Leib mit einer aufgeregten
Umarmung.
Während Lyda das Mädchen wie mechanisch zurück
umarmte, gewöhnt daran, jeder Form von Kummer Trost zu
spenden, fühlte sie, daß auch Natara von oben bis unten
zitterte, schlimmer noch, als Lyda es selbst zu verbergen
suchte.
»Bitte, Lyda«, wimmerte das Mädchen in Lydas
Kittel, »rettet mich! Bitte rettet mich!« Und mehr war
aus ihr nicht herauszubringen, bis Lyda sich vorsichtig aus der
Umarmung gelöst hatte, den nächtlichen Gast auf einen
Stuhl verfrachtet hatte und sich daran machte, eine Kanne voll
beruhigendem Tee aufzubrühen. Sie konnte nicht sagen, wer von
ihnen beiden den jetzt nötiger hatte…
Irgendwo fand sie auch noch ein Taschentuch, mit dem sie Natara
übers Gesicht wischte, fort mit den Tränen, denen sofort
neue folgten, und fort mit der Schminke - darunter kam ein
verängstiges Kind zum Vorschein, und die Augen, gerötet
und mit glasigem Glanz, verschwanden gleich wieder hinter den
vorgehaltenen Händen der Verzweiflung. Lyda wollte allein
sein, aber sie hatte keine Wahl, sie konnte das Mädchen nicht
fortschicken. Natara war nicht nur irgend eine höhere Tochter,
die schneller am Hofe aufgestiegen war als gesund für ihr
Alter - sie teilte auch mit Lyda ein Geheimnis, oder sogar eine
ganze Reihe davon, die sich alle um Aralee drehten,
Königswitwe, Regentin, und, wenn die beiden Recht hatten mit
ihrem Verdacht, Mörderin.
Ein Zittern lief durch Lydas Körper, als sie das kochende
Wasser über die Blätter in den Tassen goß. Sie
hatte gehofft, das alles hinter sich zu lassen, zu vergessen,
während sie heimwärts eilte und tat, was die Schwestern
ihr auftrugen - aber hier war alles, was sie am Hofe
fürchtete, versammelt in einem Kind, das ihre Hilfe dringender
brauchte als alle Toten dieser Nacht zusammen.
»Jetzt beruhige dich erst einmal«, sagte Lyda leise -
das sagte sich so leicht - und reichte der Kleinen eine Tasse die,
die diese aber nur mit beiden Händen nahm und hielt, ohne auch
nur daran zu nippen. In dem feuchten Dampf wurde ihr Gesicht wieder
rot und glänzend, und sie versuchte sich an einem zaghaften
Lächeln.
»Danke«, flüsterte Natara.
»Das ist schon in Ordnung«, antwortete Lyda.
»Komm zu Atem, und dann erzähl mir, was geschehen
ist.«
Natara nickte, starrte wieder in ihren Tee, ohne ihn
anzurühren, und dann sagte sie, erst langsam, dann kamen die
Worte immer schneller und hektischer: »Ich hab alles verraten
- und jetzt wissen sie es - und jetzt bringen sie mich auch um, ich
weiß das, heute Nacht noch, und ich weiß niemanden, der
mir helfen kann, bis auf Euch…«
Lyda hörte ihr nur zu; jemanden zu unterbrechen, war nicht
ihre Art, sie legte Natara nur eine Hand auf die Schulter und sah
dabei zu, wie ihr eigener Tee kalt wurde.
»Ich bin so dumm!« redete das Mädchen weiter.
»Ich habe zuviel von dem Wein getrunken, das habe ich aber
gar nicht gemerkt, und dann ist mir so schlecht geworden, und
Roveen war so nett zu mir, und dann habe ich ihr alles
erzählt, ich weiß nicht darum, aber ich konnte auf
einmal gar nicht mehr aufhören zu reden, und jetzt wissen sie
alles, von Hester und von dem Schlüssel und auch von Euch, es
tut mir so Leid…« Natara fing wieder an zu weinen,
aber Lyda konnte sie plötzlich nicht mehr trösten.
Kälte griff nach ihr, lähmte sie, plötzliche Angst -
nicht mehr vor dem, was sie im Konvent erwarten sollte, sondern
daß sie ihn niemals mehr erreichen würde, daß sie
nicht mehr lebend aus dem Schloß heraus kam. Plötzlich
war die Panik wieder da, die Hilflosigkeit, gepackt zu werden und
in den Tod geschleppt… Es war schon so lange her, aber Lyda
konnte es nicht vergessen, nicht im Wachen und erst Recht nicht in
ihren Träumen.
Natara stockte, ihr Schluchzen hielt mitten in der Luft an, als
hätte sie gemerkt, daß mit Lyda etwas nicht stimmte.
»Es tut mir Leid«, flüsterte sie. »Ich
wollte Euch nicht da mit hinein ziehen.«
Lyda schüttelte den Kopf. »Mach dir keine
Sorgen«, sagte sie. »Du bist jetzt hier, und niemand
kann dir etwas antun.« Niemand, der nicht Lydas Tür
aufbrach und sie mit Gewalt mitnahm.
Langsam nickte Natara und hob den Tee einmal bis dicht unter die
Nase, zögerte, und setzte ihn wieder ab. »Roveen wollte
mich in Aralees Zimmer einsperren«, flüsterte sie.
»Da habe ich plötzlich gemerkt, was ich gemacht hatte -
sie hat aber immer noch so nett getan, und ich habe ihr gesagt,
daß ich noch mal müßte, und ich hab mir nicht
anmerken lassen, daß ich Angst hatte - aber dann bin ich
weggerannt, bevor sie es gemerkt hat, und ich bin so froh,
daß ich noch den Weg zu Euch gefunden habe, in meinem Kopf
dreht sich noch alles, ich weiß nicht mehr, was ich machen
soll…«
Lyda nickte. Die Angst legte sich langsam wieder, zumindest die
blinde, sinnlose Furcht. Sie konnte wieder denken. So lange hatten
sie ihr Geheimnis gehütet und alles daran gesetzt, daß
Aralee nie davon erfahren würde, aber sie hätten damit
rechnen müssen. Hester, das Mädchen, das eine Treppe
hinuntergestürzt war in den Tod. Der Schlüssel, den sie
bei sich gehabt hatte, der Schlüssel zu der Kammer, aus der
die Krone verschwunden war, bevor sie wieder auftauchte in den
Händen eines engelsgeborenen Kindes. Beides war im Abgrund
verschwunden, das tote Mädchen und der geheime Schlüssel.
Anfangs hatte Lyda noch versucht, sich auf die Spur des Todes zu
heften, Nachforschungen angestellt, Fragen gefragt, die sich
für sie nicht gehörten - aber seit Amras Krönung,
seit Aralee auch offiziell die Regentin war und dieses Haus ihr
gehörte, blieb Lyda für sich mit ihrem Geheimnis und
hoffte nur noch, daß niemand davon erfuhr. Aralee war
gefährlich, und was sollte eine Totenmagd ihr entgegensetzen?
Und es war nicht nur Lyda, die in Gefahr schwebte, auch Natara, die
Chronistin, die mehr wußte, als sie schreiben
durfte…
Lyda wußte, daß ihre Angst begründet war. Ein
junges Mädchen, betrunken von zuviel Wein, wie auch immer man
sie dorthin gebracht hatte - wenn sie in der Nacht eine Treppe
hinunter stürzte, war das tragisch, aber niemand stellte
Fragen. Und es gab viele Treppen in diesem Haus. Ein Sturz, und
niemand konnte beweisen, daß es mehr gewesen war als das, wie
damals bei Hester - Lyda fragte sich, ob Aralee auch diesem
Mädchen Alkohol gegeben hatte, es war egal, gestorben war
Hester so oder so. Aber Lyda konnte Natara nicht mehr helfen,
allerhöchstens sich selbst, indem sie auf dem schnellsten Weg
aus Koristir verschwand. Sie hatte das Glück, daß man
ihr keinen so einfachen Tod bescheren konnte wie Natara. Eine
Totenmagd, die ihre Kammer kaum jemals verließ, stürzte
nicht auf der Treppe und ließ sich auch nicht ohne weiteres
vergiften - und bis sich Aralee etwas ausgedacht hatte, war Lyda
bereits in Sicherheit. Aralee konnte noch versuchen, sich auf
anderem Wege ihres Schweigens zu versichern - aber eine Totenmagd
und ihr Schweigen gehörten zusammen, ließen sich nicht
kaufen und nicht manipulieren…
»Was machen wir denn jetzt?« Natara brachte vor
Schluchzen die Worte kaum noch heraus. »Ich kann doch nicht
für immer bei Euch bleiben, irgendwann muß ich doch
wieder hier raus, und wenn sie mich dann finden - sie suchen mich
doch bestimmt schon, und dann suchen sie mich auch hier, ich habe
ja erzählt, daß Ihr alles wißt, was ich auch
weiß und noch mehr -«
»Ruhig«, sagte Lyda und war froh, daß sie
dafür ihre Stimme nicht heben mußte, »keine Angst,
bleib ruhig, sie werden nicht hierher kommen, nicht heute
Nacht.« Sie konnte es ihr nicht sagen, brachte es nicht
über sich - in Wahrheit wartete Lyda nur auf die Schwester,
die sie in Koristan ablösen sollte, und dann war sie fort und
Natara allein. Das machte es einfach für sie, aber die
eigentlichen Sorgen begannen dort erst. In Koristan ging es nur um
Lydas Leben und Nataras - aber bei den Schwestern ging es um
alles.
‘Lyda’, stand in der Botschaft, ‘du hast
gefehlt, und deine Tat hat Schreckliches zur Folge. Kehre
zurück in den Konvent und höre die Erste Schwester, wie
du Sühne tun kannst und ungeschehen machen, was niemals
geschehen darf. Eine Schwester ist auf dem Wege nach Koristir,
warte ihre Ankunft ab, daß der Abgrund nicht ohne
Wächterin ist, und begegne dann deinem Urteil auf dem
schnellsten Wege.' Und einen Moment lang fragte sich Lyda, ob es
nicht doch das allereinfachste war, sich Aralee auszuliefern und
der eigenen Schuld zu entgehen. Eine Totenmagd, die das Schweigen
brach im wichtigsten Moment… Lyda hatte so sehr gehofft,
daß niemand jemals davon erfahren sollte - aber wenn die
Schwestern es nun erfahren hatten, wenn das eingetreten war, was
Lyda befürchtete, dann hatte sie keine Wahl. Dann mußte
sie sich dem stellen.
»Trink deinen Tee«, sagte sie zu Natara. »Er
hilft nicht gegen die Gefahr, aber gegen die Angst.«
»Ich trau mich nicht«, piepste das Mädchen.
»Ich habe vorhin eine Medizin getrunken und wußte nicht
mehr, was ich tue - und jetzt trau ich mich nicht mehr,
überhaupt wieder irgend etwas zu trinken.« Sie hielt
sich eine Hand vor den Mund und sah schuldbewußt zu Boden.
»Ihr müßt nicht glauben, ich vertraue Euch nicht -
Ihr seid die einzige, der ich überhaupt noch trauen darf. Aber
ich habe solche Angst - einfach nur solche Angst.«
Lyda nickte und legte dann einen Arm um das Mädchen, der
wieder so warm war, wie er sein sollte, eine feste, beruhigende
Umarmung. »Ich habe auch Angst«, sagte sie dann.
»Jetzt fürchte dich nicht mehr. Du kannst deine Angst
auf mir abladen. In mir ist Platz genug für uns beide.«
Und wenn sie diese Angst dann davontrug, hinaus aus Koristan, fort
von Aralee, gab es nichts mehr für Natara zu befürchten.
»Du kannst heute Nacht bei mir bleiben«, sagte sie.
»Zieh deine Schuhe aus und leg dich in mein Bett. Ich bleibe
wach und passe auf, daß dir nichts passiert.«
Und vielleicht, vielleicht, vielleicht gelang es ihr dann auch,
die Stille wiederzufinden.
Es war gut für Lyda,
daß sie Natara bei sich hatte, denn das gab ihr einen Grund,
in der Nacht wachzubleiben - so oder so hätte sie keinen
Schlaf gefunden, aber jetzt hatte sie wenigstens etwas zu tun,
jemanden zu bewachen, und mußte nicht in endlosen Gedanken
und Schuldgefühlen versinken. Jedoch wäre es einfacher
gewesen, wenn auch Natara geschlafen hätte, doch für die
war Schlaf nicht minder fern als für Lyda. Man sollte meinen,
der ungewohnte Alkohol hätte das Kind schläfrig gemacht,
doch den Punkt hatte sie wohl schon weit hinter sich gelassen -
jetzt dominierte immer noch die aufgeregte Angst bei ihr,
ließ sie aus dem Bett springen, wann immer es auf dem Flur
ein Geräusch gab, irgendwo eine Bodendiele knarrte oder
draußen vor dem Fenster ein vorbeiflatternder Nachtvogel
seinen Schatten warf.
»Bleib ruhig«, sagte Lyda dann. »Leg dich wieder
hin. Dir geschieht nichts.« Doch die Stille, die sie
herbeirufen wollte, kam und kam nicht, und die Nacht war wild und
unruhig, bis sie doch endlich Natara zu sich holte und das
Mädchen in einen unruhigen Schlaf fiel. Lyda löschte alle
Kerzen und versank in ihrer Nachtwache, in Gebeten und Gedanken,
sie rief ihren Engel um Vergebung an und wußte doch,
daß sie keine bekommen sollte, nicht, bevor nicht die
Schwestern über sie geurteilt hatten. Immer wieder hielt sie
inne, sah zum Bett hin, wo Natara jedes Mal in einer anderen
Position lag, ein wüster Haufen Schatten in einer leeren,
dunklen Kammer.
Erst, als es zum zweiten Mal in dieser Nacht an Lydas Tür
klopfte, leise, verstohlen, erstarrte Natara zu völliger
Reglosigkeit - sie war davon aufgewacht, ohne jeden Zweifel, und
tat vor Angst nun das einzige, was ihr noch blieb: Sie stellte sich
tot, tat so, als ob sie nicht da war. Lyda war kurz davor, das
gleiche zu tun, aber so sehr sie auch fürchtete, daß vor
der Tür ihr Tod auf sie wartete, rief doch wieder die Pflicht
nach ihr: Keine Totenmagd durfte ein Hilfsgesuch ablehnen, und der
Abgrund mußte bewacht werden, ob es nun Tag war oder Nacht.
Lyda bewegte sich auf die Tür zu, ruhig, ohne
verräterische Hast - aber da wurde schon die Klinke
heruntergedrückt, langsam und leise, und hätte Lyda nicht
den Riegel vorgelegt, wie sie es in jeder Nacht tat, seit ein
betrunkener Mob sie quer durch das Schloß geschleift hatte,
sie wäre nicht mehr allein im Zimmer gewesen.
So aber war es Lyda, die öffnete; Lyda, gewarnt und auf alles
vorbereitet, erst recht auf Aralee, die vor ihrer Tür stand
wie ein Nachtgespenst, mit bleichem Gesicht und den wirren Augen
einer Frau, die wach war jenseits ihrer Zeit und das nur der Macht
der Heilkräuter verdankte. Lyda kannte solche Augen und hatte
gelernt, sich vor ihnen zu hüten. Instinktiv griff sie nach
der Stille und bekam tatsächlich einen Fitzel davon zu fassen,
als sie einen Schritt rückwärts machte und dem
nächtlichen Gast zunickte.
»Aralee«, sagte sie, so überrascht sie konnte.
»Tretet ein - es ist doch kein Unheil geschehen in dieser
Nacht, hoffe ich?« Es gelang ihr, die Angst zu
überspielen. Aralee wußte, was Lyda wußte - aber
sie konnte noch nicht sicher sein, daß auch Lyda wußte,
daß sie es wußte. Natara war ihnen davongelaufen, sie
konnten sich vielleicht denken, daß sie nun bei Lyda waren -
aber solange sie es nicht genau wußten, konnte Lyda darauf
aufbauen. Wenn sie Aralee nicht wie eine Mörderin behandelte,
dann war sie vielleicht auch keine. Zumindest nicht für
Lyda.
Aralee schüttelte den Kopf. Im Licht der Lampe, die sie
mitgebracht hatte, brannten rote Flecken auf ihren Wangen, und
Strähnen ihres Haares hingen ungebändigt in ihr Gesicht,
statt sonst makellos und streng nach hinten gekämmt zu
hängen. »Nein, das ist es nicht…«, sagte
sie. »Darf ich eintreten?«
Lyda mußte es ihr gestatten. Alles andere hätte
Verdacht erweckt - war doch Aralee immer noch die Herrin dieses
Hauses, auch von Lydas karger Kammer und Regentin dieses Landes,
deren Worten zu folgen war. Vielleicht machte sie sich die Sorgen
auch für nichts. Alle vermeintlichen Erkenntnisse über
die Königswitwe konnten auch Einbildungen und
Trugschlüsse sein, und Nataras Panik die wilde Reaktion eines
Gehirns, das von seinem ersten Rausch hilflos überrumpelt
wurde. »Tretet ein«, sagte sie und lenkte die Frau dann
zu ihrem Tisch hin, der am entgegengesetzten Ende zum Bett stand -
das Licht der Laterne würde nicht ausreichen, um Natara zu
verraten, wenn Aralee das Zimmer keiner Durchsuchung unterzog. Und
dafür würde Lyda ihr keinen Grund geben.
»Danke«, sagte Aralee. »Ich hätte nicht
erwarten dürfen, Euch um diese Zeit noch wach
anzutreffen« - das gleiche hätte Lyda auch
zurückgeben können - »aber Ihr werdet mir
verzeihen, daß ich nicht bis morgen warten kann.«
Ihre Worte schürten Lydas Angst noch mehr an, und wo nicht
ihre Worte, dann ihre Körperhaltung, den linken Arm dicht an
den Körper gepreßt, als hätte sie Schmerzen darin,
die andere Hand mit der Lampe hoch erhoben. Sie versuchte
tatsächlich, das Zimmer abzuleuchten, ließ sich dann
aber von Lyda das Licht aus der Hand nehmen und auf den Tisch
stellen. Lyda sagte nichts. Sie wartete auf eine Erklärung,
oder auf deren Versuch, sie wartete auf einen Angriff, sie wartete
darauf, überrumpelt zu werden und sich nicht überrumpeln
zu lassen. Und all das durfte man ihr nicht ansehen.
»Ihr werdet vielleicht gehört haben«, sagte
Aralee mit ihrer leisen, hektischen Stimme, in der fast ein Hauch
von Angst zu spüren war, »daß dieses Schloß
heute ebenso unerwarteten wie unerwünschten Besuch erhalten
hat.«
Lyda nickte. Aralee versuchte es also tatsächlich mit einer
Erklärung, einer Ablenkung - das Spiel konnte weitergehen.
Selten hatte Lyda weniger Lust aufs Spielen gehabt als in diesem
Moment, wo es nicht nur um ihr eigenes Leben gehen konnte, sondern
auch um das eines kleinen Mädchens. Aber sie sagte nichts,
versuchte nur, mehr von der Stille zu ergreifen und langsam einen
Mantel daraus zu spinnen, der groß genug war für sie und
Natara, und am Besten auch noch gleich für Aralee.
Aralee seufzte und fixierte die Tischkante, statt sich Lydas Blick
zu stellen. »Doubladir wird Koristan den Krieg
erklären«, sagte sie dann und ließ den Satz einen
Moment lang in der Luft stehen, denn damit hatte auch Lyda nicht
gerechnet. Dachte sich Aralee das aus? Lyda schüttelte den
Kopf. Wer sollte einen Krieg erfinden?
»Warum?« fragte Lyda. Sie wußte wenig über
Doubladir, aus politischen Dingen hatte sie sich immer
herausgehalten, bevor sie begann, Aralee nachzustellen, aber alles
was sie wußte, betraf den Hof zu Koristan. Krieg in
Doubladir, davon hatte sie gehört. Krieg in Loringaril. Aber
Krieg in Koristan? Hatte es so etwas jemals gegeben?
»Lügen«, antwortete Aralee. »Aber wir
können wenig dagegen tun, wenn Koristan einen Krieg will, soll
es ihn haben…« Sie wirkte ehrlich in diesem Moment,
und ehrlich besorgt, als hätte sie zuviel im Kopf, um an so
etwas Belangloses wie einen Mord zu denken, weder den geschehenen,
noch den auszuführenden.
»Warum kommt Ihr damit zu mir?« fragte Lyda und gab
ihrer Stimme jene Sanftheit, mit der sie sonst Witwen
tröstete.
»Nehmt es mir nicht übel, Lyda«, sagte Aralee.
»Die Sicherheit dieses Hauses liegt in meinen Händen,
nicht nur die unserer Königin, sondern auch die von allen
anderen Menschen, die hier leben. Ich muß mich vergewissern,
wer auf unserer Seite steht, und das gilt vor allem für die
Ausländer, die sich in Koristan aufhalten.«
»Totenmägde stehen auf keiner Seite«, antwortete
Lyda. »Wir sind so neutral wie der Tod.« Sie
mußte sich fast zwingen zu diesen Worten. Der Tod war nicht
neutral, wo er durch die Hände eines anderen Menschen kam, im
Mord wie im Krieg, und doch wurden Totenmägde von beidem
gebraucht.
»Ich muß nicht wissen, wo die Totenmägde stehen,
Lyda.« Jetzt war wieder diese Schärfe in Aralees Stimme,
für die sie bekannt war - die einer Frau, mit der man es sich
nicht verscherzen wollte. Unbestimmter Zorn lag in der Luft und
rieb sich an den Ecken des Schweigens. »Ich muß wissen,
wo Ihr steht.«
Langsam begann Lyda zu verstehen. Vordergründig redete Aralee
vom Krieg, um nicht zu verraten, was Lyda vielleicht doch nicht
wissen konnte und durfte. Aber in Wirklichkeit meinte sie genau die
Dinge, wegen derer Natara jetzt in Lydas Bett lag und sich tot
stellte. Doch wie sollte sie nun darauf antworten, ohne die
Scharade zu zerstören und aus dieser verzweifelten Frau eine
Mörderin zu machen? »Ich darf keine Seite
annehmen«, sagte Lyda mit stockender Stimme. »Ihr nennt
mich eine Ausländerin, aber in Wirklichkeit sind wir
staatenlos. Wir unterstehen nur dem Stillen Kodex.« Die Worte
wollten ihr kaum über die Lippen. Sie hatte gegen den Kodex
verstoßen, und wer war sie, um über Aralee zu richten?
Was sie selbst getan hatte, wog schwerer als Mord. Mord nahm nur
das Leben eines Menschen. Doch der Fehler einer Totenmagd konnte
die Welt aus dem Gleichgewicht bringen. Wer war nun die
Schuldige?
»Die Tatsache ist«, sagte Aralee mit ihrer schnellen,
präzisen Stimme, »wie auch immer Ihr es drehen und
wenden wollt, Ihr seid nicht aus Koristan. Das allein würde
nicht ausreichen, daß ich Euch mitten in der Nacht aufsuche,
aber darüber hinaus ist mir zu Ohren gekommen, daß Ihr
heute einen Boten empfangen habt. Ihr lebt allein hier,
zurückgezogen, man sieht Euch auf keinem Fest, nur zu
Beisetzungen verlaßt Ihr Eure Kammer, und Besuche bekommt Ihr
kaum - und das ausgerechnet heute, am gleichen Tag wie der
Kriegsbotschafter - dem muß ich nachgehen.«
Lyda schluckte. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß Aralee
sie so genau beobachten ließ, und schon so lange - war das
die Vorsicht einer Frau, jeden Hausbewohner genau kennen zu
müssen, oder hatte die Königswitwe es schon lange auf
Lyda abgesehen?
»Es ist niemand gestorben«, sagte Aralee, und ihr Ton
wurde schärfer. »Ihr könnt also reden - ich
verlange es sogar!«
Lyda atmete durch, als könne ein Zögern sie retten.
»Es war eine Nachricht für mich«, sagte sie
schließlich. »Von meinen Schwestern. Es hatte nichts
mit dem Krieg zu tun.«
»Und Ihr erwartet, daß ich Euch das glaube?«
Aralees Augen waren jetzt so fest auf Lyda gerichtet, daß
zumindest das Bett, in dem Natara sich als zerwühlte Decke
tarnte, völlig ihrer Aufmerksamkeit entging, und auch auf das
Thema war sie noch nicht zu sprechen gekommen. Vielleicht war es
dann gut, bei der Sache zu bleiben.
»Ja, das erwarte ich«, antwortete Lyda fest. Für
eine Spionin gehalten zu werden war besser als für eine
Mitwisserin. Spione wurden hingerichtet, Mitwisser ermordet. Und
niemand richtete eine Totenmagd hin. »Ihr wißt,
daß ich immer die Wahrheit sage.«
»Vielleicht«, sagte Aralee. »Aber wer sagt mir,
wie Eure Schwestern zu diesem Krieg stehen? Wollten sie Euch warnen
und Euch aus diesem Land abziehen, um Euch nicht in Gefahr zu
bringen? Wissen sie vielleicht schon lange, was Koristan
bevorsteht?«
Lyda verlor ihre Ruhe und die Herrschaft über das Schweigen.
Wenn Aralee sie jetzt in eine Ecke drängte, was sollte sie
sagen? »Es ist wahr, ich werde Koristan verlassen«,
sagte sie. »Aber das hängt nicht mit irgend etwas
zusammen, daß Euch oder dieses Land beträfe. Und eine
neue Schwester, die meinen Platz einnehmen wird, ist bereits auf
dem Weg.«
Im flackernden Licht der Lampe wurde Aralees Lächeln verzerrt
zu etwas raubtierhaften, und ebenso sah sie aus, als könne sie
Lyda im nächsten Moment anspringen. »Und das sagt Ihr
mir ins Gesicht?« flüsterte sie. »Schämt Ihr
Euch gar nicht?«
»Ich schäme mich nicht. Es ist die Wahrheit.«
Aralee stützte sich mit den Händen auf den Tisch auf und
kam Lyda noch ein Stück näher. »Ich will diesen
Brief sehen!« verlangte sie.
Lyda schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.« Es
war kein Brief. Und was Aralee meinte, war nicht sehen, sondern
lesen - und das konnte sie nicht. Aber das durfte die Frau nicht
erfahren. Die Botschaften der Totenmägde waren geheim und
für kein sterbliches Auge zu lesen.
Aralee schoß hoch. »Ihr tut, was ich Euch sage! In
diesem Hof lebt Ihr nur dank meiner Gnade, Ihr richtet Euch nach
meinem Wort, und wenn ich es sage -« In diesem Moment war sie
nicht mehr die Herrin ihrer Worte, und statt sie zu fürchten,
fühlte Lyda in dem Moment nur Mitleid. Sie wußte nicht,
was Aralee an diesem Tag durchgemacht hatte und an den Tagen davor,
und wenn nun eines zum anderen kam, die Kriegserklärung, die
Angst, daß ihre unter Schmerzen gehüteten Geheimnisse
ans Licht kamen… Lyda hatte Frauen gesehen, die er Kummer um
den Verstand brachte, und wenn es nur für einen Tag war, und
nun sah sie das gleiche bei Aralee.
Sie stand langsam auf. Wenn Aralee dazu noch Kräuter genommen
hatte, die sie aufputschten, machte sie das gefährlich und
unberechenbar. Aber wenn Lyda eine Sache gelernt hatte in ihrem
Leben, dann nicht die Ruhe zu verlieren. Sie trat um den Tisch
herum auf die andere Frau zu, mir kleinen vorsichtigen Schritten,
die Hände leicht erhoben, und als sie direkt vor der
zitternden Frau stand, schloß sie sie in die Arme, als
gäbe es keine andere Wahl im Leben.
Lyda wußte, daß sie sich in Gefahr begab, als Aralees
Hand zu ihrem Ärmel zuckte und im nächsten Augenblick die
schmale Klinge eines Dolches im Lampenschein aufblitzte. Sie wich
zurück, was ein Fehler war, denn so gab sie der Frau den
Freiraum, den sie brauchte, um anzugreifen. Aber seltsamerweise
hatte Lyda keinerlei Angst. Sie war dem Abgrund näher gewesen,
als ein lebender Mensch es sein sollte, ihr Leben war mit einer
Nadel bedroht worden, nun also ein Messer… Lyda stand still,
die Arme leicht zu den Seiten ausgebreitet, ihre Brust ohne Schutz
vor der Klinge, Aralee mußte nur zustechen - hatte sie nicht
die ganze Zeit mit einem Angriff gerechnet? Jetzt war sie bereit.
Und tat das einzige, was eine Totenmagd in diesem Moment tun
konnte: Sie ergriff die Stille.
Aralee erstarrte mitten in der Bewegung. Sie spürte es, die
Wand, die Lyda zwischen ihnen errichtet hatte, die Stille, die wie
eine schützende Glocke nach allen Seiten um Lyda lag und von
dort aus langsam anfing, sich auszubreiten. Einen Moment lang stand
sie wie eingefroren, dann ließ sie die Waffe sinken. Ihr
Gesicht war erschrocken und zugleich seltsam erleichtert. Es
verriet viel in diesem Augenblick. Aralee hatte getötet, doch
nie mit eigenen Händen aus nächster Nähe. Und sie
war froh, daß sie es jetzt immer noch nicht tun mußte.
Dann fuhr sie herum, starrte das Bett an, und Natara starrte
zurück.
Lyda traute sich nicht, die Stille sinken zu lassen, noch nicht.
Nicht, solange das Messer in Aralees Hand war. Natara hatte
geschrien, das war in ihrem Gesicht zu lesen, das jetzt klar und
bleich zwischen den Decken hervorragte.
Das Mädchen hatte Angst, wirkliche Angst - um ihr eigenes
Leben, oder um Lydas? Und Lyda konnte nichts tun, nichts sagen,
solange sie in Stille gehüllt stand - was war ihr wichtiger,
ihre eigene Sicherheit oder das Leben dieses Kindes? Eine falsche
Bewegung, eine unbedachte Geste, und Aralee flog vorwärts mit
dem Messer in der Hand, noch hatte sie es nicht
weggesteckt…
Lyda ließ los. »Halt!« rief sie in den Raum
hinein. »Es ist nichts geschehen!« Während sie
sprach, glitt sie durch den Raum, an Aralee vorbei, und stellte
sich zwischen die Frau und das Bett, jederzeit bereit, den
schützenden Wall wieder hochzuziehen, diesmal um sich selbst
und Natara. Die Stille war die mächtigste Waffe, über die
sie verfügte, und die Einzige. Sie war schwer zu führen
und konnte niemanden verletzen, alles was die Stille tat, war, den
Zorn zu dämpfen und den Schrei zu ersticken. Aralee sah aus,
als ob sie den Schrei dringender brauchte als die Stille. Aber Lyda
durfte kein Risiko eingehen. Es war nicht nur ihr eigenes
Leben.
»Aralee«, sagte sie sanft. »Gebt mir das Messer.
Es ist nichts geschehen, und es wird nichts geschehen.«
War das der Moment, auf den es all die Zeit über hinauslaufen
sollte? All das Umherschleichen wie ein rastloser Geist, das
Fragenstellen, das Rätselraten, das Angsthaben - nur damit sie
sich jetzt gegenüberstanden in der Nacht, die eine halb von
Sinnen, die andere zu sehr bereit, zu verzeihen, solange nur
niemandem mehr etwas geschah… Totenmägde logen nicht.
Die Stille duldete keine Lügen, sie war bereit, selbst die
Wahrheit zu ersticken, aber nun log Lyda, ruhig und ohne auch nur
mit der Stille zu zittern.
»Es ist nichts geschehen.«
Vielleicht stimmte es sogar, für dieses Moment. Aralee hatte
nur ein Messer gezogen, niemanden angegriffen, niemandem ein Haar
gekrümmt. Sie konnte das Messer wieder wegstecken, und es
machte keinen Unterschied, ob es jemals gezogen worden war oder
nicht.
»Ihr habt mich betrogen!« sagte Aralee. »Ich
habe geahnt, daß die Kleine hier ist.«
»Ihr habt nicht nach ihr gefragt«, erwiderte Lyda
ruhig. »Und Ihr tatet gut daran, denn nach dem, was Euch
heute widerfahren ist, kann es Euch egal sein, wo Eure Chronistin
ist. Ihr werdet bald ganz andere Sorgen haben.« Sie sagte
nichts über den Mord, der auch viele sein konnte, mit Absicht.
Was nicht ausgesprochen wurde, existierte nicht. Nach allem, was
Lyda getan hatte, um Aralee des Mordes zu überführen,
hatte sie nun nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren, und den
Toten konnte es egal sein. »Ihr wollt niemanden
verletzen«, redete Lyda weiter. Niemanden mehr.
»Niemand ist jetzt verletzt, gebt das Messer mir. Es ist
nichts geschehen.«
Und als Aralee langsam den Dolch in ihren Ärmel zurück
schob, wußte Lyda auch, daß in dieser Nacht nichts mehr
geschehen würde.
Langsam füllte die Stille
die Kammer, dehnte sich aus, bis es an die Decke stieß und
die Wände, sickerte in die Ritzen und in die Herzen. Das
Schweigen war friedlich und tröstend, es fraß die Angst
auf und die Hektik. Für eine Weile standen sie da und sagten
kein Wort.
Alle Farbe war aus Aralees Gesicht gewichen, selbst die
unheilvollen Flecken, die eben noch auf ihren Wangen gebrannt
hatten, waren verschwunden mit dem Funkeln aus ihren Augen. Lyda
wagte nicht, sich ihr noch einmal zu nähern, sie noch einmal
in den Arm zu nehmen, aus Angst, den Sturm des Zornes noch einmal
zu entfachen. Aber sie sah nur eine Frau da stehen, die Hilfe
brauchte, keine Gegnerin. Das war vielleicht das wichtigste in
dieser Nacht: Daß sie keine Gegnerinnen waren.
Aralee blickte hin und her zwischen Lyda und Natara und sah aus,
als ob sie etwas sagen wollte, doch solange Lyda die Stille
aufrechterhielt, konnte niemand ein Wort sprechen in diesem Raum.
Und um gegen die Stille anzukämpfen, fehlte Aralee die Kraft.
Allein das Ziehen des Messers schien sie schon über das
verfügbare Maß angestrengt zu haben. Sie konnte
niemanden mehr verletzen - trotzdem, Lyda ließ nicht los. Nur
langsam, ganz langsam endete der Spuk.
»Es tut mir Leid«, sagte Aralee, kaum daß sie
wieder sprechen konnte, und ihre Stimme war leise - mit lauten
Worten war die Stille nicht zu durchbrechen. »Ich weiß
nicht, was in mich gefahren ist.«
»Ihr seid übermüdet«, antwortete Lyda, als
ob das eine Antwort war. »Dieser Tag war zuviel für
Euch. Ihr könnt nicht in drei Kriegen gleichzeitig
kämpfen. Vergeßt das Mädchen. Vergeßt mich.
Ihr habt ein Land zu retten.« Mit sanften Gesten winkte sie
Aralee zurück zum Tisch, hieß sie sich hinsetzen. Sie
hoffte, daß Aralee wieder Herrin genug ihrer selbst war, um
allein den Weg auf ihr Gemach zu finden. Um sie dorthin zu
führen, fehlte Lyda der Mut. Nur in ihrer Kammer war sie
sicher genug in dieser Nacht der Messer.
»Ihr wißt zuviel«, flüsterte Aralee. Jetzt
war es heraus. »Ich habe keine Wahl.« Ein Tod
führte zum nächsten - standen Lyda und Natara immer noch
auf Aralees Liste, wenn sie morgen mit frischem Kopf erwachte?
Lyda schüttelte den Kopf. »Komm her, Natara«,
sagte sie. »Du mußt dich nicht mehr verkriechen. Du
bist in Sicherheit.« Zu Aralee sagte sie: »Und Ihr seid
auch in Sicherheit. Vor mir und auch vor ihr.«
Aralee rieb sich die Augen. Ihre Drogen forderten ihren Tribut.
Lyda durfte sie nicht in allzu lange Gespräche verwickeln,
sonst hatte sie am Ende noch einen Gast mehr, der in ihrer Kammer
übernachtete. Und es hatte wenig Sinn, jetzt mit Aralee
über alle Geheimnisse und Schuld zu sprechen - die Frau war
kaum noch aufnahmefähig. Selbst Natara war in besserem
Zustand.
»Was mußtet Ihr auch herumschnüffeln?«
fragte Aralee anklagend. »Ich will Euch doch nichts
tun… und dem Mädchen…«
»Ich weiß«, sagte Lyda und legte eine Hand auf
ihre. Eiskalte Finger, feucht von Schweiß, darunter ein
flatternder Puls. »Ihr wolltet schon dem ersten Mädchen
nichts tun.« Sie sprach den Namen nicht aus. Vielleicht
hätte er gereicht, um noch einen Sturm zu entfachen.
»Aber sie hat Euch erpreßt, nicht wahr? Wir tun das
nicht. Ich gebe Euch mein Wort darauf.«
»Das ist nicht genug«, antwortete Aralee
gepreßt. »Wenn ich Euch leben lasse…«
»Wenn eines sicher ist auf dieser Welt«, sagte Lyda,
»dann das Schweigen einer Totenmagd.« Es stimmte nicht,
und ausgerechnet Lyda durfte diesen Satz auch nicht aussprechen.
Wer hatte denn das Schweigen gebrochen, ausgerechnet am Totenbett
eines Königs? »Was Ihr getan habt, war falsch« -
falsch, ein schönes Wort, um Mord herunterzuspielen! -
»aber es ist an den Engeln, über Euch zu
richten.«
Langsam begriff Lyda, was in diesem Moment von ihrem Schweigen
abhing - nicht nur ihr Leben, oder, wenn sie sprach, nicht nur
Aralees - sondern das Schicksal des ganzen Landes. Wenn herauskam,
daß Aralee eine Mörderin war, was würde man mit ihr
tun? Jeder Tote vor seiner Zeit war einer zuviel, und Lyda hatte zu
oft am Abgrund gestanden, wenn die Leiche eines Hingerichteten dort
drin versenkt wurde - Männer, die sie nicht kannte, die in der
Stadt lebten, schändeten, starben. Sollte Aralee sterben? Und
wenn sie es tat, wer herrschte dann über das Land? Amra
allein? Das Kind war hübsch anzusehen, wenn man es auf den
Thron setzte, aber es konnte einem Krieg nichts entgegensetzen.
Doubladir würde Koristan überrollen wie ein Gewitter, und
wie viele Körper waren dann des Abgrunds? Aralee hatte,
vielleicht, eine Chance, dem Krieg etwas entgegenzusetzen.
Vielleicht sogar Frieden. Sie durfte nicht sterben. Nicht
jetzt.
»Wenn sie nicht versucht hätte, mich zu
erpressen…« Aralee sprach keine ganzen Sätze
mehr. Was sie sagte, war abgehackt und aus dem Zusammenhang - Lyda
verstand es, verstand auch die Teile, die Aralee nicht mehr sagte:
Zu geübt war sie, auf die Stille zu hören. Aber sie
machte sich Sorgen, wie lange die Frau noch durchhalten würde,
und wie sie jetzt am Schnellsten in ihr Bett zu bekommen war, ohne
daß es Probleme gab. Man mußte sie irgendwie zum Gehen
bringen, nur wie? Lyda wollte sie wirklich nicht über Nacht
behalten. Am anderen Tag konnten die Dinge wieder schlechter
stehen, konnte Aralee mit neuem Mut auf den Gedanken kommen,
daß Lyda und Natara doch besser tot waren als lebendig.
Es war Natara, die zu ihrer Rettung herbeieilte. »Es wird
alles gut, Aralee«, sagte sie so ruhig und
verständnisvoll, daß man sich kaum an das zitternde
Bündel Mensch erinnern konnte, das sie noch vor wenigen
Stunden gewesen war. »Aber wir sollten jetzt alle schlafen
gehen. Kann ich Euch begleiten? Ich habe Nachts immer Angst, wenn
ich allein durch die dunklen Gänge muß.«
Lyda blickte Natara irritiert an. Sprach da doch noch der Wein aus
dem Mädchen, oder war sie wirklich bereit, sich Aralee
schutzlos auszuliefern? Bei dem Gedanken war ihr gar nicht wohl,
und auch wenn Natara ihre Worte so gewählt hatte, daß
die Königswitwe sich nicht schwach fühlen mußte,
blieb doch immer noch die Gefahr, die von dieser Frau ausging.
»Am besten, Ihr gebt mir Euer Messer.« Sie konnte das
sagen, ohne Aralee zu beschämen - sie war kein kleines
Mädchen, sondern in Aralees Alter. Nach allem, was sie
über die andere Frau wußte, war die nur ein Jahr
älter als sie selbst, auch wenn sie gerade viel, viel
älter aussah - unter einem anderen Stern hätten sie
Freundinnen werden können, aber Totenmägde hatten keine
Freunde, und Königswitwen wohl auch nicht. »Ich
möchte nicht, daß Ihr Euch damit verletzt, oder jemand
anderen.«
Zögerlich und mit zitternden Fingern gab Aralee ihr die
Waffe. Es war ein langes, schmales Messer, mehr gedacht, einen
Brief aufzuschlitzen denn eine Kehle, aber trotzdem fühlte es
sich seltsam an in Lydas Hand. Sie führte keine Waffe,
niemals, es war ihr verboten, Totenmägde nahmen kein Leben.
Und für ihre stillen Botschaften brauchte es keine
Brieföffner. Aber es war besser, die Schneide war bei Lyda als
bei Aralee. Vor allem, wenn sie mit Natara unterwegs war.
»Ich werde… jetzt gehen«, sagte Aralee
unbestimmt. »Danke - danke für alles.« Es klang
mehr wie eine Abschiedsfloskel denn wie ehrlich gemeint. Wie viel
von ihrer Unterredung bis morgen in Aralees Verstand haften bleiben
mochte, wußten nur die Engel - und die Kräuter, die
Aralee über den Tag geschluckt hatte.
»Ich komme mit«, wiederholte Natara fest. Vielleicht
macht es ihr Mut, die Frau, vor der sie eben noch solche Furcht
gehabt hatte, so schwach zu sehen - aber sie würde gut daran
tun, sie am anderen Tag nicht mehr daran zu erinnern.
»Gut«, sagte Lyda. »Ich wünsche Euch eine
gute, geruhsame Nacht. Ihr könnt sie brauchen.« Wie lang
war der Morgen noch hin? Viel konnte von der Nacht nicht mehr
übrig sein. »Und Natara«, fügte sie ganz
leise hinzu, »es wäre schön, wenn du noch einmal
bei mir vorbeischauen könntest.«
Natara nickte. Sie hatte verstanden. Auch wenn Aralee an der Nacht
zusammengebrochen sein mochte - es war besser, wenn das
Mädchen auch den Rest dieser Nacht nicht allein verbrachte.
Denn übermüdet und entwaffnet mochte Aralee harmlos sein
und für niemanden mehr eine Gefahr als für sich selbst -
aber am anderen Tag konnte das wieder ganz anders aussehen. Und
Lyda wußte, daß das letzte Wort hier noch nicht
gesprochen war. Solange sie beide im Schloß waren, Lyda und
Natara, würden sie Aralee jeden Tag daran erinnern, daß
sie wußten, was niemand wissen durfte. Und daß ihre
Anwesenheit Aralee in Gefahr brachte, egal wie oft sie ihr
Schweigen auch versichern mochten.
Sie waren nicht mehr sicher in Koristir, keiner von
ihnen.
Der andere Morgen begann mit
Heulen und Zähneklappern. Das lag vor allem an Natara, der
erst jetzt wirklich schmerzhaft bewußt wurde, was ihr in der
vergangenen Nacht widerfahren war, aber auch Lyda war es alles
andere als wohl.
»Es tut mir so Leid«, wimmerte Natara, als ob sie sich
nicht schon während der Nacht hundertmal entschuldigt
hätte bei Lyda und sich selbst, aber ihr kleiner Körper
rächte sich jetzt für die durchgestandenen Zumutungen und
brachte sie in eine jämmerliche Stimmung. »Ich
weiß wirklich nicht, was da in mich gefahren
ist…« Aber in Wirklichkeit wußte sie es nur zu
gut, und es war zu erwarten, daß sie für die Zukunft die
Finger vom Alkohol lassen würde und hoffentlich auch von dem,
was Aralees Vertraute ihr danach noch eingeflößt
hatte.
Lyda war vor allem froh, daß Natara noch heile
zurückgekommen war - kaum daß das Mädchen mit
Aralee aus der Tür war, begann Lyda schon, sich Vorwürfe
zu machen, daß sie die beiden hatte alleine gehen lassen, und
bis Natara dann endlich wieder an ihre Tür pochte, war Lyda
wacher und aufgeregter als in jedem anderen Moment der Nacht: Aber
es war alles gut gegangen. Zum Glück. Für den neuen Tag
aber sah Lyda schwarze Wolken am Himmel, auch ohne daß es
regnete.
»Natara«, sagte sie. »Hör mir zu!
Fühlst du dich, als wärst du wieder ganz und gar klar im
Kopf? Was ich dir zu sagen habe, ist wichtig!« So wichtig,
daß das Leben des Mädchens daran hing…
Natara nickte still und verzichtete auch darauf, sich noch einmal
zu entschuldigen - viel mehr davon konnte Lyda auch nicht mehr
aushalten. Und auch wenn ihre Augen rot und verheult waren, sahen
sie doch wieder wach und verständig aus.
»Wir hatten in der letzten Nacht großes
Glück«, sagte Lyda, »daß Aralee in einem
sehr schlechten Zustand war. Der Tag hatte sie zu sehr mitgenommen,
als daß sie noch wußte, was sie tat - aber heute
weiß sie es wieder, und wenn sie sich erinnert, was geschehen
ist, oder wenn ihre Zofe ihr noch einmal sagt, was du ihr
erzählt hast, wird es sehr gefährlich für uns. Zu
gefährlich, als daß wir hier bleiben können. Aralee
hat alle Möglichkeiten, zu versuchen, dich und mich aus der
Welt zu räumen, sie hat schon einmal gemordet, wenn nicht
öfter.«
Lyda vergaß nicht die Anschuldigungen, Aralee könnte
auch den Tod des Königs verursacht haben, und auch wenn ihr
dafür alle Beweise fehlten, es paßte zu dem, was sie
ansonsten wußte. Aralees Waffe war nicht das Messer, auch
wenn sie es in der Nacht mehr schlecht als recht damit versucht
hatte, sondern der Hinterhalt. Das Schloß war groß und
bot ihr jede Möglichkeit. Sie konnte in der Nacht ein Feuer
legen, sie konnte Gift mischen, alles war ihr zuzutrauen, solange
sie kein Blut an ihre Hände bekam - kleine Mordvorbereitungen
nebenbei belasteten das Gewissen nicht mehr als die Toten, die ihr
Herz schon mit sich trug.
»Wie - nicht hier bleiben?« fragte Natara, und die
Stimme erstickte fast unter neuen Tränen. »Hier im
Zimmer? Oder hier im Palast?«
»Hier in Koristir«, sagte Lyda. Sie hatte gut reden,
ihre Zeit in der Hauptstadt, sogar im ganzen Land, waren
gezählt. Wenn sie Glück hatte, kam schon an diesem Tag
die Ablösung, und wenn nicht, würde sie zumindest noch
einmal bei Naella in der Stadt Zuflucht suchen können, wie sie
es schon einmal getan hatte. Doch was war mit Natara?
»Kann ich nicht wenigstens zurück zu meinen
Eltern?« fragte das Mädchen. »Ich habe sie schon
so lang nicht mehr gesehen - und sie können mich
beschützen, das weiß ich!«
»Wohnen deine Eltern in Koristir?« Natara nickte.
»Dann bist du auch da in Gefahr. Wenn Aralee kommt und ihnen
sagt, du mußt zurück ins Schloß, weil du von
deiner Arbeit davongelaufen bist - was sollen sie dann
tun?«
»Aber wenn ich ihnen sage, was Aralee getan
hat…«
Lyda hob hastig beide Hände. »Sie dürfen es nicht
erfahren. Niemand darf das. Unsere einzige Möglichkeit, sicher
aus der Geschichte herauszukommen, ist wenn wir schweigen, beide.
Ich bin darin erfahren, es gibt nichts, was eine Totenmagd besser
kann als das, aber du… du mußt auch schweigen. Dein
Leben hängt daran.« Und ihres, und Aralee, und das des
Friedens.
»Und wie sollen sie mich dann beschützen, wenn sie
nicht wissen, vor was?«
»Sie können dich nicht beschützen«, sagte
Lyda leise. Gab es etwas schrecklicheres, das man einem Kind sagen
konnte, als daß seine Eltern machtlos waren? »Du kannst
nicht zu ihnen. Wenn du es tust, bringst du sie nur auch noch in
Gefahr.« Langsam merkte Lyda, daß sie keine Wahl hatte,
daß es nur eine Möglichkeit gab, sie zu retten.
»Wo soll ich dann hin?« fragte Natara noch
kläglicher als alle Entschuldigungen, die sie seit dem
bitteren Morgentee von sich gegeben hatte.
Lyda seufzte bei sich. »Du kommst mit mir«, sagte sie.
»Hast du gestern Nacht gehört, daß ich die Stadt
verlasse?«
Mit großen Augen nickte das Mädchen, und ihre
Hände krampften sich in den Rand ihrer Schürze.
«Ich werde dich mitnehmen«, sagte Lyda. »Gestern
habe ich dir gesagt, bei mir bist du in Sicherheit, und das meine
ich auch. Wir werden uns in dein Zimmer schleichen, um einige
Sachen zu packen, aber viel brauchst du nicht. Da, wo ich dich
hinbringe, ist kein Ort für saubere Schürzen und feine
Kleider.« Es war am einfachsten, wenn sie eines ihrer eigenen
Gewänder kürzte, damit Natara nicht auffiel, wenn sie
erst einmal gemeinsam unterwegs waren. Eine Totenmagd mit einer
Novizin fiel nicht auf, eine Totenmagd mit einer königlichen
Chronistin dagegen schon.
»Aber wohin müßt Ihr - müssen wir
denn?« fragte Natara.
Lyda nickte und lächelte leicht. Sie würde Natara nicht
erzählen, daß sie nun ein Geheimnis erfuhr, von dem nur
die wenigsten gewöhnlichen Menschen wußten. »Hast
du dich schon einmal gefragt, wo die Totenmägde
herkommen?«
»Ja, schon…«, sagte Natara und verzog das
Gesicht zwischen angestrengt und schmerzverzerrt, weil das Denken
vielleicht doch noch ein wenig zuviel war für ihren Kopf.
»Ich habe gedacht, das ist ein Beruf - und Ihr habt Euch
irgendwann entschieden, Totenmagd zu werden…« Ihr
Blick sagte, daß sie sich nicht vorstellen konnte, wie irgend
jemand freiwillig so einen Beruf ergreifen konnte, aber, wohl aus
Höflichkeit, sagte sie das nicht.
»Wir werden dazu geboren«, antwortete Lyda. Das war
nur ein Teil der Wahrheit, aber der einzige, den Natara wissen
durfte, zumindest jetzt schon. »Es gibt einen Ort, weit von
hier, den wir den Konvent nennen oder das Stille Haus, daher kommen
wir.«
»Wie weit ist weit?« Nataras Stimme begann schon
wieder zu zittern. Sie hatte die Stadt noch nie verlassen, und das
Schloß war das weiteste, was sie jemals von ihrer Familie
getrennt hatte - das alles zu verlassen, vielleicht für immer,
mußte schwer für sie sein. Lyda dachte daran, wie sie
selbst den Konvent verlassen hatte in der Erwartung, niemals wieder
zurückzukehren - fast wäre es ihr lieber, wenn das immer
noch die Wahrheit wäre. Sie konnte Natara erzählen,
daß sie heimkehrte, aber nicht, daß es in Schande
geschah.
»Es liegt in den Bergen von Elysir«, sagte Lyda.
»Du weißt, wo Elysir ist, nicht wahr? Aralee hat dich
vieles gelehrt, nicht wahr? Dann kennst du auch die Karten
-«
»Am Rand der Welt«, flüsterte Natara. »Ganz
oben, da wo Himmel und Erde zusammenstoßen.« Lyda
nickte. Es war das weiteste Weit Weg, daß man sich nur
irgendwie vorstellen konnte. »Aber dazwischen ist
Doubladir!« Jetzt klang Nataras Stimme schrill. »Oder
Loringaril, aber das ist egal, die haben beide den gleichen
König, die wollen Krieg mit uns!« Sie begann wieder am
ganzen Körper zu zittern. Lyda machte sich lieber daran, noch
einen Tee aufzubrühen, als daß die Kleine auch noch
anfing zu fiebern.
»Nicht mit uns«, sagte Lyda. »Miteinander,
vielleicht. Oder mit Koristan.« Sie fragte nicht, was es mit
dem König auf sich hatte. Das waren immer Dinge, die eine
Totenmagd nicht viel angingen, wollte sie ihre Neutralität
bewahren. »Und wir sind nicht Koristan.«
»Aber ich bin die Chronistin!« Natara regte sich immer
weiter auf. »Und der Kriegsbotschafter hat mich gesehen! Was,
wenn wir dem nochmal über den Weg laufen, und er erkennt mich
wieder…« Er würde sie nicht wiedererkennen,
selbst wenn ihn das interessieren sollte. Die Natara, die man ihm
vorgesetzt hatte, war ein aufgetakeltes kleines Ding mit
geschminktem Gesicht und einem Kleid, das sich kaum für ihr
Alter geziemte - nicht ein scheues Geschöpf im Gewand einer
Totenmagd. Sie mußte nur etwas tun mit Nataras Haar, das die
falsche Farbe hatte, und ihren Augen - aber sie konnten immer noch
darauf bauen, daß die Menschen zu wenig über
Totenmägde wußten, um das zu merken. Sie konnten immer
noch glauben, daß die Haare erst grau wurden, wenn sie ein
gewisses Alter erreichten, und vielleicht galt das auch für
die Augen…
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Lyda. »Doubladir
ist so groß, wie glaubst du, ist dann die Wahrscheinlichkeit,
daß du ausgerechnet diesem einen Mann über den Weg
läufst?« Es gab ganz andere Sachen zu bedenken, auch ehe
sie aufbrachen. Wichtig war erst einmal nur, Natara von dieser
Panik zu befreien, und vom Kummer. Alles andere konnte später
kommen.
Die Hektik, mit der sie dann
den Rest des Vormittags verbrachten, hatte einen Vorteil: Man fand
dabei wenig Zeit, sich zu grämen. Lyda hatte schon am Vortag
damit begonnen, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken - auch wenn
sie nicht wußte, wie sehr ihr Aufbruch einer Flucht gleichen
würde, ahnte sie ja doch, daß sie niemals hierher
zurückkehren würde. Diese Kammer war der Raum der
Totenmagd, doch wer das war, konnte ihr so egal sein wie dem Rest
des Schlosses. Ihre Nachfolgerin konnte sich über die
reparierte Tür wundern, aber die würde ihre Geschichte
für sich behalten, und der Aufruhr konnte zu jeder Zeit
gewesen sein, auch lang, lang zurückliegen - die neue
Totenmagd würde dort weitermachen, wo Lyda aufgehört
hatte, aber man konnte nur hoffen, daß sie ihre Aufgabe
besser erledigen würde. Es war nicht schwer - sie hatte nur
dann zu schweigen, wenn sie zu schweigen hatte.
Jetzt konnte Lyda den größeren Teil ihrer Energie
dafür nutzen, zu planen, wie sie Natara heile aus dem
Schloß bringen sollte, denn die war schon mit dem Gedanken
völlig überfordert.
»Gibt es denn noch etwas in deinem Zimmer, daß dir so
viel bedeutet, daß du es unbedingt mitnehmen
möchtest?« Lyda wußte, daß diese Frage zu
ungeduldig klang - nur weil sie selbst ihr Herz nicht an Dinge
hing, wußte sie doch, daß andere es taten, und ob das
nun das Angedenken war an einen Toten oder an ihr eigenes Leben,
das fortan nicht mehr das gleiche sein sollte - was machte es
für einen Unterschied?
Natara nickte, als ob es ihr peinlich war. »Ich habe da noch
Dinge… von meiner Familie.« Sie schluckte. Eigentlich
hatte sich Natara schon für immer von ihrer Familie
verabschiedet, als sie ins Schloß berufen wurde. Aber es war
trotzdem etwas anderes: Nicht nur würde Natara jetzt nichts
mehr von ihrer Familie hören, sondern auch Nataras Familie
nichts mehr von ihr. Für wie lange? Dieses Frage wagte das
Mädchen nicht zu stellen, und Lyda war froh darum: Sie
hätte keine Antwort sagen können. Soweit es sie betraf,
war es für immer, aber für immer war zu lang für so
ein Kind, und was sie im Stillen Haus anfangen sollte, darüber
wollte sich Lyda lieber noch keine Gedanken machen müssen. So
lange Aralee lebte, oder zumindest, so lange Aralee regierte,
mußten sie ihr aus dem Weg gehen - aber das konnte eine
Ewigkeit dauern, oder bis die Kindskönigin groß war,
oder nur ein paar Wochen, wenn doch der Krieg über Koristan
hereinbrach - aber selbst dann waren Lyda und Natara dann zu weit
zum Umkehren, Lyda mußte heim, so oder so, und sie konnte das
Mädchen schlecht auf halbem Weg sich selbst überlassen:
Es war gut, daß Natara nicht fragte, wenn Lyda nicht wollte,
daß sie weinte.
Da lenkten sie sich doch besser mit dem Versuch ab, an Nataras
Schätze zu kommen, ohne dabei am Ende Aralee in die Arme zu
laufen. Verstohlen schlichen sie den Gang entlang; Lyda hatte die
Tasche halb unter ihrem Kleid verborgen: Wenn jemand sie sah,
sollte es nicht allzu sehr danach aussehen, daß sie Dinge
zusammenpackten. Und sie hatten Glück, unbeschadet zu Nataras
Zimmer zu gelangen, auch wenn es bedeutete, das Schloß von
einem Ende zum anderen zu durchqueren. Aber als sie dann vor der
Tür standen, war das Glück schon wieder vorbei. Natara
blieb stehen wie angewurzelt.
»Jemand ist hier gewesen«, flüsterte sie
tonlos.
Lyda wußte nicht, woran sie das sah, aber sie glaubte ihr -
für sie sah die Tür aus wie eine normale Tür, aber
Natara war ein sensibles Mädchen, und vielleicht konnte sie
Dinge spüren, die das Auge nicht erkennen konnte. Wenn ja,
würde es zumindest das Leben unter Totenmägde leichter
für sie machen. »Jetzt gerade?« fragte sie.
»Oder heute Nacht?«
Natara zitterte. »Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Ich habe nur gerade…« Sie schüttelte sich
und brach ab.
»Wir haben keine Wahl«, sagte Lyda. »Du
hängst an deinen Sachen und sollst nicht ohne sie gehen
müssen.« Und außerdem, aber das verschwieg sie
lieber, um dem Kind nicht noch mehr Angst zu machen, war es jetzt
sowieso zu spät. Wenn gerade noch jemand im Zimmer war, konnte
der sie inzwischen gehört haben: Auch wenn sie leise sprachen,
war doch jemand, der in ein fremdes Zimmer einbrach, immer wachsam
für drei. Lyda griff nach der Türklinke, doch ehe sie sie
berührte, ließ sie ihre Hand einen Fingerbreit über
dem Messing ruhen. Sie spürte keine Wärme. Die Klinke war
kalt. Lyda nicke Natara zu, die mit unsicheren Fingern ihren
Schlüssel hervor zog und öffnete. Ihre erste Sorge war
unbegründet. Das Zimmer war leer. Aber offenbar noch nicht
lange.
»Jemand war an meinen Sachen!« Natara klang nicht mehr
so erschrocken wie beim ersten Mal, sie hatte Zeit gehabt, sich auf
den Anblick vorzubereiten, und es war nicht so, als ob jemand in
Hetze oder Wut alles durchwühlt hätte - für Lyda sah
das Zimmer aus wie jedes andere, in dem ein junges Mädchen
wohnte, aber Natara, deren Augen geschult waren für die
Aufgaben einer Chronistin und die auf jedes Detail achten
mußte, erkannte sofort die Unterschiede.
»Da, an meiner Truhe - seht Ihr, der Griff steht hoch. Ich
achte aber immer darauf, daß sie nach unten geklappt sind,
sie haben so eine Spitze, wenn man da einmal mit dem Bein dran
hängen bleibt, gibt das einen scheußlichen
Kratzer…« Tatsächlich schien das Mädchen
jetzt zu neuem Leben und neuem Mut zu erwachen. Vielleicht war es
Zorn. Alles andere hatte sie mit resignierter Trauer oder Angst
aufgenommen - aber hier, wo in ihren eigenen Lebensraum
eingegriffen worden war, erwachte das, was in jedem Menschen
schlief.
Lyda hielt die Tür im Auge, während Natara den Schaden
begutachtete und dabei ein paar Dinge einpackte - ein Spiegel, ein
Taschentuch, ein unförmiges Bündel, das eine in Stoff
gewickelte Puppe sein konnte, Lyda fragte nicht danach. Es war
Nataras Leben, das sie in einer Tasche verstauen mußte, nicht
ihres. Wichtiger war, daß sie nicht noch einmal gestört
wurden - wer auch immer hier gewesen war, konnte wiederkommen, und
Lyda wußte nicht, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich
das war.
»Glaubt Ihr, ich kann wohl meine alten Schuhe
mitnehmen?« fragte Natara. »Sie passen mir eigentlich
nicht mehr, aber das waren mal meine Lieblingsschuhe, und ich war
so unglaublich stolz darauf…« So redete eine alte
Frau, wenn sie die Schätze ihrer Kindheit begrub, aber aus dem
Mund eines Mädchen, das kaum aus diesen Schuhen heraus
gewachsen war, klangen die Worte seltsam.
»Nimm mit, was du möchtest«, sagte Lyda. Es war
egal. Brauchen würden sie kaum etwas davon jemals wieder.
»Und die Blätter, auf denen ich schreiben gelernt habe
- ich wollte mir unbedingt die Buchstaben unters Kopfkissen legen,
damit ich sie nie vergesse, aber die Tinte war noch nicht ganz
trocken und hat schwarze Flecken ins Bettzeug gemacht -«
Es war wirklich wie eine Mutter, die Lyda von ihrem toten Kind
erzählte, Erinnerung an Erinnerung, keine von ihnen wichtig
und jede von ihnen kostbar. Lyda wußte, daß sie
eigentlich keine Zeit dafür hatte, aber sie war zu sehr daran
gewöhnt, die Leute reden zu lassen - was hinaus wollte,
mußte hinaus, und besser jetzt, als wenn sie einmal auf der
Flucht waren. Ein Pferd… sie würden sich noch um ein
Pferd für Natara kümmern müssen. Der Weg war zu
weit, um ihn in einem Leben zu Fuß zu gehen, und zumindest
bis an den Rand der Berge mußten sie reiten. Lyda würde
Naella fragen, ob die ihr ein Pferd leihen konnte, ihr einziges,
die Schwestern konnten ihr Ersatz schicken oder Geld dafür
-
Und in dem Moment hörten sie beide, wie auf der anderen Seite
der Tür der Schlüssel ins Schloß geschoben
wurde.
Natara, die eben noch fast munter geklungen hatte, zuckte zusammen
und warf hektische Blicke nach den Seiten, als suche sie ein
Versteck, das groß genug war für sie beide. Lyda blieb
ruhig stehen, hielt die Tür im Augen und sammelte sich, um im
richtigen Moment Rettung in der Stille suchen zu können.
Der Schlüssel klackte und schabte im Schloß - wer immer
es war, jetzt hatte er gemerkt, daß die Tür nicht mehr
verschlossen war - und wurde dann wieder herausgezogen. Und dann,
ganz langsam und vorsichtig, wurde die Klinke heruntergedrückt
und die Tür geöffnet.
Lyda hatte mit Aralee gerechnet, sie nahm immer die
größte Mögliche Gefahr an, man kam nicht umhin,
wenn man den Abgrund zu hüten hatte, aber es war eine junge
Frau mit rötlichem Haar, deren Gesicht Lyda einen Moment lang
vertraut vorkam, ohne daß sie es recht einordnen konnte. Aber
als sie das Erkennen in den blitzenden blauen Augen der Frau las,
wußte auch Lyda wieder, wen sie vor sich hatte, noch bevor
Natara »Roveen!« flüsterte.
»Aber - Ihr seid die Totenmagd!« entfuhr es der Frau.
Dinge, mit denen sie nicht gerechnet hatte…
Lyda nickte. »Und Ihr seid die junge Frau aus
Loringaril.« Mit einem leichten Lächeln setzte sie
hinterher: »Die, die das Mädchen nicht umgebracht
hat.« Einmal war es ihr erfolgreich gelungen, diese Frau
daran zu erinnern, daß sie keine Mörderin war. Und sie
würde alles daran setzen, das noch einmal zu tun.
Tatsächlich hatte Lyda sich manchmal gefragt, was aus dieser
Frau und ihrer Gefährtin geworden sein mochte, aber sie war im
Grunde ihres Herzens davon ausgegangen, daß Aralee die beiden
irgendwann hatte laufen lassen - sie waren politisch als Geiseln
kaum etwas wert, Loringaril gab auf Frauen nicht viel, und konnten
sonst mit ihren sehr speziellen Stickkünsten auch nicht das,
was Aralee für ihren Alltag brauchen konnte - aber offenbar
waren sie, oder zumindest eine von ihnen, aus ihrer Isolation
befreit worden. Lyda schüttelte bei sich den Kopf. Wenn Natara
von einer Roveen sprach, war sie nie auf die Idee gekommen,
daß das nicht irgend eine Hofdame war, sondern niemand
anderes als diese Frau.
Roveen schien sich von ihrem ersten Schrecken erholt zu haben,
denn sie nickte Natara zu, statt auf Lydas Worte einzugehen.
»Da bist du ja, Natara - wir haben dich gesucht!«
Natara behielt die Nerven. »Und warum klopft Ihr dann nicht,
sondern wollt gleich meine Tür aufsperren?«
Die Rothaarige strahlte, als ob sie kein Wässerchen
trüben konnte. Lyda wußte, daß sie zumindest
früher als Konkubine gearbeitet hatte - in dem Beruf lernte
man sicher besser, sich zu verstellen, als wenn man Totenmagd
wurde. »Dummchen!« sagte sie. »Ich war doch schon
dreimal da und habe geklopft. Dann bin ich gegangen und hab Aralee
um den Schlüssel gebeten - ich hab gedacht, du hast dich
eingeschlossen und genierst dich wegen gestern.«
Aber sie fielen nicht darauf herein. Nicht, wenn Natara sicher
war, daß schon vorher jemand in ihrem Zimmer gewesen war.
Aber Natara hätte es besser angestanden, nicht ganz so
spitzfindig zu reagieren, sondern Vorsicht walten zu lassen.
»Und was ist mit Aralee? Geniert die sich auch?« Lyda
versuchte, dem Mädchen noch ein Kopfschütteln zuzuwerfen
- sie wollten keine langen Diskussionen und erst recht keine
Erklärungen, es ging nur darum, daß die Frau sie heile
ziehen ließ und vielleicht nicht gleich Aralee Bericht
erstattete.
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte Roveen
mit ernster Miene. »Ich kann dir ein paar Leute sagen, die
sich genieren sollten, was das angeht - der feine Herr
Kriegsbotschafter hat zumindest das Angebot dankend angenommen, und
ich denke, da sollte er sich schon entscheiden was er will, Krieg
oder Rumschlafen - wenn du mich fragst, beides geht
nicht.«
Offenbar versuchte sie Schönwetter zu machen und lieber so zu
tun, als wäre Natara allein.
»Roveen«, sagte Lyda leise und war froh, daß die
Frau jetzt richtig ins Zimmer kam und die Tür hinter sich
zumachte. »Wir wissen, was in der vergangenen Nacht passiert
ist. Aralee wird es Euch erzählt haben. Natara erinnert sich
an alles, und ich sowieso. Wir haben keine Zeit für einen
Plausch. Könnt Ihr ein Geheimnis für Euch behalten und
Aralee eine Botschaft überbringen?«
Roveen wich vor ihr einen Schritt zurück wie vor jemandem,
den man fürchtet. »Ich verstehe Euch
nicht…«, sagte sie ausweichend. »Was jetzt, ein
Geheimnis oder eine Botschaft?« Wie auch immer Lyda bei ihrer
ersten Begegnung den Kopf aus der Schlinge gezogen hatte, offenbar
war es nicht ohne Eindruck geblieben - und dazu kam, was Aralee
noch nach der Nacht erzählt haben mochte.
Lyda seufzte. »Beides. Sagt Aralee, daß wir nichts
verraten werden. Ich habe es ihr gestern bereits versprochen, aber
sie war nicht in der rechten Verfassung, mir zuzuhören oder
zumindest zu glauben. Es ist sicher bei uns. Schweigen ist mein
Leben. Wenn ich es verspreche, halte ich es auch.«
»Und ich auch!« setzte Natara hinterher, auch wenn
niemand von ihr erwartete, daß sie viel vom Schweigen
verstand aber dafür das, was sie sah und hörte.
»Von mir erfährt niemand etwas.«
Roveens Gesicht war so seltsam, daß sich Lyda fragte, ob sie
vielleicht einen Fehler gemacht hatten und die Frau überhaupt
nicht wußte, nicht wissen durfte, um was es überhaupt
ging. Sie nahmen wie selbstverständlich an, daß Roveen
Aralees Vertraute war, aber selbst wenn, wie viel vertraute Aralee
überhaupt jemandem an? Konnte diese Frau, die den Tod der Zofe
so weit von sich gewiesen haben, damit leben, daß eine
Freundin, um Aralee als solche zu bezeichnen, ein Kind getötet
hatte? Oder hatte Aralee am Ende noch ganz andere Geheimnisse, von
denen sie überhaupt nichts ahnen konnten? »Das kann ich
ihr wohl sagen…«, sagte Roveen langsam. »Und sie
wird dann wissen, was Ihr meint?« Nein, sie spielte nur. Kein
Zweifel, das Zögern war nicht echt.
»Wir wollen ihr nichts böses«, sagte Lyda.
»Alles was wir wollen ist sicheren Abzug.«
Jetzt zog sich ein Lächeln in Roveens Gesicht, und es war
nicht allzu freundlich. »Ja, das hat sie mir gesagt -
daß Ihr ins Ausland wollt. Damit Ihr unsere Geheimnisse an
den Feind verraten könnt.« Jetzt waren die Geheimnisse
schon ihre? Und wer sollte der Feind sein, war die Frau nicht
ebenso das, was Aralee vor Lyda als Ausländerin
bezeichnete?
»Niemand wird irgend etwas erfahren«, sagte Lyda noch
einmal. »Die Wahrheit ist, wir trauen Aralee nicht und
fürchten uns vor ihr. Ich will dieses Mädchen außer
Landes bringen, in Sicherheit, damit es ihr nicht ergeht wie der
letzten.« Da, jetzt hatte sie es wirklich verraten - aber
noch nicht ganz, darauf kam es an.
»Und das soll ich Euch glauben?« fragte Roveen
argwöhnisch, aber nicht ganz feindselig.
Lyda wußte, jetzt hatten sie so gut wie gewonnen, als sie
sagte: »Letztes Jahr habt Ihr versucht, mich umzubringen, und
ich habe es niemandem verraten. Ihr könnt mir vertrauen, und
Ihr wißt es - und ich weiß, daß ich Euch
vertrauen kann.«
Roveen trat an das Fenster und blickte eine Weile hinaus.
»Und mit Geheimnis bewahren meint Ihr, ich soll Aralee nicht
von Eurem Aufbruch berichten - obwohl sie schon weiß,
daß Ihr fort wollt? Wo ist da das Geheimnis?«
»Wir brechen sofort auf«, sagte Lyda. »Natara
hat ein paar Dinge zusammengepackt, das ist das letzte, was uns
noch fehlt. Und Aralee weiß auch noch nicht, daß ich
das Mädchen mitnehme. Ich habe wenig Angst um mein eigenes
Leben.«
»Wie schön die Sonne draußen scheint«,
sagte Roveen abrupt. »Hat es nicht eben noch geregnet? Ich
kann mich verrenken, wie ich will, aber ich vermag keine einzige
Wolke am Himmel zu sehen.« Sie machte eine Pause, als
würde sie auf etwas warten. »Vielleicht kommen gleich
noch ein paar Vögel hinaus, dieses Fenster geht zwar nicht in
den Garten, sondern in den Hof, aber ich bin mir sicher, ein paar
Vögel werde ich hier noch zu sehen bekommen…«
Lyda hörte ihr geduldig zu und Natara verwirrt, und beide
konnten sich keinen rechten Reim darauf machen, bis Roveen sie
ärgerlich anfuhr: »Hört mal, wie lang soll ich euch
hier noch den Rücken zukehren und so tun, als ob ich euch
nicht sehen und hören könnte? Da draußen ist
nichts, wirklich nichts, ich langweile mich jetzt schon zu Tode -
also macht schon, verschwindet endlich.«
»Danke«, sagte Lyda, aber selbst dieses Wort war schon
zuviel.
»Spart Euch den Dank«, zischte Roveen. »Wie
solltet Ihr auch, als ich hier im Zimmer gucken gekommen bin, wart
ihr ja schon längst über alle Berge, aber ich kenne mich
mit Nataras Sachen nicht aus, da merke ich natürlich nicht, ob
was fehlt und wenn ja, was…« Weiter kam sie nicht, als
sie von Natara heftig umarmt wurde. Lyda verzichtete darauf. Sie
nickte nur noch einmal, als sie das Zimmer verließ.
Vielleicht konnte die Frau es ja im Spiegelbild der Fensterscheibe
sehen.
»Sie ist besser als Ihr denkt«, hörte sie Roveen
noch sagen. Dann waren sie draußen. Aus dem Zimmer, aus dem
Gang, aus dem Schloß. In dieser Nacht sollte der Abgrund
unbewacht sein, aber Lyda hatte sich schon zuviel zuschulden kommen
lassen, um sich deswegen noch Sorgen zu machen. Der erste Teil
ihrer Flucht war geglückt, und in ein paar Tagen sollte es
auch der zweite Teil sein, wenn Aralee nicht auf die Idee kam,
daß sie bei Naella waren und nicht längst auf der
Landstraße…
Und dann, wenn sie erst einmal da waren - dann würde Lyda
sich wünschen, niemals dort angekommen zu sein. Ja, sie konnte
ein Geheimnis bewahren, vor Aralee, vor Natara, nur, so sehr sie es
auch versuchte, nicht vor sich selbst. Die letzten Worte der
Botschaft hatten sich für immer in ihr Gedächtnis
eingebrannt. ‘Die Welt ist in Gefahr. Etwas ist aus dem
Abgrund gestiegen.’
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
© 2000 - 2015 by Maja Ilisch. All Rights Reserved.
Kommentare und Diskussionen zu diesem Kapitel
Kommentar verfassen