Aralee ist eine Figur, die um den Namen herum entstand. Das heißt: Ich hatte einen Namen, und darum herum baute ich eine Person. Später wurde ich gefragt, ob ich den Namen von der Roboterfrau Arale aus dem Manga Dr. Slump entlehnt habe. Aber das stimmt nicht. Aralee wurde geboren, lange bevor ich Manga zu lesen begann. Der Name stammt, wie so vieles, aus dem Atlas. Ich kann bis heute nichts über den Aralsee lesen, ohne lächeln zu müssen. Und auch die Winword-Rechtschreibkorrektur hat mich durchschaut. Aralee und Arale haben nichts, wirklich nichts, miteinander zu tun.
Von Anfang an baute ich Aralee als die zwielichtigste Gestalt der Bücher auf: Da ist Halan, der sie nicht mag – was durchaus auf Gegenseitigkeit beruht – und da ist Anders, der immerhin ihr Sohn ist. Aber wo steht Aralee? Das mag sie allein wissen. Sie ist ein interessanter, ambivalenter Charakter. Und bevor ich sie im Prolog des fünften Buches selbst zu Wort kommen lasse, sollen ihre Geheimnisse ihre bleiben.
Mütter sind in der phantastischen Literatur eine seltene Spezies. Für gewöhnlich sind sie tot, und wenn nicht, kommen sie am Rand vor, wünschen ihrem Sohn viel Glück bei seiner Queste, und kommen danach nie wieder vor. Oder sie haben eine Hauptrolle, aber dafür sind dann im Gegenzug die Söhne tot und müssen gerächt werden. Wobei ich immer irgendwie an Grendel denken muss…
Ich tue mich mit dem Auftreten von Elternfiguren in meinen Geschichten immer sehr schwer. Nicht, weil ich Eltern für uninteressant halte, aber weil ich nicht möchte, dass jemand versucht, Rückschlüsse auf meine eigenen Eltern zu ziehen. Wer einen grausamen Vater auftreten lässt, ist sicher als Kind geschlagen worden – ganz zu schweigen dem, was man mit flattrigen, lasterhaften Müttern assoziiert! Die Mütter und Väter in meinen Geschichten sind tatsächlich selten positive Figuren. Mowsal in der „Spinnwebstadt“ hat eine Mutter, die nicht viel mit dem Sohn anfangen kann, und einen Vater, der ihn weitgehend ignoriert. Aber nicht, weil ich mir meine eigenen Eltern von der Seele schreiben will – sondern weil die Helden meiner Geschichten labile, gebrochene Charaktere sind, und die Wurzeln dafür meist in ihrer Kindheit liegen. Es sind die Eltern meiner Figuren, nicht meine Eltern.
Ich liebe meine Eltern, beide, meinen Vater und meine Mutter. Und gerade darum haben sie in meinen Geschichten nichts zu suchen. Ich bin froh, dass ich sie habe. Meine Helden dagegen haben da meist weniger Glück. Halans Mutter war natürlich eine goldgute Übermutter, aber natürlich muss sie das sein: Sie ist tot, da kann sie sich das erlauben, und Halan kann sich erlauben, sich so an sie zu erinnern. Dafür, Ausgleich muss sein, hasst Halan seinen Vater. Bei Anders ist es umgekehrt: Sein Vater starb, bevor der Kleine irgendeine Bindung zu ihm aufbauen konnte. Und Aralee ist seine Mutter im biologischen Sinne – aber die Funktionen einer Mutter hat sie doch nie wirklich erfüllt.
So ist das bei den Engelsgeborenen aus Korisanders Haus: Ihre Frauen sind bessere Gebärmaschinen, werden nach Aussehen und Genmaterial ausgewählt, ohne gefragt zu werden. Aralee kommt als Jugendliche nach Koristan, um einen alten Mann zu heiraten und ihm einen Sohn zu schenken, was sie auch tut, und er tut ihr den Gefallen, danach zumindest nicht mehr allzu lang zu leben. Aber mit Alexanders Erziehung hat sie nichts zu tun – die liegt ganz in der Hand der Engelsgeborenen; erst in der seines Vaters, dann in der des großen Bruders. Zwar redet Anders seine Mutter, aus Tradition, mit Mutter an, doch er denkt von ihr als Aralee, und er gibt sich nicht mehr als nötig mit ihr ab. Dennoch lässt er nichts auf sie kommen, wenn Halan sie beschuldigt – weniger aus Liebe, als mehr aus verletzter Ehre heraus. Liebt er sie? Wahrscheinlich nicht. Und liebt sie ihn? Vielleicht. Aber sie hat wenig Gelegenheit dazu. Und, wenn man es genau betrachtet, auch wenig Grund.
Aber nachdem Lyda sich aus der Handlung zurückgezogen hat, kann man Aralee sicher als weibliche Hauptfigur bezeichnen – sie hat zwar niemals die Perspektive, aber in allen Szenen, die im Schloss spielen, ist sie zunehmend präsent, auf eine Weise, auf die ich sehr stolz bin. Und tatsächlich ist Aralee der vielschichtigste Charakter dieser Geschichte. Ich gönne ihr ein paar Fans. Auch, wenn sie alles andere geworden ist als eine Bilderbuchmutter. Oder ein Abbild meiner eigenen.